-I^.r
- tf ' . ' V*]
GALILEI
UND SEIN KAMPF
FÜR DIE COPERNICANISCHE LEHRE
ZWEITER BAND
Nach einetn Ölgemälde von G.Wr.blwill.
4M^
GALILEI
UND SEIN KAMPF
FÜR DIE C0PERNICANI8CHE LEHRE
VON
jei
EiAlIL WOHLWILL
ZWEITER BAND
NACH DER VERURTEILUNG DER COPERNFCANISCHEX LEHRE
DURCH DAS DEKRET VON 1616
AUS DEM NACHLASS HERAUSQK GEBEN
MIT EINEM PORTRÄT UND EINER TAFEL
tnQ*-
Kj
Aw
H
k
LEIPZIG /VERLAG VON LEOPOLD VOSS
Copyright by Leopold Vobe, Leipzig, 1926.
Ob
Druck TOD Metzger & Willig in I^ipzig.
GennanT
Vorwort.
Erst heute, 16 Jahre nach dorn Erscheinen des ersten, kann der
zweite Band von Emil Wohlwills Galilei dem Druck übergeben
werden, und dies keineswegs in der Form, die ihm der Verfasser selbst
gegeben haben würde. Als im Jahre 1909 der erste Band des Werkes,
zu dem die Vorarbeiten mehr als 40 Jahre zuvor begonnen waren,
fertig vorlag, hat er, der damals 74 jälirige, selbst bezweifeln müssen,
daß er das Erscheinen des zweiten Bandes erleben werde. GcNviß
stand ihm das Tatsachenmaterial schon damals in einer Vollständig-
keit zur Verfügung, die für manchen anderen zu einer Darstellung
der ganzen Wissenschaftsgeschichte jenes Zeitalters genügt haben
würde; davon zeugen zahllose Hefte, gefüllt mit Untersuchungen
und Notizen über alles, was auch nur mittelbar in Beziehung zur
Persönlichkeit, zu dem Lebensschicksal und zu dem Werk und der
Wissenschaft Galileis steht. Gewiß stand der Gang der Darstellung,
wie sie der zweite Band bringen sollte, bis in die Einzelheiten vor dem
geistigen Auge des Verfassers. Aber seine Arbeitsweise mußte einen
schnellen Fortgang der Vorbereitungen iür den zweiten Band ver-
hindern: niemals konnte er sich auch bei scheinbar nebensächlichen
und kleinen Dingen mit Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten
zufrieden geben, wo eine entfernte Hoffnung bestand, durch weiteres
Forschen zur Sicherheit zu kommen oder sich ihr wenigstens mehr
zu nähern; immer wieder legte er selbst die kritische Sonde an die
eigenen Behauptungen und war immer aufs neue bemüht, etwa,
mögliche Einwendungen aus dem Wege zu räumen, ehe etwas als
feststehend hingestellt wurde.
VI
Diese Arbeitsweise entsprang nur zum Teil einer fast auf die
Spitze getriebenen historischen Gewissenhaftigkeit, zum anderen war
sie der Ausfluß einer Versenkung in den Stoff, die ihre Quelle hatte
in allerporsönlichstor Anteilnahme an dem zu bearbeitenden Gegen-
st<ind. Denn nicht von ungefähr ist Emil Wohlwill dazu gekommen,
eine Galiloi-Biographio zu seinem Lebenswerk zu machen. Der
Kampf der Avissenschafthchen Überzeugung gegen Intoleranz und
Geistesknechtung, der unwiderstehliche Drang, die gewonnenen Er-
kenntnisse durch Lehre in Wort und Schrift zum Gemeingut der
Älitlebcnden zu machen, das waren Dinge, die dem Verfasser alier-
eigenste Herzenssache waren. „Ich habe mich für ihn begeistert",
heißt es in einer für die Vorrede bestimmten, aber nicht zur Ver-
wendung gekommenen Notiz, die wii' in einem jener Hefte vorfanden,
„weil ich, seit ich ihn aus den Quellen kennen lernte, ihn immer an-
sehen mußte als einen von denen, die ihr volles Herz dem Pöbel
offenbarten, und kam dazu, über ihn schieiben zu wollen, weil ich
fand, daß Leute, die nie ein volles Herz gehabt, nie mit den Herrschen-
den in Widerspruch sich zu setzen vermocht hatten, wagten, von
ihm gering zu denken."
Und noch ein Anderes war es, was für ihn die Wahl gerade dieses
Themas anziehend machte. Er konnte sich bei seinen Studien davon
überzeugen, daß bis zum heutigen Tage Galileis Persönlichkeit und
Leben kaum je ohne Parteinahme, ja kaum ohne Affekt dargestellt
worden ist. Insbesondere hat die Tatsache, daß bei genauerer
Kenntnis Galilei sich nicht durchweg und überall als der Held der
Wahrheit und Geistesfreiheit erweist, als der er vielleicht dem weniger
I^nterrichteten in ideahsiertem Bilde vorschwebt, die meisten Autoren
zu abfälligen Werturteilen veranlaßt. Nichts konnte Emil Wohlwill
ferner liegen als eine derartige Betrachtungsweise. Wohl hat er im
mündlichen Gespräch gelegentlich einmal etwas wehmütig und nicht
ganz ohne Neid das durch keinen Schatten befleckte Bild Keplers
dem nicht entfernt so abgeklärten Charaktei seines Helden gegenüber-
gestellt. Aber gerade hier schien ihm eine besonders reizvolle Aufgabe
— vu —
des Historikers zu liegen, auch solchen Schwächen des großen
Mannes nachzugehen und sie aus seiner Lebensgeschichte und seiner
Umgebung zu verstehen und so vor Augen zu führen, wie der Kon-
flikt zwischen Gläubigkeit und wissenschaftlicher Überzeugung in
Galileis Handlungsweise sich auswirkte.
„Dieser Konflikt", heißt es in einer weiteren, ebenfalls nicht in
die spätere Ausarbeitung aufgenommenen Notiz, „entsteht, indem der
kirchlich Gesinnte oder als solcher GeltenwoUende, der also in Dingen
der Keligion sich schlechthin unterwirft, der Wahrheit nachgehen
will auf Gebieten, die er selbst der Kirche entzogen, die Kirche sich
angehörig glaubt. Wer nur der Kirche unterworfen ist. erlebt diesen
Konfhkt ebensowenig, wie derjenige, der ihn auch in anderer Be-
ziehung feindUch oder fremd gegenübersteht. Der Erstere kennt
keinen selbständigen Wahrheitstrieb, \vie er den echten Naturforscher
mit oder wider Willen fortreißt, der Letztere schickt sein Buch nach
Amsterdam und druckt ohne Zensur. Der Erstere hält, wie Grisar,
für möglich, daß man auf bedenklichem Gebiet sich Befriedigung ver-
sagt, oder, wie Marini, daß man Tycho Brahe akzeptiert, wenn man
Copernicus glaubt; dem Letzteren kann die Differenz über die wissen-
schaftliche Lehre zum Ausgangspunkt des völligen Abfalls werden."
Ähnlich war bei der Darstellung der wissenschaftlichen Forscher-
tätigkeit Galileis das, was den Verfasser reizte, die Analyse der Ent-
wicklung seines Denkens mit allen ihren, zum Teil bis ans Ende
festgehaltenen, Irrtümern, viel mehr als der Nachweis, was von dem
heutigen Besitz der Wissenschaft sich auf Galilei zurückverfolgen
läßt. Durchdrungen von der hohen Bedeutung, die der Lehre vom
Werden der Erkenntnisse für das menschUche Erkennen selbst zu-
kommt, hoffte er, in seinem Galilei Wesen und Wert einer solchen
Geschichtsbetrachtung im lebendigen Beispiel in der Form vor Augen
führen zu können, wie sie ilim als notwendig vorschwebte und wie er
sie in einschlägigen Darstellungen so oft vermißte.
Ln November 1911 schrieb er an den Unterzeichner dieses Vor-
worts: „Abgesehen davon, daß ich über die Zukunft der Meinigen
— VIII —
beruhigt sein möchte, habe ich nichts, was ich dringender wünschte,
als soviel Arbeit nicht umsonst getan zu haben; und das würde doch
der Fall sein, wenn ich nicht mehr dazu käme, dies Lebensbild aus
dem 17. Jahrhundert, so wie es mir vor Augen steht, lebendig hin-
zustellen. So anmaßend es klingt, glaube ich doch auf Grund meiner
langjährigen Erfahrungen , daß immerhin noch einmal
50 Jahre vergehen können, bis weder einmal einer sich so weit in
diese merkwürdigen Dinge vertieft."
Wenige Wochen darauf, am 2. Februar 1912, starb Emil Wohl-
will. Die Arbeit war — wenigstens zum Teil — umsonst getan,
der zweite Band war nicht fertig geworden. Was wir Hinterbliebenen
in seinem handschriftlichen Nachlaß fanden, war folgendes:
Zunächst: Ausarbeitungen zu den sechs ersten Kapiteln des
zweiten Bandes, aUe mit dem Vermerk „nicht fertig" versehen, aUe
in einer Zeit vor der endgültigen Abfassung des ersten Bandes nieder-
geschrieben. Eine genauere Angabe über die Entstehungszeit vermag
ich nicht zu machen; einen Anhalt gibt nur die Tatsache, daß an
den meisten Stellen — mit Ausnahme von Kap. V — die Edizione
Nazionale noch nicht benutzt worden ist.
Ferner: vollständig ausgearbeitet und mit der Notiz versehen:
„kann so gedruckt werden" das Schlußkapitel: „Nach Galileis Tod".
Es ist in der Zeit zwischen 1909 und 1912 entstanden.
Alsdann: der Abschnitt „Sagenhafte Ergänzungen der Jugend-
geschichte", der als Anhang für den ersten Band gedacht, aber von
ihm aus Raumgründen zurückgestellt worden w'ar^, ebenfalls in einer
Form vorliegend, die gestattet, ihn als abgeschlossen zu betrachten.
Außerdem fanden wir noch Aufzeichnungen zu den Prozeß-
akten, die Emil Wohlwill nach seinem Besuch in Rom und dem
persönlichen Studium des Vatikanmanuskripts im Jahre 1891 nieder-
geschrieben und mit dem Vermerk versehen hat: „Muß auf irgend-
eine Weise veröffentlicht werden."
1 Siehe Bd. I S. 642.
— IX —
Endlich: cino ausführliche Abhandlung aus dem Jahre 1911
über den Betrug des Simon Marius aus Gunzenhausen, deren Inhalt
der Verfasser schon kurz im Hamburger Naturwissenschaftlichen
Verein vorgetragen hatte.
Es war von vornherein klar, daß aus dem Vorhandenen sich ein
abgerundeter, in seiner Gestaltung dem ersten an die Seite zu stellen-
der zweiter Band nicht würde herstellen lassen. Andererseits schien
es uns doch geboten — und in dieser Ansicht wurden wir durch die
von uns befragten Sachverständigen bestärkt — , die voi liegenden
Fragmente der Öffentlichkeit zugängUch zu machen, auch insoweit
sie vom Verfasser als ,, nicht fertig" bezeichnet worden sind. Wir
mußten dabei allerdings in den Kauf nehmen, daß auf diese Weise
vielleicht manche Ansichten des Verfassers veröffentlich weiden, die
er spätei aufgegeben oder modifiziert hat. Daß ein anderer — noch
so sachverständiger — Forscher hier aushelfend hätte eingreifen
können, war bei einem derartigen, auf persönlichen, durch ein ganzes
Leben fortgesetzten Untersuchungen aufgebauten Werk ausgeschlossen.
Dagegen wäre es wohl unser dringender Wunsch gewesen, etwa durch
später bekannt gewordene Tatsachen als überholt oder umichtig
erkannte Angaben ausgemerzt zu sehen. Als Quelle einer solchen
Korrektur hätte im wesentlichen wohl nur die Edizione Nazionale
mit ihrem reichen Inhalt in Betracht kommen können für diejenigen
Abschnitte, in denen sie vom Verfasser noch nicht benutzt worden ist.
So verhältnismäßig unkompliziert diese Aufgabe erscheinen mag,
so erwies es sich zu unserem Leidwesen doch, daß sie zu groß ist, um
von einem selbst wissenschaftHch tätigen Forscher neben seiner
eigenen Arbeit erledigt zu werden. Herr Prof. Klug- Nürnberg,
an den wir uns zuerst wandten, mußte sich nach einem Jahr davon
überzeugen, daß er nicht die Zeit finden werde, diese Aufgabe zu
erledigen. Herr Prof. Würschmidt-Erlangen, der sich ihr sodann
auf unsere Bitte widmete, hat sich der äußerst dankenswerten Arbeit
unterzogen, für das Inhaltsverzeichnis den Inhalt der einzelnen
Kapitel kurz zu exzerpieren und überdies eine Reihe von Punkten
— X —
zu notieren, bei denen Zweifel zu beheben, Übersetzungen nachzusehen
oder zu berichtigen, Literaturbelege zu ergänzen, kleinere Lücken
auszufüllen waren und dergl. mehr. Der weiteren Ausführung wurde
er zu unserem großen Bedauern durch den Kriegsdienst entzogen.
Herr Prof. Bopp- Heidelberg, der darauf die Bearbeitung der Manu-
skripte übernahm, hat die wichtige Arbeit auf sich genommen, die
Litcraturzitate, da wo das nicht der Fall war, auf die Edizione
Nazionale zu beziehen und zahheichc neue hinzuzufügen. Im übrigen
gab er sein Gutachten dahin ab, daß die vorliegenden Manuskripte,
so wie sie seien, publikationsreif seien.
Es blieb jedoch noch übrig, die von Prof. Würschmidt an-
gemerkten Fragen zu klären. Soweit wir hierzu nicht selbst imstande
waren, hat dies auf Veranlassung von Herrn Prof. A. Warburg-
Hamburg in dessen kulturwissenschaftlicher Bibliothek Herr cand.
phil. Hans Meier übernommen und in kurzer Zeit zu Ende geführt.
Er hat überdies durch Hinzufügung zahlreicher neuer Literaturzitate
den wissenschaftlichen Wert des Buches erhöht. Allen den genannten
Herren sei für ihre Mühewaltung an dieser Stelle unser allerherz-
lichster Dank ausgesprochen, ebenso denjenigen, die uns bei den
Vorbereitungen mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben, unter
denen ich besonders Herrn Prof. Münzel-Hamburg f, Geh. Rat
S. Günther-München ■}•, Geh, Rat Sudhoff-Leipzig, Prof. Poske-
Berhn-Dahlem, Prof. Scholz-Berlin und Prof. A. Warburg-Ham-
burg nennen möchte.
Nachdem so 13 Jahre in der geschilderten Weise mit der redak-
tionellen Bearbeitung der Handschriften vergangen waren, an der
übrigens auch die Frau des Verfassers, die das Erscheinen dieses
Bandes nicht mehr erleben sollte, in sehr wesentlicher Weise beteiligt
gewesen ist, mußten wir uns davon überzeugen, daß unsere oben
gekennzeichneten weitergehenden Wünsche in sachlicher Beziehung
wohl kaum zu verwirklichen sein würden, zum mindesten nicht ohne
nochmaliges Hinausschieben der Veröffentlichung auf unabsehbare
Zeit. Da andererseits, wie erwähnt, nach Herrn Prof. Bopps Gut-
— XI —
achten auch in der vorliegenden Form eine Publikation gerechtfertigt
erschien, so haben wir uns entschlossen, nunmehr mit dem Erreichten
vorlieb zu nehmen und denjenigen, die, wie wir aus zahlreichen An-
fragen wissen, auf das Erscheinen des zweiten Bandes warteten, ihn
nicht länger vorzuenthalten.
Eine gewisse Ausfüllung der gebliebenen Lücken, allerdings mehr,
soweit sie sich auf die Lebensgeschichte als auf die wissenschaftliche
Entwicklung Galileis beziehen, konnten wir noch dadurch erreichen,
daß \m unter den nachgelassenen Handschriften Emil Wohlwills
die Ausarbeitungen zu 4 Vorträgen über Galilei fanden, die er im
Jahre 1870 in Hamburg gehalten hat. Diesen Vorträgen sind die
Abschnitte Kapitel 4a: „Allgemeine Charakteristik der Dialoge",
sowie Kapitel 7 und 8, die den Prozeß Galileis und seine Gefangen-
schaft in Aix-etri behandeln, entnommen. Obwohl nach Stil und Art
der Ausführung solche Vorträge natürlich ganz anders gehalten sind
als die für die ausführliche Biographie bestimmten Niederschriften,
so haben wir doch diesen Schönheitsfehler der Uneinheitlichkeit mit
in den Kauf nehmen zu sollen geglaubt, um den dramatischen Höhe-
punkt in Galileis Leben nicht in dieser Lebensbeschreibung ganz
fehlen oder nur durch die historisch-kritische Studie über die
Prozeßakten vertreten sein zu lassen, die ohne einen solchen
zusammenhängenden Bericht für den mit dem ganzen Fragen-
komplex nicht vertrauten Leser nicht in vollem Umfang verständ-
lich sein kann.
Diese Studien über die Prozeßakten waren übrigens, ebenso wie
die Abhandlung über Simon Marius, in dieser Form natürhch nicht
für den zweiten Band des Galilei bestinmit; sie sind dementsprechend
ebenfalls nicht im Stil der Biographie, sondern in dem einer geschicht-
lichen Untersuchung abgefaßt. Wir haben es aber trotzdem vor-
gezogen, diese in engstem Zusammenhang mit Galileis Lebens-
geschichte stehenden Schriftstücke dem zweiten Teil der Biographie
als Anhang anzufügen, anstatt durch Abdruck an anderer Stelle das
Vorhandene zu zersplittern.
— XII —
Möge, trotz der so gekennzeichneten Unebenheiten und Lücken,
das, was w hier aus dem Nachlaß Emil Wohlwills zur Galilei-
biographie zu bieten vermögen, der Geschichte der Naturwissen-
schaften im Sinne des Verfassers neue Freunde gewinnen, möge es
für den denkwürdigen Kampf um das copernicanische System und
den heute noch durchaus aktuellen Konflikt zwischen Wissenschaft
und Obrigkeit neues Interesse wecken, möge es dem selbst auf diesem
Gebiet wissenschaftlich arbeitenden Forscher Anregung und Material
gewähren, und sollte es selbst zum Widerspruch sein, dann wird die
Arbeit Emil Wohlwills für diesen zweiten Band doch nicht ver-
gebens gewesen sein.
Die Drucklegung dieses Bandes wurde uns ermöglicht durch
einen sehr namhaften von der Notgemeinschaft der Deutschen
Wissenschaft geleisteten Zuschuß zu den Kosten, nachdem eine
schon im Jahre 1921 auf Fürsprache von Herrn Geh. Rat Sudhoff
gewährte Beihilfe von 1000 Mark durch die Gesellschaft Deutscher
Naturforscher und Ärzte leider infolge der-immer aufs neue auf-
tauchenden Schwierigkeiten in der Bearbeitung der Handschriften
ein Opfer der Inflation geworden war. Beiden Korporationen sei
hiermit unser aUerherzMchster Dank ausgesprochen.
Hamburg, im Oktober 1925.
Prof. Dr. med. Friedr. Wohlwill.
Inlialtstibersicht.
Seite
Vorwort v
Erstes Kapitel. Unter der Herrschaft des Dekrets von
1616 1
Wirkung äußerer Verhältnisse auf den Gang der wissenschaft-
lichen Erkenntnis. — Im speziellen: Wirkung des Dekrets von 1616.
— In katholischen Ländern Unterdrückung der neuen Lehre, in
protestantischen gleichgültiges Geschehenlassen infolge der poli-
tischen Lage. — Maestlins Kritik als Beispiel der Aufnahme
des Dekrets in einem protestantischen Lande. — Wirkung in
Österreich. — Suspension von Keplers 1618 erschienenem ersten
Teil der copernicanischen Astronomie. — Besorgnisse Keplers und
beruhigende Antwort. — Vorsichtsmaßregeln Keplers bei Ver-
öffentlichxmg der „Harmonie der Welt" (1619). — Wirkung des
Dekrets in rein kathoUschen Ländern, besonders in Italien. —
Verhaftung des L. Scorrigio. — Willenloser Gehorsam gegen das
Dekret bei Aristotelikern und Copernicanern. — AusschHeßung des
Luca Valerie aus der Akademie der Lyncei unter Galileis schweigen-
der Zustimmung.
Zweites Kapitel. Der Streit mit Horatio Grassi 9
Die 3 Kometen des Herbstes 1618. — Ansicht des Aristoteles
über die Natur der Kometen, im Gegensatz zur Lehre der Pytha-
goräer. — Beobachtungen Tycho Brahes am Kometen von 1577;
seine Lehre: die Kometen keine feurigen Lufterscheinungen, sondern
Himmelserscheinungen. — Keplers Beobachtung der geradlinigen
Bahn am Kometen von 1607. — Beobachtungen des Kometen von
1618. — Kometentheorien der Paduaner Gelehrten, der Peri-
— XIV —
patetiker Bovio und Liceti, des Mathematikers Gloriosi, des Nach-
folgers von Galilei. — Vermittelnde Stellungnahme der Gelehrten
des Collegium romanum; Umgehung der Schwierigkeiten durch
Grassi. — Aufforderungen an Galilei, sich zu äußern. — Vortrag
seines Schülers Guiducci, der seine Ansichten wiedergibt: Dis-
kussion über Bahn und Natur der Kometen; Einfluß der Sonne
und Erklärung der Schweif bildung. Widerlegung Grassis; im Gegen-
satz zu dessen Sophistereien hier kritische Untersuchung. —
Keplers Auffassung. — Unzuverlässigkeit aller Ergebnisse bis 1618.-
— Erst durch Ne\\i:ons und Halleys Entdeckung vollständige Ab-
lehnung der Galüei sehen Kometenlehren. — Urteil des Baliani;
berechtigte Einwände. — Aufnahme von Galileis Kometenlehre,
wie sie in Guiduccis bald gedruckter Rede dargestellt ist. — Gegen-
schrift des Sarsi. — Oberflächlichkeit seiner Angriffe; rein pole-
mischer Zweck der Schrift. — Angriffe auf Galileis bzw. Guiduccis
Anschauungen vom Femrohr; ein Kampf der Scheinwissenschaft der
Schule gegen GaUlei und seine Wissenschaft. Provokatorische
Absicht der Schrift. — Feindschaft des ganzen Collegium romanum.
— Hinweis auf das Dekret der Indexkongregation und die Ab-
lehnung des Copemicus, die daraus folgen müsse. — Eindruck der
Schrift auf Galilei und seine römischen und florentinischen Ge-
sinnungsgenossen. Ungenügende Erwiderung Guiduccis unter
Hinweis auf eine von Galilei selbst zu erwartende. — Wenig ein-
drucksvolles Eintreten Stellutis für Guiducci. — Verzögerung der
Antwort Galileis durch äußere Umstände. Erscheinen derselben
im Jahre 1622 in der Form eines Briefes an V. Cesarini unter dem
Titel „II Saggiatore". Absicht, das Manuskript in Rom drucken zu
lassen. — Bemühungen Cesarinis, unterstützt durch N. Riccardi,
den Zensor der Indexkongregation, den Druck zu beschleunigen. —
Erteilung der Druckgenehmigung. — Persönliche Beziehungen
zwischen Galilei und Riccardi. — Inhalt des „Saggiatore". Ein-
leitung: Veranlassung, gegen seine ursprüngliche Absicht wieder zu
schreiben, sei der Angriff Sarsis; Auftreten als Guiduccis Ver-
teidiger. — Er erkennt, daß Sarsi nur der fingierte, nicht der wahre
Autor ist, wendet sich aber doch nur an ersteren. — Wesentlich
polemische Absicht der Schrift, Widerlegung der Disputierkünste
Grassis, und zwar nach rein logischer Methode, indem er Satz für
Satz des Gegners zergliedert. — Scharfe Zurückweisungen des
Gegners. — Trotz aller Eintönigkeit der Polemik lebendige Dar-
stellung des eigentlichen Themas. — Bedeutung des Buches für
die Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft und für die Zeit-
genossen. — Aufgabe der Naturerforschung; Beispiel: das Märchen
von der Entstehung des Schalles. — Anwendung dieser Betrach-
tungen auf die Frage nach der Kometennatur. — Verwendung
anderer physikalischer, besonders optischer Tatsachen zur Ver-
deutlichung seiner Kometentheorie. — Erörterungen über das Wesen
— XV —
Seite
der Wärme. — Sätze der neuen Mechanik im Gegensatz zu den
verworrenen Meinungen der alten Philosophie. — Anbequemung
an die kirchliche Auffassung des Dekrets von 1616. — Doppel-
stellung Galileis: die copernicanische Lehre ist (kirchlich) falsch,
erklärt aber gut, wie so viele andere Erscheinungen, so die an den
Kometen beobachteten. — Ablehnung der Lehre Tychos.
Drittes Kapitel. Vor den Dialogen, Gegen Ingoli 58
Kardinal Barberini — Papst Urban VIII. — Seine früheren
Beziehungen zu den LjTicei. — Wahl dreier Lyncei in die nächste
Umgebung des Papstes. — Widmung des Saggiatore. — Frühere
Beziehungen Galileis zu dem Kardinal Barberini. — Unverändertes
Wohlwollen des Kardinals. — Hoffnungen Galileis bei der Papst-
wahl Barberinis. — Interesse des Papstes für Galilei und den
Saggiatore. — Eindruck des Saggiatore auf Kepler. — Keplers
Verteidigung der Lehre Tycho Brahes, auch gegen Galilei. — Urteil
Keplers über den Gehorsam Sarsis (und damit Galileis, den er aber
nicht nennt) gegen das Dekret. — Geringschätziges UrteU Galileis
über Keplers Bedenken, sowie über eine Gegenschrift Chiaramontis
gegen den Saggiatore. — Beabsichtigte ausführliche Er-R-iderung
an Kepler. — Eindruck des Saggiatore im Collegium romanum;
anfängliche freimdliche Aufnahme; dann aber feindselige Stellung-
nahme des Ordens. — Maske freundlichen Entgegenkommens
Grassis gegen Guiducci; Unterredungen beider über das coperni-
canische System. — Äußerungen Caccinis.
Galilei in Rom im April 1624. — Tod Cesarinis, — Erster
Empfang beim Papste; aber keine Gelegenheit zur Erörterung
der wissenschaftlichen Frage. — Trotz sechsmaliger Unterredung
mit dem Papste keine Aussicht auf Aufhebung des Dekrets. —
Rückkehr nach Florenz mit besonderen Beweisen des persönlichen
Wohlwollens des Papstes. — Päpstliches Breve an den Großherzog
Ferdinand mit warmer Anerkennung Galileis.
Absicht Galileis, seine längst angefangenen Werke zu voll-
enden, zunächst seine Betrachtungen über Ebbe und Flut; zuvor
jedoch Widerlegung des Ingoli, der ihn unter dem Schutze des
Dekrets schon 1616 angegriffen hatte, dessen Schrift unterdessen
auch in Rom als bedeutend erachtet wurde. Klare und geduldige
Widerlegung der sinnlosen Einwände Ingolis und der aristotelischen
Lehren über die Bewegung. Seine Ansichten über das Leichte und
Schwere. Kritik der Ansichten Tycho Brahes über die jährliche
Bewegung der Erde. — Ausführungen über die UnermeßUchkeit
der Welt. — Einleitende Erörterung zu der Schrift, in der Galilei
sich in allem der Autorität der Kirche unterwirft. — Widerspruch
derselben zu dem sonstigen rein copernicanischen Inhalt der
Schrift.
— XVJ —
Seite
Viertes Kapitel. Die Dialoge 85
A. Allgemeine Charakteristik der Dialoge 85
Ursprünglicher Name der Dialoge: „Dialoge über Ebbe und
Flut." Vorteil der Dialogform. Die 3 Dialogf ükrer : Salviati, der
überzeugte aber abgeklärte Copernicaner, Sagredo, der heiter-
geniale, der lernbegierige und schon für den Copernicus gewonnene
Hörer und Simplicius, der in den Lehren der Schulweisheit be-
fangene, aber doch gut begabte und edelgesinnte Aristoteliker. —
Im wesentlichen historischer Wert der Dialoge.
B. Tägliche Bewegung 87
Vergleich der Dialoge mit Keplers „Abriß der copernicanischen
Astronomie." — Im Gegensatz zu Kepler bei GaUlei noch die kreis-
förmigen Planetenbahnen. — Für den Zweck Galileis jedoch nicht
wesentlich. — Hauptverdienst der Dialoge: Veranschaulichung
der neuen Lehre. — Vernichtung der aristotelischen Physik. —
Galileis Beweise für die Erdbewegung gelten auch heute noch. —
Widerlegung des Aristoteles durch logische Zergliederung. — Not-
wendigkeit dieser Methode.
Inhalt des ersten ,, Tages": Unvergleichbarkeit irdischer und
himmlischer Dinge bei Aristoteles, d. h. Gegensatz der geradlinigen
und kreisförmigen Bewegung. — Nachweis von Veränderungen auch
an Himmelskörpern, nämlich am Mond. — Relativität der Be-
wegung. — Einwände gegen die Erdbewegung: Nachweis der Un-
richtigkeit der Einwände aus dem freien Fall oder schiefen Wurf,
die auch Kepler noch nicht widerlegen konnte: Begründung einer
neuen Bewegungslehre durch Galüei: Unzerstörbarkeit der über-
tragenen Bewegung. — Beweis durch Beispiele. — Wurfbahn. —
Widerlegung des Einwands aus dem Flug der Vögel. — Vergleich
mit der Bewegung auf einem fahrenden Schiff. — Östliches Voraus-
eilen nördlich bewegter und freifallender Körper, theoretisch er-
schlossen. — Einwand der großen Zentrifugalkraft und ihrer
Wirkungen. — Widerlegung dieses Einwand es. Fehler Galileis
hierbei. — Widerlegung der logischen Deduktionen zugunsten der
ruhenden Erde.
C. Jährliche Bewegung 106
Gegenstand des dritten Dialogs: Die Beweise für die jähr-
liche Bewegung der Erde um die Sonne und die Widerlegung der
Gegengründe, nicht die Ausführung des (z. Tl. noch inkonsequenten)
copernicanischen Systemes. — Nachweis der Bewegimg der fünf
Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn um die Sonne
und nicht um die Erde. — Stellung des Mondes und der Jupiter-
monde. — Wahrscheinlichkeitsbeweis für die Erdbewegung. — Die
— XVII —
Seite
Erdbewegung erklärt alle scheinbaren Ungleichheiten der Planeten-
bewegungen. — Klare Darstellung dieses Kerns der copernicanischen
Lehre. — Neigung der Sonnenachse gegen die Ekliptik, erschlossen
aus der krummlinigen Bahn der Sonnenflecken; gleichzeitig ein
Beweis für die Erdbewegung. — Widerlegung eines Einwandes von
Scheiner, nach dem man eine vierfache Bewegung der Sonne an-
nehmen müßte. — Ungeheuer große Entfernung der Fixsterne im
Vergleich zum Durchmesser der Erdbahn als Konsequenz des
copernicanischen Systemes. — Übertriebene Zahlen Tycho Brahes
für die Größe der Fixsterne. — Relativität der Größenbegriffe nach
Galilei. — Die alte Arxsicht zum Zweck der Planeten und Fixsterne,
Bescheidenheit der neuen Weltanschauung. — Mögüchkeit des
Nachweises einer Parallaxe der Fixsterne; Schwierigkeit der Messung.
Darstellung der copernicanischen Lehre von den Jahreszeiten.
— Erhaltung der Richtung der Erdachse. — Hinweis auf Gilberts
Ansicht von der magnetischen Natur der Erde.
D. Ebbe und Flut 119
Ebbe und Flut als Beweis für die Erdbewegung. — Deutung
Gilberts und Keplers und de Dominis. — • Galileis Ablehnung der
Annahme einer Wirkung des Mondes. — Nach Galilei ist die Ur-
sache der monatlichen Flutperiode eine Ungleichförmigkeit der
Erdbewegung, hervorgerufen durch eine Veränderung der Jähr-
lichen Bewegung durch die tägliche. — Vergleich der Dauer der
Planetenumläufe mit der Schwingungsdauer von Pendeln. — An-
wendung auf den Mond. — Zweite Ursache einer Geschwindigkeits-
änderung ist die parallel zu sich selbst bleibende Erdachse. —
Widersprüche der Galilei sehen Theorie mit der Beobachtung. —
Würdigung der Leistung Galileis; Armut an Erfahrungstatsachen.
— Ein Verhalten wie das Galileis häufig in der Entwicklungs-
geschichte der Naturwissenschaft. — Erörterung Galileis über die
Passatwinde. — Erklärung der Passatwinde durch die Peripatetiker.
— Die Tatsache der Kalmen im Widerspruch mit beiden Lehren,
von Galilei ignoriert. — Kürzere Dauer einer westwärts gerichteten
Seefahrt. — Zusammenfassung der Beweise für die Erdbewegung.
Fünftes Kapitel. Zum vierten Mal in Rom 133
Zweck der Reise. Ankunft in Rom und angenehmer Aufent-
halt im Palast des Gesandten Niccolini. — Verdächtigungen Gaüleis
wegen angeblicher Beziehungen zu Astrologen. — Michelangelo und
Kardinal Barberini als Galileis Freunde. — Notwendigkeit der
günstigen Stimmung des Papstes für die Handhabung der Zensur.
— Befriedigung Galüeis über die erste Audienz. — Wünsche des
Papstes bezüglich der Vorrede und der Schlußbemerkungen, vor
allem die Führung des Nachweises, daß man in Rom alle Gründe für
Wohl will, Galilei. II. ij
— XVIII —
Seite
die copemicanische Lehre kenne, und Hinweis auf die hypothetische
Natur der copemicanischen Lehre. — Aufgabe des Zensors. — Die
Revision von Riccardi seinem Ordensgenossen Visconti übertragen.
— Bedingtes Imprimatur (bis auf Titel, Vorrede und Schluß). —
Rückkehr GaUleis nach Florenz. — Tod des Fürsten Cesi; Größe dieses
Verlustes für Galilei. — Castellis Vorschlag, das Werk in Florenz
drucken zu lassen. — Neue Bedenken in Rom. Gründe für diese.
Gereizte Stimmung der Jesuiten, besonders Scheiners. — Im-
primatur der Florentiner Zensoren. — Widerstreben Galileis gegen
eine nochmahge Vorlage vor Riccardi. Stefani Revisor in Florenz.
Milde Korrektur. — Riccardis Zögern, Vorrede und Schlußwort zu
revidieren und zurückzusenden. — Intervention des Großherzogs
durch den Gesandten Niccolini. — Trotzdem noch Schwierigkeiten
Riccardis. — Vorschlag Galileis einer Zusammenkunft in Florenz
zur Prüfung des Werkes. — Neue Bemühungen Niccolinis; Nachgeben
Riccardis. — Erteilung des Imprimatur. — Riccardi übersendet
nach abermaligem Zögern endlich auch die Einleitung. — Was das
„Imprimatur" für Galilei bedeutete.
Sechstes Kapitel. Aufnahme der Dialoge 158
Begeisterte Aufnahme der Dialoge bei den Gelehrten. —
Urteü des Castelii und des Campanella über das Werk im ganzen.
— Aufnahme der Galilei sehen Flutlehre durch Gassendi. — Be-
denken Balianis wegen der beobachteten täglichen Flutverzögerung.
— Die alten Einwände der Gegner. — SteUimgnahme des Collegium
romanum. Überreichung von Exemplaren des Werkes an die
römischen Theologen. — Verdächtigungen.
Siebentes Kapitel. Der Prozeß vom Jahre 1633 165
Verbot des Verkaufs weiterer Exemplare der Dialoge. Im
Wesentlichen ergebnisloser Einspruch der Florentiner Regierung. —
Eröffnung des Inquisitionsverfahrens. Galilei wendet sich um Hilfe
an den Kardinal Barberini, erreicht aber nur einen kurzen Auf-
schub. Er wird ermahnt, sich zu unterwerfen. ■ — Die Intriguen, die
dem Verfahren gegen Gahlei zugrunde liegen: Die gelo'änkten Ur-
bilder des Simplicius machen den Papst glauben, daß er selbst in der
Person des Simplicius verhöhnt sei. Der Papst macht daraufhin
aus der Verfolgung Galileis seine eigene Sache. Der Form nach
jedoch erschien Galilei durch das ,,Imprimatxir" des Zensors
gedeckt. Nach der gewöhnlichen Darstellung ergibt sich seine
Schuld aus der Verletzung eines speziellen ihm im Februar 1616
erteilten Befehls, die Meinung des Copemicus fernerhin in keiner
Weise in Worten und Schriften zu lehren. Diese Darstellung ent-
— XIX —
Seite
springt unvollständigen, willkürlich zusammengestellten Aus-
zügen aus den Akten. — Die Geschichte der Akten des Inquisi-
tionsprozesses von 1633. Die Veröffentlichungen Marinis und
del'Epinois'. Das Protokoll vom 25. Februar 1616. Das Akten-
stück vom 26. Februar 1616. Die Widersprüche zwischen beiden.
Das letzgenannte gefälscht. Dies gefälschte Aktenstück Grund-
lage der Anklage und des UrteUs gegen Galilei. — Das erste Ver-
hör. Galilei erinnert sich des besonderen Befehls nicht, traut aber
der Sicherheit des Inquirenten gegenüber seinem Gedächtnis nicht.
Er weiß nur von einem Befehl, den ihm der Kardinal Bellarmin
gegeben hat, nichts von einem solchen des Pater Commissarius.
Die schriftliche Erklärung des Kardinal Bellarmin als gewichtiges
Zeugnis dafür, daß Galilei von einem über die allgemeine Ver-
urteilung copernikanischer Schriften hinausgehenden, persön-
lichen, nur ihn betreffenden Befehl nichts bissen kann. Galileis
hierauf gegründete schriftliche Verteidigung findet keinerlei Berück-
sichtigung. — Galilei zeigt sich nach 3 wöchiger Gefangenschaft
im Inquisitionspalast bei einem zweiten Verhör vollkommen gebro-
chenen Muts. Er erklärt sich bereit, die Ansicht des Copernicus
zu widerlegen. Die sittliche Schuld auf beiden Seiten. — Kleine
Vergünstigungen für Galüei. — Letztes Verhör. Drohung mit
der Tortur. Ist GaHlei gefoltert worden ? — Galüei schwört ab.
Er wird zum Gefängnis in den Kerkern der Inquisition ver-
urteilt. Sein Ausspruch: ,,Und sie bewegt sich doch" sagenhaft
und der Situation nach unmöglich; der Inhalt entspricht aber
seiner Gesinnung. — Bedexitung und Würdigung des Urteils gegen
Galilei.
Achtes Kapitel. Galilei der Gefangene der Inquisition . 184
Milderung des Urteils. Galilei darf in seine Villa in Arcetri
zurückkehren. Die ihm auferlegten Freiheitsbeschränkungen. Bei
Besuchen darf nicht die Rede von der Bewegung der Erde sein.
Galileis treue Freunde: Pater Castelli und Pater Fulganzio Mican-
zio. Die Dialoge ins Ausland gerettet und in Holland durch Ver-
mittlung Berneggers lateinisch gedruckt. Die ,, Unterredungen
über zwei neue Wissenschaften.'" Ihre grundlegende Bedeutung. Das
Verbot der Inquisition gegen alles, was von Galilei bereits gedruckt
war oder noch gedruckt werden sollte. Daher müssen auch diese Dis-
corsi in Holland erscheinen. Galileis ungeschwächte Gedanken-
fülle. Abnehmende Körperkräfte. Erblindung. Wiederholte Bitten,
nach Florenz zurückkehren zu dürfen, werden endlich 1638 nach
ärztlicher Begutachtung bewilligt, aber nur für kurze Zeit und
unter der Bedingung, mit niemandem über die verurteilte Lehre von
der Erdbewegung zu reden. Das darin liegende Ohnmachtsbekennt-
nis der GrewaJt. Galileis Rückkehr nach Arcetri. Sein Tod.
b*
— XX —
Seite
»iiiites Kapitel. Nach Galileis Tode 190
Verhinderung der definitiven Beisetzung des „Häretikers" in
Sa. Croce. — Sammlung für ein Grabdenkmal. — Widerstand des
Papstes. — Audienz des großherzoglichen Gesandten NiccoUni. —
"\>reitelung der Denkmalserrichtung. — Vernachlässigung von
Galüeis Andenken bei den folgenden Generationen als Folge des
kirchlichen Machtspruchs. — Erscheinen des Almagestum novum
von Riccioli 1651. Kritik der copernicanischen Lehre. — ]\Iethode
RiccioUs. — Prüfvmg der Beweisgründe auf ihre formallogische
Berechtigung. — Kritik der Flutlehre der „Dialoge". — Seine Be-
weise gegen die Erdbewegung, beruhend auf falschen Auffassungen
über die Zusammensetzung von Bewegungen. — Sophistische De-
duktionen. — Persönliche Angriffe gegen Galilei. — Theologischer
Teil des Werkes, der die Dekrete, den Text des Urteils und der
Abschwörungsformel enthält. —
Wirkimg auf Großherzog Ferdinand, sowie auf Galileis Schüler
Viviani und auf Montanari. —
Ricciolis ,,Astronomia reformata", eine kürzere Besprechung
der copemicardschen Lelire. — Einspruch von BoreUi und Stefano.
— BoreUis Schrift ,,Über die Kraft des Stoßes". — Stefanos Schrift
gegen Riccioli. — Beide sind überzeugte, aber doch zur Unter-
werfung entschlossene Copernicaner. — Gegenschrift Manfredis,
weitere Schriften. — Streit Boreliis und Stefanos über die Form
der krummlinigen Bahn eines mit der Erde rotierenden und zu-
gleich freifallenden Körpers. — Brief BoreUis an Ricci; eine weitere
Schrift BoreUis. —
Gründe, warum sich die Academia dei Cimenti nicht mit
der Entscheidung für oder wider die Erdbewegung befaßt. — Verbot
der Inquisition jeder ehrenden Erwähnung des ,, Häretikers" Galilei.
Gesamtausgabe von Galileis Werken durch Manolessi 1655 — 56
mit Erlaubnis der Inquisition. — Abdruck des „Nuntius sidereus",
sowie der sonstigen Schriften nach manchen Schwierigkeiten der
Inquisitoren.
Der Briefwechsel Vivianis als Quelle für die SteUungnahme
des 17. Jahrhunderts gegenüber Galilei. — Tätigkeit Vivianis für
Galileis Familie, für die Erhaltung seiner Schriften, für eine Lebens-
beschreibung. — Unterstützung durch Leopold von Medici. —
Vivianis Darstellung des Lebens Galileis, besonders seines Ver-
haltens gegen die Kirche. — Grund, warum das Werk Vivianis
nicht gedruckt wurde. — Plan einer neuen Gesamtausgabe von
GaUleis Schriften. — Verzögerung trotz Diodatis Aufforderungen.
— Gründe dafür, das Verbot der Indexkongregation. — Vergebliche
Bemühungen des Kardinals Leopold. — Beziehungen Vivianis zu
Ludwig XIV. — Beabsichtigte, aber nicht gedruckte Lebens-
beschreibung Gaüleis für Ludwig XIV. — Cosimo III., Groß-
— XXI —
Seite
herzog von Toskana. — Übergewicht der kirchlichen Bestrebungen.
— Plan des Druckes der nachgelassenen Briefe und Schriften. —
Versuch, durch Baldigiani eine Aufhebung des Verbots der Dialoge
erwirken zu lassen. — Ablehnende Haltung Baldigianis und Roms.
— Viviani ehrt Galilei durch eine an seinem Hause angebrachte
Bronzebüste und Inschrift, später durch Druck dieser Inschrift,
deren Druck die Florentiner Inquisition gestattet. - — Verleugnung
des Glaubens an die Erdbewegung in dieser Lobrede. — Wider-
spruch zur wahren Denkweise Vivianis. — Tod Vivianis 1703. —
Testamentsbestinimungen über sein und Galileis Grab. — Druck von
Galileis Lebensbeschreibung diirch Salvini. — Anfang einer Periode
der Wiederbelebung für GaHleis Andenken, — Vervollständigte Aus-
gabe seiner Werke in Florenz. — Vergebliche Bemühungen von
Leibniz in Rom um die Aufhebung des Verbotes der „Dialoge".
— Mildere Stimmung gegen Galileis Person in Rom. — Übertragung
der Überreste GaUleis nach dem neuen Mausoleum in Sa. Croce am
12. III. 1737. — Insclurift am Grabe. — Plan einer neuen Gesamt-
ausgabe der Werke in Padua. — Bedingtes Imprimatur durch die
römischen Konsultoren unter Benedikt XIV. — ]VIitdruck des Urteils
sowie der Schrift des P. Calmet über die Naturlehre der Bibel. —
Veränderung gegenüber der früheren Ausgabe. — Beschluß der
Indexkongregation vom Jahre 1757: Aufhebung des Verbotes aller
das copemicanische System lehrenden Bücher bLs auf einige aus-
drücklich genannte, darunter immer noch die „Dialoge". Lalandes
Bemühungen um Aufhebung des Verbotes auch für diese. — Mai-
länder Ausgabe vom Jahre 1808.
Vereinzelte Äußerungen italienischer Gelehrter für die neue
Lehre. — Die Dialoge auch 1819 noch verboten, ebenso ein Lehi-
buch der Optik von Settele, in dem die neue Lehre als wissen-
schaftliche Wahrheit auftritt. — Promemoria Setteles. — Endlicher
Erfolg: Druckgenehmigung für alle das copemicanische System
vertretenden Schriften. — Nachträgliche Rechtfertigungsversuche
der früheren Verbote.
Anhang I. SagenhafteErgänzungender Jugendgeschichte 260
Anhang II. Untersuchungen über das Vatikanmanuskript
der beiden Inquisitionsprozesse Galileis 298
A. Ergebnisse meiner Untersuchungen über das Protokoll
vom 28. Februar 1616 298
B. Ergebnisse meiner Untersuchungen über moderne Fäl-
schungen, speziell die des Examen de intentione im
Vatikanmanuskript des Galileisehen Prozesses .... 321
C. Die Inhaltsübersicht an der Spitz© des Vatikanmanu-
akripts 337
XXII —
Seite
Aiiliaug III. Der Betrug des Simon Marius von Gunzen-
hausen 343
A. Simon Marius und die Entdeckung der Jupiteratrabanten 343
B. Johannes Kepler über den Anspruch des Simon Marius
auf die Entdeckung der Jupiterstrabanten 377
C. Johannes Kepler über Marius' Erforschung der Perioden
der Jupiterstrabanten 407
D. Simon Marius' Anteil an dem Plagiat des Balthasar Capra
von 1607 416
Register zum I. und II. Band 427
I
Erstes Kapitel.
Unter der Herrschaft des Dekrets von 1616.
Man hat oftmals ausgesprochen, daß die Eingriffe der kirch-
lichen Gewalt in die Kechte wissenschaftlicher Forschung für den
Entwicklungsgang der Wissenschaft bedeutungslos geblieben sind.
Diese Behauptung ist in dem Sinne, in dem ihr unbestreitbare Wahr-
heit zukommt, wenig mehr als eine Trivialität; in dem Werden der
Wissenschaft bricht jeder frühere Gedanke jedem folgenden die Bahn,
und diese Folge der Gedanken ist unwiderstehlich wie das Gesetz
der Natur; aber für ihren Ablauf zählen die Jahrhunderte nicht,
die Grenzen von Staaten und Nationen sind ihr nicht vorhanden,
die einzelnen Menschen nicht mehr als zufällige Werkzeuge; es be-
darf kaum der Erwähnung, daß der willkürliche Machtspruch des
gewaltigsten Herrschers wirkungslos verhallen muß, wo jede Wirkimg
^lenschücher Verhältnisse ausgeschlossen bleibt.
Sieht man aber in der Geschichte der Erkenntnis zugleich einen
wesentlichen Teil der Lebensgeschichte der Menschheit im großen
ganzen wie in ihren mannigfaltigen Gliederungen, so wird man sich
schwer der Betrachtung entziehen können, daß gerade jene äußeren
Verhältnisse, die dem Wesen der wissenschaftlichen Tätigkeit fremd
sind, dennoch tausendfältig hemmend und fördernd ihren Gang be-
stimmen; und in diesem Sinne ist das Machtwort der Kirche wider
die copernicanische Lehre ein zweifellos bedeutungsvolles gewesen.
Allerdings waren, als die Kirche ihr Verdikt gegen Copernicus erhob,
die Verhältnisse einem ernsten Versuch, die neue Lehre zu unter-
drücken, w^nig günstig.
Mit der raschen Fortentwicklung einer neuen Naturwissenschaft
hatte in gleichem Maße die Gemeinsamkeit der Arbeit und des An-
W oh 1 will, Galilei. II. 1
teils zugenommen, in dem für die Gelehrten des zivilisierten Europas
nationale und politische Sonderungen zu verschwinden schienen.
Die kirchliche Spaltung änderte nichts an diesem Verhältnis; viel-
mehr gewann durch sie die Erhaltung und Ausbildung einer unzerstör-
baren Gemeinschaft im Bereich der Wissenschaft erhöhte Bedeutung;
sie bewährte sich, als mit dem Dekret von 1616 der Versuch unter-
nommen -«-urde, den Anhängern der Kirche ein großes Gebiet der
wissenschaftlichen Forschung zu verschließen; die wissenschaftliche
Astronomie mußte in die Länder flüchten, die der kirchlichen Gewalt
den Gehorsam versagten, aber aus der Forschung der Ketzer ging
darum nicht weniger eine Wissenschaft für alle hervor. Und doch
kann der Geschichte der Wissenschaft ein Beschluß nicht bedeutungs-
los heißen, der das Ungeheuere vollbracht hat, die Forscher der
katholischen Länder auf ein Jahrhundert hinaus von der gemein-
samen Arbeit an den großen Problemen der Wissenschaft auszu-
schließen, der vor allem in seinen Nach\virkungen mit dabei beteiligt
ist, nach raschem, hoffnungsvollen Aufschwung die italienische
Wissenschaft niederzuhalten.
In den eigentlich protestantischen Ländern hätte damals die
römische Herkunft des Dekrets genügt, um jede Anerkennung seines
Inhalts auszuschließen. Gab doch diese römische Herkunft noch
immer den ausreichenden Grund, um der Einführung des neuen
Kalenders zu widerstreben. Im übrigen wird sich schwer behaupten
lassen, daß es bei den protestantischen Fürsten und GeistHchen be-
wußte Duldsamkeit war, die Verfolgungen der neuen Lehre unmöglich ^
gemacht hat. WahrscheinKcher ist, daß gleichgültiges Geschehen-
lassen der Grund war; die politischen Verhältnisse, die dem Ausbruch
des großen Krieges vorhergingen, waren der Beachtung solcher Dinge
wenig förderlich. Wie aber aufgeklärte Denker in protestantischen
Ländern über die Entscheidung der römischen Kirche urteilten, geht
aus der Kritik hervor, die der hochbetagte Tübinger Mästlin an dem
Dekret übt.^
„Sollte man nicht erwarten", ruft er aus, ,,daß diese Kardinäle,
die vom heiligen Stuhl für den Index der Bücher und deren Erlaubnis,
Verbot, Keinigung und Druck in der gesamten Christenheit specialiter
eingesetzt sind, die nicht nur in allen Teilen der Theologie, Juris-
^ Jo. Kepler! Opera ed. Frisch, Vol. I p. 56 f.
prudenz usw., sondern auch in allem Wissen höchst unterrichtete
und geehrte Männer sind, denen nichts verborgen ist, ^Yas irgendwie
Bedeutsames gelehrt, geschrieben und öffentlich verbreitet \A'ird, daß
wenigstens einige unter ihnen in der Mathematik und Astronomie
wohlbewandert seien ? ' '
Statt dessen gibt das Dekret zum ernstesten Zweifel Anlaß, ob
die Kardinäle der Kongregation die Bücher des Copernicus je mit
Augen gesehen, ja, nur wissen, daß und wann dieser Copernicus gelebt
hat. In dem Brief eines braven Karmelitermönchs entdecken sie,
daß die Meinung des Copernicus sich zu verbreiten beginnt, und dann
verdammen sie ein Werk von wahrhaft übermenschlicher Arbeit,
das zwar in der Stille von manchen verhöhnt und angebellt ist und
mit Argumenten, die der Sache fern liegen, — kaum kann man sagen
— angegriffen, aber von niemand mit zutreffenden, aus der Astro-
nomie und Mathematik entnommenen, das Wesen berührenden
Gründen bekämpft ist.
Mästlin will von Foscarini und Didacus a Stunica nicht reden —
er kennt sie nicht — aber den Copernicus verbessern!
Wer soll es tun? Etwa Copernicus selbst, der seit mehr als
70 Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilt? Oder ein anderer
in seinem ]N'amen? Wer's immer sei, der ihm sich zu widersetzen
unternähme, seine Mühe wird vergeblich sein, so stark sind die
Grundlagen, auf denen seine Astronomie beruht, ja, fester und stärker
geschützt, als Copernicus selbst gewußt hat, sind alle Schutzwehren
dieser Feste — das beweist uns Keplers Werk. So kann man nicht
mit Unrecht sagen, daß die Verdammung jener Zensoren und das
Urteil Blinder über die Farben von gleicher Bedeutung sind.
In ähnhcher Weise dachten und äußerten sich vermuthch die
protestantischen Copernicaner allerorten, aber es ist doch schwerlich
als Zufall zu betrachten, daß wir scharfe Worte, wie diese, eher in
Handschi'iften als in gedruckten Werken finden. Auch die Vorrede
zum Copernicus, in der Mästlin seinem Ingi'imm Luft macht, ist
in einem Stuttgarter Manuskript gefunden. Wer so schrieb, mußte
berechnen, daß er der Verbreitung seines Werkes außerhalb der rein
protestantischen Länder schwere Hindernisse bereitete; in einer Zeit,
die den Erfolgen gelehrter Arbeit so wenig günstig war, wie die
Epoche des großen deutschen Krieges, konnte diese Überlegung auch
Männer von entschiedenster Gesinnung beeinflussen.
_ 4 —
In höherem Maße beunruhigend mußte die Kunde von dem
römischen Dekret in Gegenden \drken, wo in unsicherem, durch
Verfolgungen unterbrochenem Waffenstillstand die Konfessionen
nebeneinander lebten, wie dies in Österreich der Fall war. Wie
weit hier die Regierenden in der Erklärung der Kongregation ein
bindendes Gesetz erkennen würden, hing von unberechenbaren
Verhältnissen ab. Diese Entscheidung aber war für einen Kepler
gleichbedeutend mit einer Entscheidung über seine bürgerliche
Existenz.
Kepler hatte ohne Kenntnis von den römischen Vorgängen im
Jahre 1618 den ersten Teil eines Abrisses der copernicanischen
Astronomie veröffentlicht. Das Werk wurde in Rom unmittelbar
nach dem Erscheinen suspendiert; Kepler erfuhr davon erst, als
Galilei durch Vermittlung seines Gönners, des Erzherzogs Leopold
von Österreich, von ihm ein Exemplar der suspendierten Schrift
erbat. ^ Ängstlich schrieb er an Johann Remus^, den Leibarzt und
Mathematiker des Erzherzogs: „Aufs diingendste bitte ich Dich,
mir eine Abschrift vom Wortlaut jener Verurteilung zukommen zu
lassen und mich wissen zu lassen, ob diese Verurteilung dem Ver-
fasser, wenn er in Itahen angetroffen würde, zur Gefahr gereichen,
und ob man in solchem Fall von ihm einen Widerruf verlangen würde.
Auch liegt mir am Herzen, zu erfahren, ob diese Verurteilung in
Österreich Geltung haben wird. Denn wäre das der Fall, so würde
ich nicht allein in Österreich keinen Drucker mehr finden, sondern
auch die Exemplare, die der Verleger auf meinen Wunsch in Österreich
gelassen hat, würden gefährdet sein und endlich der Verlust auf mich
selbst fallen. Ja, man wird mir zu verstehen geben, daß ich auf den
Unterricht in der Astronomie verzichten muß, jetzt, nachdem ich in
dem Vortrag dieser Lehre beinahe alt geworden bin, ohne irgend-
welchen Widerspruch zu finden; ich werde endKch dem Aufenthalt
in Österreich entsagen müssen, wenn auch hier kein Raum für die
Freiheit der Wissenschaft übrig ist."
Die Antwort^ lautete beruhigend: das Werk sei nur insofern
verboten, als es gegen das Dekret vom Jahre 1616 verstoße, es könne
^ Jo. Kepler! Opera ed. Frisch, Vol. I p. 195.
2 a. a. O. p. 195.
3 Ed. Naz. XII p. 481.
— 5 —
jedoch vermutlich wie die Bücher des Copernicus mit besonderer
Erlaubnis von Gelehrten und Sachverständigen in Rom und ganz
Italien gelesen werden. Es sei daher kein Grund zur Besorgnis weder
in Italien noch in Österreich, wenn nur Kepler sich in seinen Grenzen
halte und seinen Leidenschaften gebiete.
Die Erlaubnis, Werke dieser Art zu lesen, wurde, wie Kepler
später erfuhr, nur in Rom erteilt, und man knüpfte sie auch für seinen
Abriß der copernicanischen Astronomie an die Bedingung einer vor-
gängigen Korrektur, durch die der Annahme der Erdbewegung der
hypothetische Charakter gewahrt wurde.
Kepler hielt es für geraten, durch besondere Vorsichtsmaßregeln
ernsteren Gefahren vorzubeugen. Diese Vorsichtsmaßregeln verraten
allerdings die mangelnde Übung, Als Kepler im Jahre 1619 seine
„Harmonie der Welt" veröffentlichte, schickte er eine Warnung an
die auswärtigen, namentlich italienischen Buchhändler voraus.^ Er
geht darin so weit, sich, den eifrigen Protestanten, für einen Sohn
der Kirche auszugeben, aber er fügte hinzu, was ausreichte, um der
Inquisition diesen Sohn verdächtig zu machen: der katholischen
Lehre, soviel ich bis jetzt von ihr habe begreifen können, bin ich
nicht nur durch Gesinnung ergeben, ich billige sie auch mit dem Ver-
stände, und ich habe dies an mehr als einer Stelle dieses Werkes
bewiesen.
Dann spricht er von dem Dekret, das, wie man ihm gesagt hat,
durch das Ungestüm von solchen hervorgerufen ist, die ihre astro-
nomische Lehre am ungeeigneten Platze und in unangemessener
Weise vorgetragen haben. Hochangesehene Männer sagen freilich,
daß das Urteil der Kirche die Freiheit der Erörterung, soweit sie sich
auf natürliche Dinge beschränkt, nicht hindern wolle. Aber wie dem
sei — Kepler bekennt sich schuldig, daß er durch allzulange Ver-
zögerung seiner Werke die Wissenschaft ohne Verteidigung gelassen
habe. „Denn w^ahrlich, täuscht mich nicht alles, so müssen, wenn sie
dies Werk der Weltharmonie lesen, die gelehrtesten Italiener und
Philosophen und die frömmsten Theologen anerkennen, daß die
Majestät und Erhabenheit dieser harmonischen Anordnung der gött-
lichen Werke so groß sei, daß Copernicus vor der Veröffentlichung
dieses Buches nicht hinreichend gehört werden konnte. Es erbittet
Jo. Kepler! Opera ed. Frisch, Vol. V p. 8.
— 6 —
daher die Philosophie, es erbittet Copernicus die Wohltat einer
restitutio in integrum von dem Fürsten, unbeschadet der Ehre der
Richter; denn sie werden ein neues Urteil auf Grund neuer Zeugnisse
zu fällen haben, die bis zum heutigen Tage durch die Nachlässigkeit
seiner Sachwalter unbekannt geblieben waren."
An die Buchhändler richtet Kepler die Aufforderung, dem Urteil
gehorchend, sein Buch nicht für jedermann feil zu halten, sondern
die Exemplare nur den höchsten Theologen, den angesehensten Philo-
sophen, den geübtesten Mathematikern, den tiefsten Metaphysiken!
zu verkaufen, zu denen ihm als dem Sachwalter des Copernicus auf
keinem anderen Wege der Zugang freistehe, um ihnen die Mttel
der Entscheidung zur Verfügung zu stellen.
Die eigentliche Bedeutung hatte das Dekret für die Katholiken
und in den rein katholischen Ländern. Bis dahin hatte die copemi-
canische Lehre Verteidiger wie Gegner gleichermaßen unter den
Angehörigen der Kirche, \\ie unter den Bekennern des neuen Glaubens
gefunden. Dies Verhältnis änderte sich rasch, nachdem die Kirche
gesprochen hatte. Von einem Widerspruch im Kamen der Wissen-
schaft hat die Geschichte nicht berichtet. Die Copernicaner ver-
stummten, die Gegner traten um so lärmender auf; unter ihren
Gründen hatte immer der Widerspruch der heiligen Schrift in be-
sonderem Ansehen gestanden; durch die Erklärung der Kii-che
wurde diesem religiösen Argument ausdi'ücklich der Rang über
aller Wissenschaft zuerkannt; den ferneren Gegnern des Copernicus
blieb nur die Aufgabe, mit mathematischen und philosophischen
Beweisen darzutun, daß die niedere Weise des menschlichen Er-
kennens zu keinem anderen Ergebnis führe als die heilige Einsicht
der römischen Theologen. So erschienen Schriften gegen Copernicus,
die iliren Inhalt schon auf dem Titel als Verteidigungen des römischen
Dekrets verkündeten.
Aber auch die rein peripatetischen Kämpfer traten unter dem
Schutze des Dekrets zahlreicher und zuversichtlicher auf; in Frank-
reich und Belgien, wie in Italien mehrte sich von Jahr zu Jahr
diese eintönig, geistlos disputierende Literatur, unter deren er-
müdend breiten Erörterungen hier und dort ein kräftiges Schmäh-
wort, wie der Wunsch, die Peitsche statt der Argumente gegen
die Copernicaner handhaben zu dürfen, den Leser eine Erholung
dünkt.
Von dem protestantischen Holland aus empfingen die Froidmont
und Morin^ die Antwort und Abfertigung, die ihnen ihre coperai-
canisch gesinnten Landsleute nicht zu erteilen wagten.
Daß es nach wie vor aufrichtig copernicanisch Gesinnte auch
unter den katholischen Denkern gab, wird des Beweises nicht bedürfen,
weniger leicht als die laute Äußerung war die ernst begründete Über-
zeugung zu unterdrücken. Der gelehrte Briefwechsel jenes Zeitalters
läßt keinen Zweifel darüber, daß man im vertraulichen Verkehr die
Grenzen, die das Dekret gezogen, nicht allzu ängstlich achtete. Aber
nach außen war Vorsicht geboten. Es war dabei im Ergebnis gleich,
ob der ernste Wunsch, der Kirche zu gehorchen, ob nur die Abneigung
gegen den Konflikt zur Unterwerfung führte — wer nicht in offener
Auflehnung gegen die Kirche streiten wollte, mußte der Verteidigung
des Copernicus entsagen.
Es blieb dann nicht aus, daß manche im Gehorsam weiter gingen,
als die Not erforderte; da man sich gewöhnen mußte, zu scheinen,
so kam es bald nicht mehr darauf an, wie weit der Schein sich von der
Wirklichkeit entfernte ; man begann damit, von Copernicus zu schweigen
und fand es nach einiger Zeit nicht unangemessen, die Lehre, zu der
man sich im Herzen nach wie vor bekannte, ausdrücklich zu ver-
leugnen.
Derartige Folgen des gewalttätigen Eingreifens in ein Gebiet,
das sich der Gewalt entzieht, mußten in gesteigertem Maße, in reichster
Mannigfaltigkeit sich in Italien ver^\irklichen, besonders in den
Staaten, die unmittelbar der Kirche gehorchten oder doch, wie Toskana
und Neapel, fast ohne Widerstreben eine geistliche Nebenregierung
duldeten. Hier war es nicht eine mögliche, fernher drohende Gefahr,
die den unabhängigen Denker in Schranken hielt: überall gegen-
wärtig, überall tätig und zum Handeln bereit, umlauerte ihn die
Liquisition. Unter den Eindrücken ihres geheinmisvoUen und doch
allerorten fühlbaren Wirkens gestaltete sich die Weise seiner Empfin-
dungen, seiner Vorstellungen, und es war dafür gesorgt, daß immer
von neuem die Erfahrungen der jüngsten Tage die verblassenden
^ Vergl. Ed. Naz. unter Morin XX p. 262 und XVII p. 341. Seine
Schrift Famosi et antiqui problematis de telluris motu vel quiete hactenus
optata solutio, Ed. Xaz. VII p. 547—561. Die Gegenschrift Landsbergs
s. Bibl. Galüeiana 119 u. 289. Über Liberto Froidmont Nr. 77, 124,
140, 247.
Erinnerungen belebten, um dieser Herrschaft über die Gemüter
Dauer zu verleihen.
Kaum war im März 1616 das Dekret gegen den Copernicus ver-
öffentHcht, als in Neapel Lazzaro Scorrigio, der Drucker der ver-
botenen Schrift des Foscarini, ins Gefängnis geworfen wurde, weil
er dem Kardinal Caraffa auf seine Forderung die Erlaubnis zum
Druck nicht aufzuweisen vermochte. „Es wird ihm der Prozeß ge-
macht", berichtete der Kardinal dem Kardinalinquisitor in Kom.
„Das heißt wohlgetan", lautete die Antwort aus dem Palast des
heiligen Offiziums.^
Vorgänge wie diese, Erinnerungen an zahlreiche ähnliche Akte
einer uneingeschränkten Gewalt gaben dem Dekret der Index-
kongregation in ihrem Machtbereich eine ergänzende Deutung. Was
sein Wortlaut unbestimmt und zweifelhaft gelassen hatte, war einfach
genug durch die Erkenntnis erläutert, daß eine unberechenbare
Gewalt die Ausführung überwachte.
So begegnete das Dekret in Italien bei Laien wie Priestern,
bei den frohlockenden Jüngern des Aristoteles \\ie bei den tief ge-
demütigten Anhängern der neuen Lehre dem gleichen, willenlosen
Gehorsam.
1 Ed. Naz. XIX p. 279.
Zweites Kapitel.
Der Streit mit Horatio Grassi.
Im Herbst des Jahres 1618 erschienen in kurzen Zwischenräumen
nacheinander drei Kometen, die beiden ersten von geringer Licht-
stärke und kurzer Dauer, von wenigen und nur von Sternenkundigen
beobachtet, der dritte eines jener großartigen Phänomene, die für
eine Zeit lang aller Augen zum nächthchen Himmel emporziehen, die
Gemüter der Menge mit bangen Ahnungen und Sorgen erfüllend, die
Denkenden zur Betrachtung anregend, allen ein unwiderstehlich
fesselnder Anblick.
Es war derselbe Komet, der in Deutschland wenige Monate nach
dem Ausbruch des Krieges in Böhmen namenlose Verwirrung dem
ganzen Reiche vorzudeuten schien, der zugleich mehr als je zuvor
die Astronomen allerorten zu messender Beobachtung, zu besserer
Ergründung der Bahn und der verborgenen Natur der fremdartigen
Himmelswandercr aufrief; es war derselbe Komet, dessen gewaltige
Erscheinung auch für GaUlei zum Ausgangspunkt für neuen Kampf
und damit für neue verhängnisvolle Feindschaft wurde.
Wer in jenen Tagen als Phüosoph im allgemeinen oder als Himmels-
kimdiger im besonderen im Ruf stand, dem Grund und Wesen der
rätselhaften Erscheinung näher zu stehen, konnte sicherlich dem
Andringen der Wißbegierigen nicht entgehen, er mußte schreiben
oder reden, um der Schar der Fragenden zu genügen. Eine überaus
reichliche Literatur über den Kometen von 1618 gibt von der leb-
haften Teilnahme in den Kreisen der Laien nicht minder, als von der
erhöhten Tätigkeit unter den Fachgelehrten Kunde. Daß bei diesen
gelehrten Erörterungen der Gegensatz der neuen Wissenschaft und
der herrschenden Gelehrsamkeit der Schule sich in vollem Maße
geltend machte, lag in der Natur der Sache.
— 10 —
Nach der Ansicht des Ai-istoteles gehörte jder Komet als Meteor
der irdischen Atmosphäre an. Dichtere Dünste der Erde sollten zu-
weilen bis zu jener Sphäre des Feuers aufsteigen, die nach Aristoteles
den Kreis der Luft umschließt, und sollten dort, wo die ruhende ele-
mentare Region von dem Umlauf der himmlischen berührt wird,
von dieser Bewegung ,,der Welt um die Erde" ergriffen — und so,
nach der alten Vorstellung über die Entstehung der Wärme, zur Ent-
zündung gebracht werden. Die Erklärung entsprach der strengen
Scheidung, durch die der griechische Philosoph das Reich des Hinmiels
dem Wechsel und der Veränderlichkeit entzog; was, wie der Komet,
urplötzlich erschien, in der Kürze zu erstaunlicher Helle und Größe
anwuchs, um dann, wie es gekommen, zu versch-s^inden, gehörte
seinem Wesen nach dem Kreis der Elemente, d. h. dem L'dischen an.
Mit der Lehre von der Unwandelbarkeit der himmlischen Region
war Aristoteles' Kometenlehre für den Gedankenkreis seiner Anhänger
eine unantastbare Wahrheit geblieben, nach seinem Vorgang und
mit seinen Worten widerlegte man leicht genug die tieferblickenden
Pythagoräer, denen die Kometen den Planeten vergleichbar schienen.
Der Erste, der in neuerer Zeit mit Sicherheit die Kometen über
den Kreis des Mondes hinaus in den Himmel erhob, war Ty cho Brahe.
Durch die Vergleichung seiner Beobachtungen mit denen der be-
deutendsten deutschen Forscher hatte er zunächst für den Kometen
von 1577 die Unmöglichkeit erkannt, ihm einen Ort unter dem
Monde anzuweisen. Die gleichzeitig an getrennten Orten verzeichneten
Angaben über die scheinbare Stellung des Kometen unter den Fix-
sternen zeigten ihm geringere Unterschiede und demnach einen
geringeren Einfluß der irdischen Abstände, astronomisch geredet:
eine kleinere Parallaxe, als sie dem Monde zukam; da aber der
Einfluß des Beobachtungsstandpunktes für den entfernteren Körper
in geringerem Maße merklich wird, so war erwiesen, daß der Komet
die obere Grenze der elementaren Region beträchtlich überschritten
hatte. Hatte man es dabei, wie wenige bezweifelten, mit einem jüngst
entstandenen und bald wieder in Dunst zerflossenen Lichtkörper zu
tun, so war zugleich gezeigt, daß auch der Himmel über dem Mond
der Wandelbarkeit der Erdenwelt unterworfen sei, und ebensowenig
ließen sich fortan die kristallenen Sphären als Träger der Himmels-
körper verteidigen; denn der Komet hatte ihi'e Regionen dem An-
scheine nach ohne Widerstand durchbrochen. Tycho Brahes Ent-
— 11 —
deckung ^^al• somit bt'deutungsvoll für die Erschütterung wichtiger
aristotelischer Sätze, sie war zugleich epochemachend als ein erster
Schritt zur wissenschaftlichen Kometenlehre: aus feurigen Luft-
erscheinungen waren die Kometen zu Himmelserscheinungen ge-
worden; auch jetzt noch nicht zu Himmelskörpern im eigentlichen
Sinne, Allerdings hatte Tycho Brahe im Sinne der Alten folgerichtig
den Kometen auch die Bahn der Himmelskörper, eine Ki-eislinie,
zugeteilt, aber die Astronomen fanden es schwer, ihm auch darin
zu folgen. So hatte im Jahre 1607 Kepler einen Versuch unter-
nommen, der Beobachtung des damaligen Kometen weitere Auf-
schlüsse abzugewinnen. Abweichend von Tycho schloß er aus seinen
Beobachtungen, daß die Bahn eine gerade Linie sei. Kepler ver-
leugnete darum die hinmilische Abkunft des Kometen nicht, aber
die gerade Linie, in der er ihn kommen und verschwinden sah, be-
zeichnete ihm zugleich seine vergängliche IN'atur. Kepler dachte sich
die Kometen durch zeitweilige Verdichtungen des himmlischen Äthers
entstanden, und er meinte, daß der weite Himmelsraum so voll von
diesen Bildungen sei, wie der Ozean von Fischen.
So lag ein reiches Material an alten und neuen Vorstellungen der
Erörterung der Gelehrten vor, als der Komet vom Jahre 1618 erschien.
Vor allem galt es, für oder ^^ider Tycho Brahe Partei zu ergreifen,
die Lehre von dem himmlischen Ort der Kometen durch neue Beob-
achtungen oder neue logische Deduktionen zu widerlegen oder zu
bestätigen. Als ein neues Hilfsmittel im Streit bot sich das Fernrohr
dar. Der Komet von 1618 war der erste, der seit der Erfindung des
Fernrohrs erschien. Zu lebhafteren Diskussionen kam es namentlich
in Italien. Öffentlich traten sich die feindlichen Parteien in Padua
gegenüber. Der Komet stand noch am Himmel, als der Dominikaner
Pater Bovio^ als Professor der Metaphysik vor einem großen Zu-
hörerla-eis eine Reihe von Vorlesungen hielt, in denen die Ansichten
des Aristoteles nach alter Weise vertreten wurden. Gleich darauf
versammelte sich die gesamte Universität im Kollegiensaal der Philo-
sophen und Mediziner um Camillo Gloriosi^, dem ]S'achf olger Galileis
in der mathematischen Professur. Gloriosi vertrat die Ansichten der
neueren Astronomen, er las, wie man Galilei berichtete, zur allgemeinen
1 Vergl. Ed. Naz. XIII p. 16.
2 Yergl. Ed. Naz. III p. 16 u. 170/71.
— 12 —
Zufriedenheit aller Kundigen, wenngleich zu einigem Abscheu jener
Gelehrten und Studierenden, die nicht die Beobachtungen der neueren
Astronomen als Wahrheit anerkannten. Als Dritter ließ sich For-
tunio Liceti vernehmen. Auch Liceti war dem Aristoteles ergeben,
aber abweichend von seinem Kollegen fand er in den Schriften des
Meisters die Entdeckungen der jüngeren Forscher wieder, so hatte
nach seiner gelehrten Auslegung schon Aristoteles die sublunaren
von den himmlischen Kometen geschieden und die letzteren für die
zahlreicheren erklärt. Diese Ansicht setzte er in einer umfangreichen
Schrift auseinander. Zur Erwiderung veröffentlichte Gloriosi^ seine
Vorlesungen. Es lag nicht in der Art der Peripatetiker, eine Antwort
schuldig zu bleiben, und es pflegte in solchen Fällen die Unhöflichkeit
mit der Zahl der Erwiderungen zu wachsen. So erfahren wir nach-
träglich in Licetis Antwort schon auf dem Titelblatt'^ daß der
Mathematiker von Padua bei Gelegenheit jener Vorträge von seinen
Zuhörern ausgezischt sei und daß dabei die studierende Jugend die
Steine nicht gespart hätte.
Auch die Gelehrten des Collegium Romanum hielten es für der
Mühe wert, ihre Ansicht über den Kometen öffentlich zur Sprache
zu bringen. Die gelehrten Jesuiten nahmen in dem Streit eine ver-
mittelnde Stellung ein; es war zwar von dem Ordensgeneral seit
längerer Zeit die Weisung erteilt, den Aristoteles zu vertreten, wo es
irgend tunlich sei; aber wenn irgendwo, lag hier für den mathematisch
Gebildeten der Fall vor, der Verteidigung unhaltbarer Sätze zu ent-
sagen. In der Tat machte der Redner des Collegium Romanum -keinen
Versuch, sich Tycho Brahes Folgerungen zu entziehen. Es war der
P. Horatio Grassi^, der vor den versammelten Vätern im wesent-
lichen nach Tychos Lehre über den Ort, die Bahn und das Wesen
des Kometen disputierte.
Grassi sprach gegen die irdische Abkunft der Kometen, aber
dieser Verstoß gegen die Überlieferung der Schule wurde reichlich
durch die scholastische Form und Methode, durch die schulgerechte
Denkweise in allen Einzelheiten seiner Beweisführung ausgeglichen.
Schon die Frage nach dem Ort, wie er sie faßt, setzt den aristotelischen
Gegensatz von Himmel und Erde in seiner ganzen Ausdehnung als
^ Vergl. Bibliogr. Galileiana Nr. 117.
- Bibl. Galileiana Nr. 179.
=5 Ed. Naz. VI p. 21-35.
— 13 —
festgestellt voraus; wer in dem Sinne dieser Sonderling den Kometen
als Himmelsangehörigen betrachtete, hatte auch seine hinmilische
Natur in der Weise seiner Erscheinung, in seiner Bewegung, als völlig
verschieden von allem Irdischen nachzuweisen. Dieser Aufgabe war
Grassi sich durchaus bewußt; Schwierigkeiten, wie sie einen Kepler
zur Annahm.e einer geradlinigen Kometenbewegung geführt hatten,
waren für ihn nicht vorhanden. Es genügte ihm, daß der Komet
sich in einem größten Kreise zu bewegen schien, um seine Bahn
als Kreisbahn anzusehen.
Daß auch der Komet von 1618 „über den Mond" zu setzen sei,
wurde wiederum aus der Kleinheit seiner Parallaxe, der geringen Ab-
weichung der Stellung, in der ihn Beobachter verschiedener Orte
unter den Fixsternen sahen, geschlossen. An den verschiedensten
Orten hatten Jesuiten beobachtet; in der Verbreitung der Ordens-
brüder war ein wesentliches Hilfsmittel für derartige vergleichende
Beobachtungen gegeben; aber freilich konnte die Organisation nicht
gegen die Unzuverlässigkeit der Instrumente schützen. In der Tat
ergab die Vergleichung der Ortsbestimmungen in Rom und Antwerpen
mit voUer Sicherheit, daß der Komet nicht der Luft angehören könne,
„und wenn man ihre Höhe selbst auf hundert Meilen annähme"^;
aber der Ort über dem Mond war durch diese Bestimmungen nicht
zu erweisen; waren sie richtig, so hätte der Komet bald über, bald
unter dem Mond gestanden. Grassi übersah die Schwierigkeit nicht,
aber in solchen Fällen half die gewohnte Kunst des Argumentierens.
Hätte der Komet unter dem Mond gestanden, so müßte man jedenfalls
um der Kleinheit der Parallaxe ^^^llen annehmen, daß er von der
Sphäre des Mondes nur wenig entfernt gewesen wäre. Geht man
von dieser Voraussetzung aus, so läßt sich aus der scheinbaren Größe
des Kometen die wirkliche berechnen ; man fände nach der damaligen
Berechnung des Abstandes zwischen Mond und Erde und einer will-
kürlichen Annahme über die Gestalt des Kometen den ungeheuren
Kubikinhalt von über 490 i^Iillionen ital. Kubikmeilen, „Stand aber
der Komet unter dem Monde, so mußte er durch Verbrennung irdischer
Dünste entstehen. Aber woher hätte die Erde für diesen unermeß-
lichen Feuerbrand die nötige Nahrung nehmen sollen? Es wird also
der Komet nicht unter den Mond zu stellen sein,"^
1 Ed. Naz. VI p. 29.
2 Ed. Naz. VI p. 32.
— 14 —
Das Beispiel charakterisiert das Ganze, Es war die übliche
Methode, zum vorausbestimmteii Schlüsse zu gelangen, die Horatio
Grassi — zufälligerweise — zur Begründung einer richtigen Behauptung
verwandte.
In Rom hielt man es für angemessen, den Ansichten und Be-
weisen des Paters weitere Verbreitung zu geben — die Rede wurde
gedruckt. Der Name des Collegium Romanum auf dem Titelblatt
genügte, ihr eine Bedeutung zu verleihen, die man dem Inhalt nicht
beimessen konnte. Eine Schrift, die mit der Autorität einer der an-
gesehensten gelehrten Körperschaften ausgestattet, in die Schranken
trat, durfte auch da nicht unbeachtet bleiben, wo ein Blick genügte,
über den geringen Wert ihrer Deduktionen Aufschluß zu geben; um
dieser Autorität willen erschien sie auch Galilei einer eingehenden
Widerlegung wert.^ Vielleicht lag eine besondere Veranlassung für
ihn in der eigentümlichen Stellung, die unter Grassis Beweisen die
verständnislose Anwendung des Fernrohrs einnahm. Übereinstimmend
hatten die Ordensbrüder berichtet, daß das Fernrohr den Kometen
imr schwach vergrößert erscheinen lasse. Grassi erkennt mit Nach-
druck den Unkundigen gegenüber, die noch jetzt von täuschenden
Gläsern reden möchten, den Wert der großen Erfindung an, aber
er verwertet sie nach seinem Sinn: die geringe Vergrößerung beweist
ihm den himmlischen Ort des Kometen, denn der Mond wird stark,
die Fixsterne werden kaum_ vergrößert; kühn spricht er es aus: je
ferner der Himmelskörper, um so geringer die Vergrößerung. Eii:e
solche Verwirrung war ganz geeignet, Galilei in die Schranken zu
rufen.
Es fehlte ihm auch sonst nicht an diingenden Aufforderungen,
sich an dem Streit über die Kometen zu beteiligen. Von allen Seiten,
Freunden und Fremden, waren ihm die Zuschriften gekommen, die
sein Urteil über die außerordentliche Erscheinung erbaten. Auch
außerhalb Italiens rechnete man auf ihn. So verlautete aus Frankreich,
es sei die Meinung der französischen Mathematiker, kein anderer als
Galilei könne über die Kometen schreiben. Galilei sah sich zu jener
Zeit außerstande, den Fragenden zu antworten^, ein ungewöhnlich
heftiger AnfaU seines alten Leidens hielt ihn ans Lager gefesselt; er
1 Ed. Naz. VI p. 37 „Discorso delle comete".
- Vergl. Ed. Naz. XII p. 421, 422, 435, 438, 439, 443, 461, 471.
— 15 —
mußte selbst darauf verzichteu, zu sehen und beobachtend zu ver-
folgen, was die langen Winternächte hindurch alle AVelt in Bewegung
hielt; aber im kleineren Kreis der Florentiner Freunde teilte er seine
Anschauungen mit; um sie auch weiterhin zur Geltung zu bringen,
veranlaßte er seinen Schüler, Mario Guidu cci , als Konsul der Floren-
tiner Akademie, den Inhalt ihrer Unterredungen in einem akademischen
Vortrag wiederzugeben. Galilei erhebt nicht den Anspruch, das Wesen
und den Ursprung der Kometen ergründet zu haben ; er will Gedanken
und Betrachtungsweisen zur Sprache bringen, die ihm nicht Wahrheit,
aber der Prüfung wert erscheinen, die man widerlegt haben muß, wenn
irgendeine andere Ansicht als erwiesen gelten soll. Der Beweis Tycho
Brahes, der aus der Kleinheit der Parallaxe auf die Entfernung
schheßt, scheint ihm an einer Voraussetzung zu leiden, die man mit
Unrecht als selbstverständlich betrachtet. Der Beweis besteht in
voller Kraft, wenn der Komet, so wie er scheint, reale Existenz hat;
er ist entscheidend gegen den, der ihn als brennenden Körper betrachtet,
also gegen die Ansicht des Aristoteles; aber der Schluß auf die Ent-
fernung ist unberechtigt und unanwendbar, wenn der Komet nur eine
Erscheinung wäre, die, wie der Regenbogen und die Höfe um Sonne
und Mond für jeden Beobachter andere sind und doch von allen in
gleichen oder annähernd gleichen Abständen von Sonne und Mond
gesehen werden, also keine oder nur eine geringe Parallaxe haben.
Daß der Komet zur Klasse dieser Erscheinungen zähle, soll nicht als
gewiß behauptet werden, aber die Annahme würde nicht weniger
glaublich sein als alles, was man von anderer Seite vorgebracht.
Eine geschlossene Bahn der Kometen anzunehmen, scheint ihm absurd,
aus der scheinbaren Bewegung im größten Kreis ist nichts der Art
zu entnehmen, auch der geradlinig aufsteigende Körper würde solchen
Schein gewähren, der Versuch, eine solche geschlossene Bahn zu
konstruieren, würde zu Ungeheuerlichkeiten der Exzentrizität und
der Größe der Bahnlinie, wie der wechselnden Geschwindigkeit führen,
die außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegen. Gegen die Zusammen-
stellung mit den Planeten hat schon Aristoteles auf die außerordent-
lichen Abweichungen der Kometen vom Tierkreisgürtel hingewiesen,
wichtiger scheint für Galilei und Guiducci die seit den ältesten Zeiten
beobachtete Tatsache, daß von den Kometen die einen wie die Planeten
von Westen nach Osten, die anderen in der Richtung der täghchen
Bewegung von Osten nach Westen vorschreiten; diesen Wechsel
— 16 —
der Rcchtläufigkeit und Riickläufigkeit auf tatsächlich verschieden
gerichtete Be^Yegungen zurückzuführen, scheint ihnen überaus gewagt.
Galilei findet "weniger Schwierigkeit in einer Vorstellung, nach der
eine dunstartige Materie (die wässerigen Dünste sind ihm nur eine
Art unter zahlreichen anderen) von der Erde aufsteige, über den
Schattenkegel der Erde hinausgelange, das SonnenHcht reflektiere —
und so die Erscheinung des Kometen hervorrufe. Selbstverständlich
wäre dann die erleuchtete Stelle nur ein kleiner Teil der ausgedehnten
reflektierenden Dunstmasse, und den Beobachtern getrennter Orte
würde nur scheinbar von gleicher, in Wirklichkeit von stets ver-
schiedenen Stellen das Licht zurückgestrahlt. Daß reflektierende
Materie sich zu beträchtlichen Höhen über der Erde erhebt, beweist
ihm die Erscheinung der Dämmerung und mehr noch das Nordlicht
(aurora borealis), das zur Nachtzeit ei scheint und an Helle zeitweise
dem Kometen nicht nachsteht. Daß übrigens die Erscheinung des
Kometen, wenn sie dieser Gattung zuzurechnen ist, doch innerhalb
der Gattung von allen übrigen verschieden sein muß, gilt als selbst-
verständlich. Das Bild der Sonne, wie es zum Lichtstreifen gezogen
vom Meeresspiegel zahllosen getrennten Beobachtern gleichzeitig zu-
gestrahlt wd, die Lichtstrahlen, die, wo Sonnenlicht durch Wolken-
lücken scheint, aller Orten vom gleichen Zentrum herabzuschießen
scheinen, können verdeutlichen, wie bei solchen Erscheinungen die
Beobachtung der Parallaxe ihre Bedeutung verliert — aber Galilei
denkt nicht daran, durch solche Vergleichung seiner Anschauung eine
bestimmte Gestalt geben zu wollen.
Die wirkliche Bahn des Kometen muß nach dieser Ansicht mit
der jener Dunstmaterie gleichgerichtet, also eine senkrecht gegen
die Erdoberfläche aufsteigende gerade Linie sein; in einfacher Weise
löste sich unter dieser Voraussetzung das Rätsel der Rückläufigkeit,
der Komet scheint ^^^e die Planeten von Westen nach Osten zu
gehen, wenn er westhch vom Beobachter aufsteigt; seine Bewegung
scheint dagegen rückläufig nach Westen gerichtet, wenn sein Ur-
sprung im Osten war.
jMit größerer Sicherheit ist der Schweif des Kometen als ein
Schein zu betrachten. Daß seine Ausdehnung, wie immer der Komet
sich bewege, in die Verlängerung der Linie von der Sonne zum Kopfe
fällt, deutet unabweishch auf den Anteil des Sonnenhchtes an seiner
Bildung; nach Kepler ist es ein zerstörender, zerstäubender Einfluß,
— 17 —
den die Sonne übt: „der Schweif ist der Untergang des Kometen";
nach Galilei sind es Sonnenstrahlen, die den kometarischen Dunst
teilweise durchcüingend und in ihm gebrochen den schwächeren
Lichtschein des langen Schweifs erzeugen. Was endlich die Krüm-
mung des Schweifs betrifft, so ist sie ein Schein des Scheinenden,
der nach den Regeln der Perspektive sich ändert, wie der "Winkel,
den der Schweif mit dem Horizont bildet.
So gibt es keine Seite des Kometenwunders, die nicht in Galileis
Hypothese ihre Deutung findet, an innerer Folgerichtigkeit zum
wenigsten fehlt es der neuen Lehre nicht, dennoch war auch in
Galileis Sinne die wiederholte Bemerkung, daß es sich nur um Ver-
mutungen handle, mehr als Redeweise; er mußte sich be^s^ßt sein,
daß bei der unbestimmten Fassung seiner Annahme ein Versuch,
aus ihr die Erscheinungen des Kometen von 1618 im einzelnen her-
zuleiten, sich nicht ausführen Heß, Um so zuversichtlicher spricht
er den Beweisen für die gegenüberstehende Meinung die Entscheidungs-
kraft ab; diese kritische Untersuchung, die Polemik gegen die Ver-
treter einer himmlischen Natur der Kometen füllt den größeren Teil
von Guiduccis Rede, sie richtet sich insbesondere gegen die Schrift
des Pater Grassi. Mit unerbitthcher Schärfe zergliedert sie von Seite
zu Seite die geometrischen Ungenauigkeiten, die Trugschlüsse und
Sophistereien. Die überlegene Methode des Meisters ist in diesen
polemischen Teilen ebensowenig zu verkennen wie in den belehrenden
Ausführungen, die er stets hinzufügt, wo er ^^^derlegt. Unter letzteren
finden wir als Erwiderung auf Grassis neue Lehre von der Fernrohr-
vergrößerung bei Guiducci Galileis Theorie der teleskopischen Wahr-
nehmung vollständiger erläutert als in irgendeiner seiner früheren
Schriften. Grassi gegenüber bedurfte es nur der Verweisung auf
die „Sternenbotschaft". Schon dort war gezeigt, daß die Vergrößerung
der Kometen wie der Fixsterne nur darum geringer scheine, weil
das unbewaffnete Auge die stark leuchtenden Körper vermöge einer
eigentümlichen Wirkung des Auges von einem „Strahlenhaar" um-
geben und darum vergrößert sehe. Das Fernrohr beseitigt die Zutat
des Auges und vergrößert nur, was ohne sie erscheint.
Man braucht nicht diese lichtvolle Darlegung des wahren Sach-
verhalts der verfehlten Deduktion des Pater Grassi gegenüberzuhalten,
um zu erkennen, auf welcher von beiden Seiten die ernste Wissen-
schaft, auf welcher die leeren Worte stehen, derselbe Wesensgegensatz
Wohlwill, Galilei. II. 2
— 18 —
findet sich wieder, wo immer man zu vergleichen versuchen würde;
man erkennt ihn nicht minder, wo Galilei für eine unhaltbare Theorie
in die Schranken tritt, um wider die bessere Einsicht der Schul-
gelehrten zu streiten. Selbst im Irrtum denkt Galilei wissenschaft-
licher als seine Gegner. Ein Wort über diesen Irrtum ist in der Haupt-
sache nur darum hinzuzufügen, weil es üblich ist, ihn in gering-
schätziger Weise zu erwähnen. Der Irrtum des großen Mannes ver-
gegenwärtigt mehr noch als seine epochemachenden Entdeckungen
den Standpunkt der Zeit,
Wenn Galilei der bessern Einsicht eines Tycho gegenübertrat,
so ist dadurch unzweifelhaft dargetan, daß Tychos Lehre in jenen
Tagen noch keineswegs als die bessere erwiesen, daß ein Widerspruch
gegen ihre Folgerungen innerhalb der Wissenschaft noch möglich w^ar;
es ist dadurch zur Gewißheit erhoben, daß jener Entdeckung, die
man heute als wichtigsten Fortschritt anerkennen muß, eine solche
Bedeutung für den Anfang des 17. Jahrhunderts keineswegs zukam.
Was die Tatsache dieses Widerspruchs bezeugt, muß die Geschichte
erläutern, es heißt auf ein Verständnis des geschichtlichen Zusammen-
hangs verzichten, wenn man die Tatsache in Ausdrücken des Be-
dauerns oder im vorwurfsvollen Sinne deutet.
Wie w^enig Tycho Brahes Entdeckung des „himmlischen Orts"
zu jener Zeit zu befriedigenden Vorstellungen führte, erhellt aus
Keplers Ansichten, die ganz auf Tychonischer Grundlage ruhen. Der
Begründer der neuen Planetenlehre findet es mit dieser Erhebung
der Kometen in den Himmel völlig vereinbar, in ihnen vergängliche,
wolkenartige Bildungen zu sehen; er verwirft mit der geschlossenen
Bahn jede Beziehung ihrer Bewegung auf die Sonne, jede Zusammen-
stellung mit planetarischen Körpern. Ihm, der zuerst gewagt, die
Ungleichmäßigkeiten in der Geschwindigkeit der Planeten nicht nur
durch den Schein zu erklären, den die ungleichen Entfernungen her-
vorrufen, sondern wirUiche Ungleichheit in verschiedenen Sonnen-
abständen anzunehmen, ihm lag es doch fern, nach ähnhcher An-
nahme die ungeheuerliche Bahn zu konstruieren, auf der Kometen
^^ iederkehren konnten.
Wohl hatte T3'cho Brahe für zweifellos erklärt, daß der himmlische
Körper nur eine Kreisbahn haben kann. Auch scheint ihm die Planeten-
ähnlichkeit keinem Zweifel zu unterliegen, aber Kepler unternimmt nicht den
Versuch, den Gedanken auszuführen, die Kreisbahn für den Kometen von 1618
zu bestimmen.
— 19 —
In der Tat war Keplers Vorstellung von zufällig verdichteten,
zufällig zergangenen, bald westlieh, bald östlich in gerader Linie
dahinschießenden Wolkenbildungen die einzige, in der man die Be-
obachtungen mit Tychos Parallaxenlehre in Einklang zu bringen
wußte — kühn genug dehnte sie das Reich des Wandelbaren weit
über seine alten Grenzen aus; aber um so sicherer ließ sie dem Be-
denken, dem Zweifel Raum, sie hat nur wenige Anhänger gefunden.
Daß Kepler sie aufstellen konnte, beweist, wie fern selbst ihm noch
der Gedanke einer allgemeinen Massenanziehung lag, aber auch ohne
den Besitz dieser großen Erkenntnis, vor dem die geradlinige Bewegung
durch die Himmelsräume keinen Bestand hat, konnte man etwas
Unglaubliches in seiner Vorstellung empfinden. Es war wohl nicht
nur der Schüler des Aristoteles, dem ,,es hart fiel, diese Meinung zu
verstehen", der den himmlischen Körpern „keine solche unvoll-
kommene Bewegung in einer geraden Linie zueignen konnte und
mochte".
So hatte Tycho Brahes Entdeckung nicht dazu beigetragen, die
seltsame Erscheinung begreiflicher zu machen, sie mit irgendwelcher
bekannten Erfahrung in Einklang zu bringen; was heute aller wissen-
schaftlichen Kometenforschung zugrunde liegt, bildete damals kaum
mehr als die Grundlage einer unwahrscheinlichen Theorie und un-
möglicher Versuche zu andern Deutungen. Diese Sachlage veranlaßte
Galilei zur erneuten Prüfung der Beweise Tychos. Sie gab seinem
Einwurf eine Bedeutung, die den späteren Erfolgen der Tychonischen
Lehre gegenüber kaum noch Anerkennung finden kann; die Berech-
tigung seines Widerspruchs liegt in der völhgen t^nzuverlässigkeit
aller bis dahin gewonnenen Ergebnisse; man wird ihm zugestehen
müssen, daß im Jahre 1618 keine Kometentheorie vorhanden war,
die zugleich den Erscheinungen genügt und den Verstand befriedigt
hätte. Tsoch konnten Kepler und Galilei, so sehr sie anderweitig
in ihren Ansichten voneinander abwichen, darin übereinstimmen, daß
sie die Vorstellung von wiederkehrenden Kometen als Absurdität
zurückwiesen, noch lag der Gedanke an eine Parabelform der Bahn
außerhalb der denkbaren Möglichkeiten; erst mit Newtons Lehre
sind die Voraussetzungen gegeben, unter denen Tycho Brahes wichtige
Entdeckung fruchtbar werden konnte; es war der Freund Isaac
Newtons, der am Ende des 17. Jahrhunderts zum erstenmal einen
Kometen wiederkehren sah, und dieser Komet war derselbe, dessen
— 20 —
sorgfältige Beobachtung Kepler zur Annahme der geradlinigen Be-
wegung geführt hatte. Erst mit IS'ewtons und Halleys Entdeckimgen
wird die Ansicht Galileis so vollständig ausgeschlossen, daß die
spätere Generation sie unbegreiflich findet.
Damit ist in der Tat nicht unvereinbar, daß sie auch bei den
Zeitgenossen nur wenig xVnklang fand; sie befriedigte so wenig wie
die andern Theorien, aber man A\ird nicht finden, daß die Ergebnisse,
bei denen Galileis Kiitiker sich beruhigt, den Vorzug durch größere
Zuverlässigkeit der Beweise verdienen. Eine Beurteilung, die uns
dies Verhältnis veranschaulicht, ist uns in einem Brief des Genuesen
Baliani^ erhalten, Gian Batista Baliani gehörte zu den entschiedenen
Gegnern der aristotelischen Schule, aber seine Briefe bekunden, daß
er sich auch den Führern der neuen Wissenschaft gegenüber völlige
Unabhängigkeit des Urteils bewahrt; so spricht er auch in diesem
Falle offen seine ernsten Bedenken gegen Galileis Lehre aus; er findet
die Erörterung über die Bedeutung der Parallaxe vortrefflich, aber
er hebt mit isachdruck hervor, daß demnach der Hauptpunkt sei,
zu erkennen, ob der Komet eins jener bewegten Bilder sei, bei denen
keine Parallaxe gefunden wird. Was zugunsten dieser Auffassung
angeführt wird, scheint ihm ebensowenig zu genügen wie die Zurück-
führung der wahrgenommenen Bewegung auf das senki-echte Auf-
steigen des kometarischen Dunstes. Seine Einwendungen sind größten-
teils berechtigt, aber die unzweifelhaft bessere Ansicht, die er Galileis
Vermutungen gegenüberstellt, ist jedenfalls durch seine Argumente
nicht besser begründet.
,,Ich kann nicht sehen", schreibt Baliani^, ,, welche Schmerig-
keit darin liegt, zu sagen, daß der Komet ein Körper ist, aus der-
selben Materie erzeugt wie die Planeten, nur nicht so gut zusammen-
geleimt und deshalb leicht zu zerteilen; ich kann nicht sehen, daß
nicht Er, der jene beim Anfang der Welt geschaffen, weil es ihm so
gefiel, auch weiter andere erzeugen könne, bald von größerer Dauer,
wie den Stern im Schwan, bald von kürzerer, wie die Kometen, die
sich wieder zerteilen, weil ihre Materie der geringeren Festigkeit
wegen von dem Medium größeren Widerstand erfährt. Und ebenso-
wenig kann ich sehen, worin die Schwierigkeit besteht, zu sagen.
1 Ed. Naz. XII p. 474—478.
- Ed. Naz. XII p. 477 f.
— 21 —
daß, der den Planeten die regelmäßige Bewegung gab, sie auch dem
Kometen gegeben, und daß die Verzögerung in seiner Bewegung
davon herrühren könne, daß entweder sein Kreis für uns exzentrisch
ist oder daß der Widerstand, den ihm das Medium entgegensetzt,
um so größer wird, je mehr er sich auflöst und verdünnt."
Diese Äußerungen bekunden in ihrer wenig wissenschafthchen
Form die instinktive Neigung, die sich trotz unzulänglicher Beweise
der Vorstellung von planetarisch geschlossenen Bahnen zuwendet;
im übrigen wird man der Erwiderung Galileis wenig hinzuzufügen
haben.
„Für alle diese Behauptungen", schrieb Galilei an den Rand
des Briefs^, „ist keinerlei Schwierigkeit vorhanden, ja, wenn, was
ich gesagt habe, dem widerspräche, müßte man es nicht nur als
falsch, sondern als ketzerisch betrachten. Ich behaupte jedoch nicht
allein, daß alle diese Dinge gesagt werden können, sondern auch,
daß dies die leichteste, einfachste und bequemste Weise ist, diese
und alle anderen schwierigeren Probleme zu lösen." —
Wie alles, was von Galilei ausging, erregte auch seine Kometen-
lehre in weiten Kreisen Aufsehen und Teilnahme. Guiduccis Rede
wurde gedruckt und rasch verbreitet; sie wurde dem Erzherzog
Leopold gewidmet, der unter vielen andern Galileis Ansicht erfragt
hatte.2 Auch in der weiteren Öffentlichkeit schien es Galilei an-
gemessen, den Freund statt seiner reden zu lassen. AVenn ihn dabei
die Abneigung bestimmt hat, von neuem persönlich in Streitigkeiten
mit den peripatetischen Gelehrten verwickelt zu werden, so war
dafür das Mittel schlecht gewählt. Bei Freund und Feind galt bald
genug nur Galilei als Verfasser des Discorso delle comete. Mario
Guiducci selbst erhebt, soweit er die neue Lehre vorträgt, keinen
andern Anspruch als den, für des Meisters Ansichten ein guter Kopist
zu sein. Er sucht seine Ehre darin im Gegensatz zu jenen Leuten,
die sich für den Apelles ausgeben, wo sie sich Galileis Lehren an-
eignen.3 Die Sprache, die Art der Darstellung und der Deduktion
ist unverkennbar die Galileis; aber mehr noch: in dem noch vor-
handenen Manuskript des Discorso ist der ganze Abschnitt, der von
1 Ed. Naz. XII p. 478.
2 Ed. Naz. XII p. 435, 468.
^ Es ist mehr als wahrscheinlich, daß Guiducci nicht einmal so viel
seieistet hat.
— 22 —
Galileis Kometenlehre handelt, von dessen eigener Hand geschrieben.
Genug des Beweises, daß für diesen Teil zum mindesten Galilei allein
als Verfasser zu betrachten ist. Schon aus Rücksicht auf den Freund
hat Galilei dies Verhältnis niemals offen zugestanden, aber ebenso-
wenig verwandte er besondere Vorsicht darauf, es zu verheimlichen;
er übersandte die Schrift seinem Fürsten, Gönnern und Freunden,
wie ein eigenes Werk und nahm ihre anerkennenden Äußerungen
in gleicher Weise entgegen.
So konnte es kaum überraschen, daß man in Rom und ins-
besondere im Collegium Romanum auch die strenge Beurteilung des
Ordensgenossen ausschließhch Gahlei zuschrieb, war doch in den
gelehrten Kreisen kaum irgendjemand im Zweifel darüber, daß in
der Tat Gahlei „gegen die Jesuiten" geschrieben hatte; zwar hatte
Guiducci vorsichtig vor der Veröffentlichung den Rat von Männern
erbeten, die dem Jesuitenorden nahestanden, um alle verletzenden
Äußerungen zu tilgen — aber verletzend war an dieser Stelle schon
die Tatsache, daß dem Mathematiker des Collegium Romanum öffent-
lich widersprochen, daß ihm logische und mathematische Schnitzer
nachgewiesen waren; sollte aber Fehde sein, so hatten's auch die
Jesuiten lieber mit einem Galilei als mit einem Guiducci zu tun.
Gleich nach dem Erscheinen der Schrift sprach Ciampoli^ sein leb-
haftes Bedauern über diese Polemik aus; dem wachsamen Freund
mißfiel es, daß Galilei zum Streit herausforderte, wo man ihm bis
dahin besonderes Wohlwollen und in öffenthchen Äußerungen ehrende
Anerkennung be\Niesen hatte; er wußte, was der Verlust dieser Ge-
sinnungen zu bedeuten hatte. Mit besorgtem Sinn schrieb er nach
Florenz: ,,die Jesuiten sehen sich als schwer beleidigt an, sie rüsten
sich zur Antwort. "^
Noch im selben Jahr, 1619, erschien die Antwort unter dem
Titel: Astronomische und philosophische Wage, durch welche
die Meinungen des GalUeo Galilei über die Kometen, wie sie von
Mario Guiducci in der Florentiner Akademie vorgetragen und kürzlich
veröffentlicht sind, geprüft werden von Lothario Sarsi, dem
Sigensaner.3 In der Schrift gibt sich Sarsi für den Schüler des
P. Grassi aus; in Wirklichkeit war hinter dem Pseudonymen Ver-
1 Ed. Naz. XII p. 466.
2 Ed. Naz. XII p. 466.
' Ed. Naz. VI p. 9.
— 23 —
fasser niemand anders als der Pater selbst verborgen; daß er nicht
allzu ängstlich seine Mitwirkung zu verheimlichen wünschte, bew^eist
die Wahl des Xamens, der aus den Buchstaben seines eigenen (Horatio
Grassi aus Salona) zusammengestellt ist.
Die „Wage" geht über Guiducci mit wenigen Worten hinweg;
aus Galileis Briefen an seine römischen Freunde will Sarsi erfahren
haben, daß die Rede das Werk des Lehrers, nicht des Schülers sei;
in geschmacklosem Wortspiel glaubt er sich überdies durch Guiduccis
eigene Worte gerechtfertigt, wenn er sich ,, gegen den Diktator, nicht
gegen den Consul" wendet. Daß Guiducci doch nur insofern Kopist
sein wollte, als er über Galileis Lehre berichtete, keineswegs auch
in dem historischen und kritischen Teil seiner Schrift, schien keiner
weiteren Beachtung wert. So schreibt er ohne weiteres Galilei nicht
nur die Ideen, sondern auch die Äußerungen des Discorso delle comete
zu und richtet gegen ihn ausschließlich seine Streitschrift.
Die Wage verteidigt die Rede Grassis, die überall Beifall, nur
bei Galilei Tadel gefunden habe; sie bekämpft in weitläufigen Aus-
führungen Galileis neue Tlieorie und beleuchtet in ihrem letzten
Teil die übriggebliebenen Einzelheiten, in denen Guiduccis Vortrag
althergebrachten Ansichten widerspricht. Auch diese Schrift würde
nur sehr ungenügend gekennzeichnet sein, wenn man hervorhebt,
daß sie die bessere Lehre Tychos vertritt. Es fehlt allerdings in der
Polemik gegen Galileis Kometentheorie nicht an treffenden Be-
merkungen. Es ist ein Einwurf, der sich hören läßt, wenn Sarsi die
Zusammenstellung der Kometen mit den Erscheinungen atmo-
sphärischen Ursprungs durch einen Vergleich mit den Wolken verwirft.
„Alle Wolken", sagt er, — ,,wenn sie irgendwelche Verwandtschaft
mit dem Stoff der Kometen haben — lassen, wenn sie so dicht und
dunkel sind, daß sie die Sonnenstrahlen nicht frei durchlassen, wenig-
stens an der Seite, wo sie auf die Sonne zurückblicken, diese mit
gegenseitiger Freigebigkeit zu uns reflektieren. Wenn sie aber zart
sind und das Licht ungehindert an jeder Stelle sie durchdringen kann,
so zeigen sie sich an keiner Stelle dem Blick des Betrachters dunkel,
sondern überall von hellem Licht Übergossen. Wenn also der Komet
aus keinem anderen Stoff besteht als aus derartigen rauchenden
Dünsten, die nicht zu einem Haufen zusammengedrängt sind, sondern,
wie er selbst sagt, einen sehr weiten Himmelsraum einnehmen und
an jeder Seite vom Sonnenhcht erglänzen, ^^'ie ist es möglich, daß er
— 24 —
den Betrachtern immer mir in einem engen und kleinen Ki'eise er-
scheint und die übrigen Teile desselben Dunstes, die ja vom gleichen
Sonnenlichte bestrahlt werden, niemals sich zeigen. "^
So trifft Sarsi auch ohne Zweifel das Richtige, wenn er von
Galilei verlangt, daß er die Abhängigkeit der vermeintlichen Er-
scheinung von dem Stand der Sonne an den Beobachtungen nach-
weise; was den Kometen von 1618 betreffe, so habe seine Bewegung
mit der Sonne nicht mehr und nicht weniger zu tun als Leute, die
im Sonnenschein Spazierengehen.
"Wo dagegen die Kritik über das Allgememste hinausgeht, wo
sie im einzelnen tadelt, widerlegt und verbessert — da tritt fast ohne
Ausnahme eine beschränkte oder mißverständliche Auffassung, Un-
wissenheit und vor allem ein völliger Mangel an Achtung vor dem
überlegenen Gegner zutage. So verdirbt er die eben hervorgehobene
richtige Betrachtung durch den falschen Beweis: triumphierend
zeigt er, daß der Komet sich nach ^N'orden wandte, als die Sonne
südwärts ging — und gibt damit Galilei allzu leichtes Spiel auch
in der Hauptsache; denn genau dies mußte geschehen, wenn der
Komet nur ein Reflex war: stets geht das Bild in entgegengesetzter
Richtung wie der Spiegel. !Xirgends denkt sich Sarsi seine Gegner
auch nur gegen den oberflächlichsten Einwurf gesichert, nirgends
scheut er sich, was Galilei in allgemeinen Umrissen entworfen, nach
Willkür in bestimmte Form zu bringen, und dann durch die elemen-
tarste mathematische Betrachtung als unmöglich zu ei-weisen, was
niemand, und am allerwenigsten GaHlei, für möglich halten konnte.
So glaubt er beweisen zu können, daß der Komet, wenn er nach
Galileis Ansicht senki-echt aufstiege, nicht allein niemals das Zenith
des Beobachters erreichen, sondern nicht einmal um mehr als 172°
über den Horizont sich erheben könnte; allerdings mußte er dafür
den Fall so wählen, daß der Komet 60° vom Ort des Beobachters
entfernt aufstiege und erst in einem Abstand der Mondfeme sichtbar
würde, und so besteht in Wirklichkeit kein Beweis darin, Bedingungen
auszuwählen, unter denen der Komet unmöglich eine größere Höhe
über dem Horizont erreichen konnte, also Bedingungen, die für
Galilei im voraus ausgeschlossen waren. So suchte er Galileis Ansicht
durch die Behauptung zu widerlegen, daß alle optischen Phänomene
1 Ed. Naz. VI p. 137-138.
— 25 —
ähnlicher Art in Kreisform erschienen und erscheinen müßten, so
der Regenbogen, so die Höfe um Sonne und Mond, aber es kam ihm
nicht in den Sinn, daß diese Betrachtung nur gewisse Bildungsweisen
unter vielen möglichen beseitigte, und daß wohl auch Galilei seine
Vorstellung nicht gerade auf Umstände beschränken würde, die
nach einfacher geometrischer Überlegung für seine Zwecke nicht
genügten.
Zeigt sich bei solchen Gelegenheiten nur, wie wenig Horatio
Grassi nach dem Umfang seiner Kenntnisse der Mann war, einem
Galilei, selbst WTun er irrte, gegenüberzutreten, so läßt der größere
Teil der Schrift auch darüber keinen Zweifel, daß ein Verlangen
nach wahrer Erkenntnis, ein ernstes wissenschaftliches Forschen auf
dieser Seite überhaupt nicht vorhanden war. Grassi gibt zwar vor,
Galilei seiner Talente wegen hoch zu achten, aber nirgends findet
sich in seiner ,,Wage" eine Andeutung, daß er Galileis Lehren im
einzelnen oder ganzen prüfe, um sich anzueignen, was wertvoll, zu
verwerfen, was unhaltbar scheint — seine Absicht ist offenbar darauf
beschränkt, zu bekämpfen und zu verwerfen, mit einem Wort: gegen
Galilei zu schreiben.
Für diese polemischen Zwecke eignete sich vortrefflich die
Methode der Schule, Behauptungen an den Regeln der formalen
Logik zu messen, aber diese Form der Beweisführung ruft nur um
so mehr den Eindruck hervor, daß den Beweisen der Hintergrund
einer ernsten Überzeugung fehlt. Auch der redlichste Wille konnte
nicht verhindern, daß auf diesem Wege der Streit um wissenschaft-
liche Wahrheit sich in einen Streit um Sätze und Ausdilicke ver-
wandelte; trat dann noch, me bei Grassi, die streitsüchtige Absicht
hinzu, so war es zwar leicht, ein Buch mit Widerlegungen zu füllen,
aber dieses Buch mußte um so deutlicher den Gegensatz zur ernsten
Wissenschaft an der Stirn tragen. Man kann sich eine Vorstellung
von der Breite dieser unfruchtbaren Disputationen machen, wenn
man hört, wie Grassi einzelne, für den Zusammenhang bedeutungslose
Äußerungen Galileis aufs gründlichste abtut.
Der Behauptung Grassis gegenüber, daß durch das Fernrohr
die Fixsterne unmerklich oder gar nicht vergrößert werden, hatte
Guiducci darauf verwiesen, daß durchs Fernrohr Sterne sichtbar
werden, die für das unbewaffnete Auge nicht vorhanden sind und
— selbstverständlich, ohne mathematisch reden zu wollen — hatte
— 26 —
er hinzugefügt: der Übergang vom Nichtsichtbarsein zum Sichtbar-
sein entspricht doch eher einer unendlichen Vergrößerung als keiner.
In dieser Äußerung findet nun Sarsi die willkommene Gelegenheit,
den Vorwurf ungenügender Logik zurückzugeben, den Guiducci
gegen seinen Lehrer Grassi gerichtet hat. Sarsi findet Guiduccis
Äußerung \ierfach unlogisch.^
1. Guiducci selbst hat behauptet, daß alles durchs Fernrohr
in gleichem Verhältnis vergrößert wird, wenn das Fernrohr also die
Sterne, die mit bloßem Auge sichtbar sind, im bestimmten Ver-
hältnis, vielleicht hundertfach vergrößert, so muß es auch das Un-
sichtbare im selben Verhältnis vergrößern — die Zunahme kann
also keine unendliche sein.
2. Wenn jemand so argumentiert: Was aus dem Unsichtbarsein
in das Sichtbarsein übergeht, nimmt unendlich zu, aber die Sterne
gehen von der Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit über: also nehmen
sie unendlich zu — so wird der Vordersatz näher zu bestimmen sein.
Sie werden unendlich vergrößert in bezug auf Sichtbarkeit — zu-
gegeben; sie werden unendlich vergrößert in bezug auf Quantität —
das leugne ich, und so wird auch den Schluß dieselbe Unterschei-
dung bestimmen: sie nehmen zu an Sichtbarkeit, aber nicht an
Quantität. So ist klar, daß die Zunahme im Vordersatz und im
Schluß auf verschiedenes bezogen wird, dort auf Sichtbarkeit, hier
auf Quantität.
3. ist ein Gesetz der Logik, daß, so oft eine Wirkung von meh-
reren Ursachen herrühren kann, mit Unrecht aus der Wirkung nur
auf eine geschlossen werde ; so kann es von vielen Ursachen abhängen,
daß sichtbar wird, was nicht gesehen wurde; es kann, wenn das
Objekt unverändert bleibt, entweder die Sehkraft für sich zunehmen
oder ein Hindernis beseitigt werden oder durch ein Instrument die
Sehkraft stärker werden; oder bei unveränderter Sehkraft kann das
Objekt heller beleuchtet werden oder näherrücken oder seine Masse
kann zunehmen — eins davon genügt, die Wirkung hervorzubringen,
so widerspricht es den Eegeln der Logik, daraus, daß früher unsicht-
bare Sterne sichtbar werden, zu schließen, daß sie eine unendliche
Vergrößerung erfahren haben; und diese Zunahme ist dem Fernrohr
nicht zuzuschreiben, denn wenn Galilei seine Augen schließt und
1 Ed. Naz. VI p. 122-124.
— 27 —
wieder öffnet, so kann er mit demselben Recht sagen, daß nun alles
unendlich vergrößert sei usw.
Es folgt noch ein vierter Beleg, die drei werden genügen, eine
Vorstellung von den Gegnern zu geben.
Ein Mann, dem solche Künste zugebote standen, brauchte
auch den klar zutage liegenden Fehlgriff nicht einzugestehen. Grassis
Erfindung, aus dem Grad der Vergrößerung durch das Fernrohr
auf die Entfernung des Himmelskörpers zu schließen, war von
Guiducci als völlig absurd bezeichnet. Grassi selbst konnte nicht
daran denken, sie zu verteidigen, aber er wußte seinen Rückzug zu
decken. Guiducci hätte geäußert: eine Täuschung über die Un-
abhängigkeit der Vergiößerung von der Entfernung könne davon
herrühren, daß man bei der Betrachtung näherliegender Gegenstände
das Fernrohr durch Ausziehen mehr verlängere und auf diese Weise
stärker vergrößerte Bilder erhalte, aber das verlängerte Instrument
sei nicht mehr dasselbe. Diese Belehrung griff nun Grassi mit Eifer
auf; er hatte von der veränderten Länge des Fernrohrs auch nicht
andeutungsweise geredet, jetzt argumentiert er, als hätte gerade
diese Betrachtung ihn bei seiner Untersuchung über die Entfernung
der Kometen geleitet und als sei es Galilei, der hier der Unterweisung
bedürftig sei: ^
„Denn ich frage ihn, wenn er sein bestes Ferm'ohr in die Hand
nimmt, um einen Gegenstand innerhalb des Zimmers oder Hofes
zu betrachten, ob es dann nicht weit ausgezogen werden muß. Ganz
recht, wird er antworten. Wenn er aber mit demselben Instrument
einen Gegenstand betrachten will, der vom Fenster weit entfernt ist,
dann muß es — das wird er zugeben — zusammengezogen und wegen
der weiten Entfernung des Betrachtungsobjektes verkürzt werden.
Wenn ich aber nach dem Grund des Ausziehens und Zusammen-
ziehens frage, so wird man auf jeden Fall zur Erklärung auf die Art
des Instrumentes zurückgreifen müssen. Denn das Fernrohr muß
nach den Gesetzen der Optik zur Betrachtung in der Nähe befind-
licher Gegenstände ausgezogen, zur Betrachtung entfernter Objekte
jedoch zusammengezogen werden. Da also durch das Ausziehen
und Zusammenziehen des Fernrohrs, vde er ja selbst sagt, eine Ver-
größerung bzw. Verkleinerung der Betrachtungsobjekte entsteht.
1 Ed. Naz. VI p. 128/129.
— 28 —
\vird er mir schon gestatten müssen, auf Grund dessen folgenden
Satz aufzustellen :
Alles, was nur mit einem ausgezogenen Ferm'ohr betrachtet
werden kann, wd notwendigerweise vergrößert; alles, was nur mit
einem zusammengezogenen Fernrohr betrachtet werden kann, wii*d
verkleinert. Alle in der Nähe befindlichen Gegenstände können nur
mit einem ausgezogenen, alle weiter entfernten nur mit einem zu-
sammengezogenen Fernrohr betrachtet werden; also alle in der Nähe
befindlichen Gegenstände werden vergrößert, alle weiter entfernten
verkleinert. Wenn in dieser Beweiskette der Hauptsatz als richtig
erwiesen ist, so werden, wie ich annehme, die nötigen Folgerungen
nicht geleugnet werden."
Den ersten Satz, meint Grassi, werde Galilei ohne weiteres zu-
geben, den zweiten wenigstens für Gegenstände, die weniger als eine
halbe Meüe entfernt seien; aber von solchen ist nicht die Rede, es
handelt sich um die verschiedene Vergrößerung des Mondes und
der Sterne, und in der Tat, was weiter als eine halbe Meile entfernt
ist, pflegt man mit einem Rohr von gleicher Länge zu betrachten —
also — sollte man glauben, ist die ganze Deduktion in nichts zerfallen;
aber Grassi fährt fort: daß man so verfährt, hegt nicht etwa daran,
daß man nicht strenggenommen auch jetzt noch für größere Ent-
fernungen eine weitere Verlängerung anwenden müßte, sondern
daran, daß diese Verlängerung eine so geringe wird, daß kein großer
Unterschied ist, wenn man sie ganz vernachlässigt — streng mathe-
matisch geredet, müsse jedoch die Verlängerung immer weiter ge-
trieben werden und so auch die Fixsterne mit einem kürzeren Fern-
rohr betrachtet werden als der Mond.
Daß mit diesem „strenggenommen" die Nichtigkeit der ganzen
Beweisführung eingeräumt ist, weiß Grassi geschickt zu verdecken.
Nach all den leeren Worten hat er den Mut, den Schein einer klein-
lichen Spitzfindigkeit auf Gahlei zu werfen. Er läßt ihn — wie über-
rascht durch die scharfe Logik des Gegners — einwenden: daß die
verschieden verlängerten Instrumente verschiedene Instrumente seien.
Die klein hche Bemerkung gibt Grassi Gelegenheit, zu zeigen, daß
er nicht streitsüchtig sei; großmütig geht er auf die Betrachtung
ein: nichts ist am Sinn seiner Schlußfolgerung geändert, wenn er,
nachgiebig in Worten, sie so gestaltet: was mit verschiedenen In-
strumenten betrachtet werden muß, wird verschieden vergrößert;
1
— 29 —
aber Nahes und Fernes muß mit verschiedenen Instrumenten be-
trachtet werden: also \Yird Nahes und Fernes durch das Instrument
verschieden vergrößert.
Jetzt, wo ein neuer Wortschwall den Leser betäubt hat, läßt
er in der Tat den Gegner auf den Kern der Sache kommen, ,, streng
mathematisch genommen", sagt Galilei, ist das völlig wahr, aber
das kommt hier nicht in Betracht, denn da für Mond und Sterne
ein Rohr von gleicher Länge verwandt vdrd, so kann die ungleiche
Entfernung nicht die Ursache der ungleichen Vergrößerung sein,
und nun, nach allem seitenlangen Gerede, gibt Grassi zu: es möge
so sein, es möge vielleicht in Wirklichkeit die Vergrößerung von
Mond und Sternen die gleiche sein, aber sie scheine verschieden,
und wenn Galilei das durch die Eigentümlichkeit des Fernrohrs
deute, daß es die leuchtenden Himmelskörper ihres Strahlenhaars
beraube — so sei gerade dadurch als völlig w^ahr erwiesen, daß, sofern
nur alles erwogen wird, was sich aus der Optik ergibt, die Sterne
durch das Fernrohr, wenigstens in der Erscheinung, weniger ver-
größert w^erden als der Mond. Zeige doch Galilei selbst, daß die
Planeten, je näher der Sonne, um so mehr an dem fremdartigen Licht-
schein der selbstleuchtenden Körper teilnehmen, und darum um so
weniger vergrößert erscheinen.
So wird denn schließlich als unbestreitbar erkannt, daß der
Komet von 1618, da er nur sehr wenig vergrößert erschien, um vieles
weiter als der Mond von uns entfernt zu nennen war. Galilei selbst,
so schließt der Gegner triumphierend, sieht nun ein, wie er mit Un-
recht unsere Ansicht über das Fernrohr bekämpft hat, denn er er-
kennt, daß sie der Wahrheit, wie seinen eigenen Ansichten nirgends
widerspricht, er hätte es früher einsehen können, wenn er mit ruhigerem
Sinn geprüft hätte."
So wird die Fiktion, der Verfasser sei im Eecht, in Worten bis
zum Schlüsse durchgeführt, während dem Inhalte nach alles zurück-
genommen ist, was Guiducci bestritten hatte.
Es bedarf keines weiteren Beispiels, um Sarsis „Wage" zu kenn-
zeichnen. Trotz Galileis Irrtum bedeutete im Grunde auch Sarsis
Schrift nur einen weiteren Waffengang in dem Kampf auf Tod und
Leben, den gegen ihn und seine Wissenschaft die Scheinwissenschaft
der Schule zu führen hatte.
Aber für Galileis persönliches Schicksal wird eine neue, ernste
— 30 —
Wendung dieses Streits dadurch bezeichnet, daß die mächtigsten
unter den Gegnern, die Jesuiten, sieh mit offenen Worten die Be-
leidigten nennen und keinen Zweifel darüber lassen, daß sie ent-
schlossen sind, als Feinde zu erwidern, wo sie persönlicher Anfeindung
zu begegnen glaubten. Als Feindseligkeit gegen das Collegium Roma-
num wird die Bekämpfung seines Vertreters betrachtet, man zeiht
Galilei des Undanks, da ihm die gelehrten Väter stets mit Achtung
begegnet seien, ja, ihn ihrer Freundschaft gewürdigt hätten. Man
hält ihm vor, daß in demselben Collegium Romanum, in seiner Gegen-
wart und in ehrenvollster Weise für ihn, öffentlich über die Medicei-
schen Gestirne und das Fernrohr disputiert sei, und ebenso sei an
derselben Stelle mit vollem Beifall seine Lehre von den schwimmenden
Körpern zur Sprache gebracht, ja, als später Grassi erfahren habe,
daß Galilei durch eine Stelle seiner Rede sich gekränkt gefühlt,
habe er sich beeilt, die bestimmteste Versicherung zu erteilen,
daß ihm nichts ferner gelegen habe, als Galilei zu verletzen.
Galilei habe sich für befriedigt erklärt, nun aber zeige er, daß
er lieber, soviel an ihm sei, auf den Freund verzichten wolle, als
auf ein Wort.
So geht ein bitterer, feindseliger Ton durch die Polemik der
„Wage"; es war nur ein leichter Ausbruch des Übelwollens, wenn
Sarsi wie im Vorübergehn das Fernrohr ,,zwar nicht sein Kind, doch
seinen Zögling" nennt. ^ Sarsi wußte, daß er mit diesem Wort Galileis
verwundbare Stelle traf. Ernsterer Art waren seine wiederholten
Hindeutungen auf das Dekret der Index-Kongregation gegen die
copernicanische Lehre; die Absicht, zu provozieren, tritt hier zweifellos
zutage. Diese Äußerungen gewähren uns zugleich eigentümlichen
Aufschluß über die Bedeutung, die dem Dekret von den treuen An-
hängern der Kirche beigemessen wurde. Man betrachtete nicht etwa
die Erörterungen über alle Gegenstände, die mit der Bewegung der
Erde zusammenhängen, als ein unzugängliches Gebiet, die kirchhche
Entscheidung wird vielmehr als ein Bew^eis wie jeder andere in die
Erörterung eingeführt; was ohne die Bewegung der Erde nicht zu
erklären ist, gilt bei Sarsi schon dadurch für widerlegt, für unmöghch
in demselben Sinne, wie eine Behauptung, die mit Grundlehren der
Logik und der Mathematik im Widerspruch steht.
1 Ed. Naz. VI p. 127.
— al-
so rechtfertigt er seinen Lehrer gegen Giiiduccis Vorwurf, daß
er die Möglichkeit einer geradlinigen Bewegung der Kometen gar
nicht in Betracht gezogen; niemand habe bisher eine solche Annahme
zur Sprache gebracht außer Kepler. Der aber müsse, um durch seine
Theorie alle Erscheinungen zu erklären, die Bewegung der Erde zu Hilfe
nehmen. Dies sei den Katholiken in keiner Weise gestattet, und deshalb
habe er geglaubt, eine Meinung als unrichtig betrachten zu müssen,
die man mit frommem und heiligem Sinne nicht vertreten könne, ^
Daß Sarsi die Gelegenheit sucht, die Rede auf Copernicus zu
bringen, sieht man gleich anfangs. Guiducci hat bemerkt, der Redner
des CoUegium Romanum sei in allen Dingen mit Tycho einverstanden.
Er denkt dabei an nichts weniger als an Tycho Brahes Weltsystem,
aber Sarsi paßt es, die Worte so zu wenden. Er leugnet zwar, daß
irgendetwas außer der Ortsbestimmung der Kometen in jener Rede
tychonisch sei, aber es sei, ruft er, angenommen, er hätte dem Tycho
zugestimmt. ,,Was für ein Verbrechen wäre das? Wem sonst soUte
er sich anschließen? Dem Ptolemäus? Dessen Anhängern der Mars,
seit er uns so viel näher gerückt ist, das Messer an die Kehle setzt?
Dem Copernicus? Aber wer religiös ist, ^vi^d vielmehr von ihm sich
abzuwenden suchen und wird die kürzlich verdammte Hypothese
gleichermaßen verdammen und verwerfen. So bliebe von allen Tycho
übrig, den man zum Führer durch die unbekannten Bahnen der
Gestirne wählen könnte. Warum also ereifert sich Galilei ^^•ider
meinen Lehrer, daß er ihn nicht verschmäht?" -
Fand Sarsi es für seine Zwecke nützlich, in so willkürlicher IVIiß-
deutung Vorv^iirf und Zorn zu verdichten, so konnte er sich um so
weniger die Verdächtigung entgehen lassen, die ihm der Gegner in
einer Art von Selbstanklage arglos dargeboten hatte.
Bei der Erörterung der geradlinigen Bewegung, die Galilei dem
Kometen zuschreibt, hatte Guiducci hinzugefügt, daß auf diese Weise
eine stete Annäherung an das Zenith erfolgen müsse; um die tat-
sächlich beobachtete Abweichung des Kometen nach Xorden zu
erklären, sei entweder eine weitere Ursache hinzuzunehmen oder
eine ganz andere Erklärung aufzustellen. ,,Das letztere zu tun, ver-
mag er nicht, das erstere wagt er nicht." ^
1 Ed. Naz. VI p. 119f.
- Ed. Naz. VI p. 116.
3 Ed. Naz. VI p. 146.
— 32 —
Deutlich genug weisen die Worte auf eine Mitwirkung der Erd-
bewegung, aber Guiducci beseitigt jeden Zweifel über die Absicht,
wenn er fortfährt:^ „Schon Seneca hat erkannt, und geschrieben,
wie wichtig für die sichere Bestimraung dieser Dinge es wäre, eine
zuverlässige und zweifellose Kenntnis der Anordnung und Folge
der Zustände und Bewegungen der Weltkörper zu besitzen; eine
solche ist unserem Zeitalter vorenthalten, deshalb müssen wir uns
mit dem wenigen begnügen, was wir so im Dunkeln mutmaßen
können, bis uns die wahre Konstitution der Teile der Welt kund-
getan wird, denn die uns Tycho versprochen, ist unausgeführt ge-
bheben."
Ivlar genug sagen die Worte: w könnten copernicanisch er-
klären, wenn wir dürften, aber wii* erkennen an, daß war nicht dürfen —
das war die Sprache, in der die Copernicaner ihre Unterwerfung
unter das Dekret bekundeten. Aber die Kirche forderte den Verzicht
nicht nur auf Äußerungen, sondern auf die Überzeugung selbst, die
sie verdammt hatte. Es konnte Sarsi nicht schwer sein, den ver-
botenen Glauben hinter den gehorsamen Worten zu entdecken. „Es
ist doch zu ver\\^mdern", schreibt er, „daß ein offener und durchaus
nicht ängstlicher Mensch plötzlich von solcher Furcht befallen wird,
daß er nicht wagt, das Wort, das er im Sinne hat, vorzubringen.
Ich aber habe nicht das Talent, zu raten — ich frage also, ob diese
weitere Bewegung — Guiducci hat freilich nur von weiterer Ursache
geredet — durch die er trefflich alles erklären könnte und die er
nicht vorzubringen wagt, seinem kometarischen Dunst zukommen
soll oder einem andern Etwas, dessen Bewegung nachher den Schein
einer Bewegung des Kometen hervorruft."^
Sarsi kann diesen andern Körper nicht finden, „denn da es für
Galilei keine ptolemäischen Himmelskreise gibt, da nach seinem
System im Himmel nichts Festes sich findet, so wird er nicht glauben,
daß der Komet durch die Bewegung jener Kreise Bewegungen an-
nehme, die nach seiner Meinung nirgends zu finden sind. Aber da
höre ich eine Stimme leise und schüchtern mir ins Ohr flüstern —
die Bewegung der Erde. Hebe dich von mir, du Wort, der Wahrheit
fremd, und frommen Ohren hart. Wahrlich, Vorsicht war's, es mit
1 Ed. Naz. VI p. 98f.
- Ed. Naz. VI p. 145.
— 33 —
verhaltener Stimme zu flüstern; aber stände die Sache so, so wäre
es um Galileis Meinung geschehen, die auf keinem andern Grunde
ruhte, als auf diesem falschen. Denn wenn die Erde sich nicht be-
wegt, so stimmt diese geradlinige Bewegung mit den Beobachtungen
des Kometen nicht, aber daß die Erde sich nicht bewegt, ist bei den
Katholiken gewiß; es wird also ebenso gewiß sein, daß diese gerad-
linige BevN'egung mit den Kometenbeobachtungen durchaus nicht im
Einklang und deshalb nicht tauglich ist, unsere Sache zu entscheiden;
auch glaube ich, schließt er mit heuchlerischer IVIiene, daß solches
nie Galilei in den Sinn gekommen, denn ich habe ihn immer als fromm
und religiös gekannt."^
Kaum vier Jahre waren seit der Denunziation der Dominikaner
verflossen, und schon hören wir von neuem Lorinis treuherzige Weise :
fern sei es von mir, daß ich sie nicht für gute Christen hielte. An-
deuten wollte Grassi wenigstens, über welche Waffen man für den
weiteren Streit zu gebieten hatte. Vorläufig genügte der literarische
Triumph; daß Galilei durch seinen Gegner „vernichtet" sei, galt
unter den Jesuiten für ausgemacht; sie verkündeten es laut, niemand
bemühte sich, zu verheimlichen, daß die ,,Wage" aus dem Collegium
Romanum konmie, daß Sarsi und Grassi dieselbe Person sei. Un-
mittelbar nach dem Erscheinen (Oktober 1619) überbrachte Grassi
selbst seine Schrift dem Giovanni CiampoH"^, den er als Galileis Ver-
ehrer kannte, er sagte ihm, er habe seine Gründe vorgetragen, so
gut er gekonnt, habe jedoch stets ehrenvoll von Galilei geredet.
Von solcher persönlichen Rücksicht konnten allerdings die Leser
der jjWage" nicht viel gewahren, vielmehr erregten der anmaßende
Ton, die boshaften Spaße der Schrift den lebhaftesten Unwillen bei
allen, die auf Galileis Seite standen. Galilei selbst war überrascht,
die Unwissenheit und Unwahrheit des Gegners befremdete ihn in
gleichem Maße wie die feindselige Haltung, er konnte sich kaum
entschließen, Ciampolis Versicherungen zu glauben, daß wirklich
Grassi der Verfasser sei.
Daß eine Erwiderung auf die „Wage" unerläßlich war, begriff
ein jeder. Es handelte sich nicht nur um einen wissenschaftlichen
Streit, um eine Abwehr sophistischer Angriffe — es war durch Grassis
1 Ed. Naz. VI p. 145f.
- Ed. Naz. XII p. 494f.
Wohlwill, Galilei. II.
— 34 —
Schrift vor allem Guiducci enipfindlich beleidigt, mit ihm die Floren-
tiner Akademie, in deren Namen er gesprochen hatte, nnd die Aka-
demie der Lyncei. der er gleichfalls angehörte, die letztere überdies
durch ein mutwilliges Spielen mit ihrem Namen, das um der Ehre
willen nicht ungeahndet bleiben durfte. Diese Schrift unbeantwortet
lassen wäre für Freund und Feind mit einem Zugeständnis der Nieder-
lage gleichbedeutend gewesen, und als unterliegenden Teil hätte man
nach allen vorausgegangenen Kämpfen nicht mehr Galilei allein,
sondern „die neue Wissenschaft", als Sieger im Streit nicht Grassi,
sondern die Schulwissenschaft und das Collegium Romanum be-
trachten müssen. So wurde auch die Erwiderung als gemeinsame
Angelegenheit von den Gesinnungsgenossen in Rom und Florenz
nach allen Richtungen erwogen und erörtert, mit lebhaftestem Eifer
insbesondere im Ki'eis der Lyncei in Rom; wieder waren es hier die
drei: Fürst Cesi, Ciampoli und Virginio Cesarini, die durch
die Liebe zu Galilei zusammengeführt, als treue Verbündete für ihn
und mit ihm ratschlagten, was im Namen der Wissenschaft und der
persönhchen Ehre geschehen müsse und ohne Gefahr geschehen
könne. Denn darüber war man einig, daß den Jesuiten gegenüber
Vorsicht angebracht sei; „sie könnten einer Welt zu schaffen machen",
schrieb Francesco Stelluti^ in der gleichen Sache an Galilei; es
galt, den ungebührhchen Angriff zurückzuweisen, ohne den reiz-
baren Gegner zum unversöhnlichen Feind zu machen.
Anfangs schien es den Freunden am richtigsten, wenn Gahlei
in Person dem ganzen Streite fremd bhebe, habe Grassi, der Meister,
statt seiner den Schüler reden lassen, so sei es nun seiner Würde
gemäß, wenn auch er dem Schüler die Entgegnung übertrage. Wolle
aber Gahlei persönhch in die Schranken treten, so sei es richtig,
nicht einer Maske zu antworten, sondern diese Antwort an einen
Dritten, wenn auch nur der Form nach, zu richten. Galilei war mit
dem letzteren einverstanden, dagegen fand er es unerläßlich, die
Zurückweisung des Jesuiten selbst zu übernehmen. Als bald nach
dem Erscheinen der Wage Guiducci der Ehre wegen eine kürzere
Erwiderung veröffenthchte, durfte er bereits auf „einen von höherem
Wert" verweisen, der demnächst vollständig sagen werde, was er
nur andeute. Diese Erwiderung Guiduccis zeigt zur Genüge, daß
1 Ed. Naz. XIII p. 20—21, 30—31.
— 35 —
er nicht der Mann war, statt Galilei einen Gegner von Grassis Schlappe
abzutun. Schon daß er es angemessen fand, seine Auslassungen in
die Form eines Schreibens an den P. Tarquinio Galluzzi^ den
Ordensgenossen des P. Grassi zu bringen, läßt eine kräftige Abwehr
nicht erwarten. Der Inhalt entspricht dieser Form im vollsten Maße.
Guiducci war selbst Schüler des Jesuitenkollegiunis, er bekennt, daß
es ihn aufs tiefste schmerzen würde, wenn er einsehen müßte, daß
er durch allzu freie Äußerungen den Verdacht habe hervorrufen
können, daß ihm nicht das Ansehen und die Würde des Collegium
liomanum am Herzen liege, in dem er mit unglaublicher und wahr-
haft väterlicher Liebe viele Jahre lang von Kindheit an erzogen und
in den erhabensten Wissenschaften unterrichtet sei. Sein Brief will
vor allem diesen Vorwurf zurückweisen; er beruft sich zu seiner Ver-
teidigung darauf, daß er die Kede, die er als Konsul der Florentiner
Akademie gehalten, zuvor verschiedenen einsichtigen Männern und
insbesondere auch solchen, die mit den Vätern der Gesellschaft Jesu
in naher Beziehung stehen, zur Prüfung vorgelegt und ihnen volle
Freiheit gegeben habe, nach Belieben zu beseitigen, was vielleicht
Verletzendes darin enthalten sei; doch habe man nichts der Art darin
gefunden. Er finde noch jetzt nichts, was die Vorwürfe Sarsis recht-
fertige, wenn man nicht etwa schon das als Beleidigung betrachten
wolle, daß er wage, von den Ansichten des P. Grassi abzuweichen.
Darüber aber habe ihn schon vor längerer Zeit der ehrwürdige Pater,
an den er schreibt, belehrt; er habe ihm erklärt: es stehe in bezug
auf solche Gegenstände einem jeden frei, dieser oder jener Meinung
zu sein, und kein vernünftiger Mensch könne es deshalb übel auf-
nehmen, wenn er von der Lehre des P. Grassi abweiche, sofern nur
nicht die Grenzen des Disputierens überschritten würden; dieser
letzteren Warnung sei er eingedenk gewesen.
Er scheint sie auch weiter, im zweiten Teil seine? Schreibens,
der sich gegen Sarsi wendet, gewissenhaft vor Augen zu halten. In
ziemlich breiter Ausführung erklärt er, vde wenig Sarsis gering-
schätzige Deutung der Absicht entspreche, in der er selbst das Ver-
hältnis des guten Kopisten Galilei gegenüber in Anspruch genommen
habe, wie Sarsi willkürHch auf die ganze Schrift beziehe, was nur
auf Galileis eigentümliche Theorie Bezug habe; daß Galilei selbst
1 Ed. Naz. VI p. 6, 8, 183—196.
— se-
in seinen Briefen sich als Autor der Rede über die Kometen bekannt
habe, darf er in Abrede stellen, denn Galilei leugnet, was Sarsi be-
hauptet. Von dem eigentlichen Inhalt der „Wage" hebt Guiducci
nur wenige Punkte hervor, in denen Sarsi Äußerungen seiner Rede
willkürUch entstellt, und in dieser entstellten Form mit Eifer be-
kämpft, und einige andere, in denen ihm die Widerlegung seiner
Behauptungen durch Versuche und Beweise keineswegs genügend
erscheint. Er will nur in diesen Einzelheiten den Irrtum andeuten,
für das Übrige verweist er auf die gründlichere Prüfung, die man von
Galilei zu erwarten habe.
Guiduccis Urteil ist in diesen letzten Abschnitten bei aller
Mäßigung in der Form entschieden und scharf gefaßt, aber weder
diese Schärfe, noch die zarte Ironie, die über dem ganzen Schreiben
liegt, kommen dem stärkeren Eindruck gegenüber in Betracht, daß
der Respekt vor den Jesuiten den Vertreter der freien Wissen-
schaft beherrscht. Guiducci selbst scheint das Bedürfnis empfunden
zu haben, sich durch vertrauliche Bosheit von den öffentlichen Re-
verenzen zu erholen. In dem Brief, mit dem er seine Erwiderung
dem Fürsten Cesi übersendet\ meint er, er habe dem Herrn Grassi
einen wahren Dienst er^^^esen, daß er mit Sarsi angebunden, statt
sein Anagramm zu lösen (aus Lotario Sarsi Sigensano den Horatio
Grassi Salonensi zu enthüllen), da sich aus dieser Lösung klar genug
das Urteil über den Geist seiner Schrift entnehmen lasse, wenn man
sage: der Herr Grassi sei wie von Salons Blut, so auch von salonen-
sischer Gelehrsamkeit und Wissenschaft; von Salon erzähle näTuüch
Strabo in seiner Geographie: es sei ein Bezirk Bithyniens, wohl-
geeignet zur Ochsenzucht.
Guiduccis Brief an den P. Galluzzi fand, wie es scheint, nur
wenig Beachtung, nicht größeren Eindruck machte vermutlich eine
andere Entgegnung, in der G. B. Stelluti, ^ie berichtet wird, in
breiter scholastischer Form für Guiducci einzutreten versuchte.^
Auch hier mrd auf Galilei verwiesen. Der Herausgeber spricht im
Vorwort die Hoffnung aus: Die kurzen Andeutungen dieser Schrift
werden für Galilei eine Mahnung und ein Sporn zur Vollendung des
umfassenden Werks über denselben Gegenstand sein, dem der Ver-
1 Ed. Naz. XIII p. 41.
2 Gedruckt 1622 unter dem Titel „Scandaglio sopra la Libra astro-
nomicae filosofica di Lotario Sarsi".
- 37 —
fasser mit dem lebhaftesten Verlangen entgegensehe, mit ihm alle
diejenigen, die ohne Leidenschaft die AVahrheit zu erkennen streben.
Galilei hatte sich mittlerweile dafür entschieden \ seine Antwort
an den Freund Virginio Cesarini zu richten. Cesarini nahm das
Anerbieten als unschätzbare Ehre an. Einen Augenblick hatte Cesi
für denselben Zweck P. Grienberger ins Auge gefaßt; es schien ein
vortreffliches Mittel, den Zorn des Collegium Romanum zu be-
schwören, wenn man von dem schlechten an den besseren Gelehrten
des Ordens appellierte, aber Ciampoli meinte, man dürfe dem armen
Pater nicht die Unannehmlichkeiten bereiten, die ihm daraus hervor-
gehen müßten. Die Wahl Cesarinis empfahl sich durch das nahe
Verhältnis, in dem Virginio und sein Haus zu den römischen Jesuiten
standen; vor seinen Augen hatte P. Grassi die Versuche angestellt^,
durch die er den Aristoteles gegen Galilei zu rechtfertigen glaubte;
die „Wage" nennt seinen Xamen mit den schmeichelhaftesten Bei-
wörtern; niemand schien besser geeignet, eine Art Vermittlerrolle
zu übernehmen.^
Die Freunde wünschten jedoch den Schutz, den dieser befreun-
dete Mann verhieß, durch vorsichtig abwehrende Bemerkungen zu
verstärken. Sie hielten es für unmöglich, wie Galilei gedacht hatte,
kurzweg nicht wissen oder nicht glauben zu wollen, daß die ,,Wage"
von einem der Gesellschaft Jesu geschrieben sei, die Jesuiten hätten
kein Geheimnis daraus gemacht, sondern sich öffentlich dessen ge-
rühmt und Viktoria gesungen; so sei es gar zu unwahrscheinlich,
daß allein von allen Galilei, den es am meisten anging, nichts davon
erfahren haben sollte. Dagegen entwarf Ciampoli als gewandter
Hofmann den Plan eines Vorworts, das Galilei nach seiner Weise
bearbeiten könne.* Galilei — sollte es darin heißen — habe vor
einigen Monaten gehört, daß von den Jesuitenvätern ein Buch gegen
ihn geschrieben werde. Auf diese Weise, meinte Ciampoli, könne
man den Vätern seine Ehrfurcht beweisen, ohne auf die Verteidigung
zu verzichten.
Galileis Antwort auf diesen Vorschlag ist nicht bekannt, aber
aus der Schrift gegen Sarsi entnehmen wir, daß Ciampolis Vorwort
1 Ed. Naz. XIII p. 98.
■ Ed. Naz. VI p. 157, 474.
■■ Ed. Naz. VI p. 199, 213.
* Ed. Naz. III p. 809—860.
— 3S —
nicht seinen Beifall gefunden hat, — seiner ursprünglichen Absicht
getreu, ließ er unerwähnt, daß ihm von dem Verfasser und seinen
Beziehungen das geringste bekannt sei.
Manches wirkte zusammen, um die Veröffentlichung der längst
angekündigten Schrift zu verzögern; ernstere Krankheitsanfälle
unterbrachen in jenen Jahren zu wiederholten Malen Galileis Tätig-
keit; diese immer wiederkehrenden Leiden hatten ihn schon im
jN'ovember 1619 genötigt, die Fortsetzung seiner Lieblingsarbeit,
die Beobachtung der Jupiterstrabanten aufzugeben; sie erschwerten
ihm doppelt die undankbare Polemik gegen Grassi^; dazu kam, daß
ihm der Stoff unter den Händen \mchs, die Fülle der Gegen-
stände, die er teils kritisch zu zergliedern, teils lehrend vorzutragen
nötig fand, erweiterte ihm gegen seine Absicht den Brief zu einem
umfangreichen Buch.
In Rom vernuitete man, vielleicht nicht ohne Grund, daß der
Überdruß am Streit mit dem untergeordneten Gegner Galilei zeit-
weilig veranlaßte, die Vollendung hinauszuschieben; auf der anderen
Seite deuteten die Gegner sein Schweigen in ihrem Sinn und sprachen
um so zuversichtlicher von ihrem Siege. So wiederholten sich immer
von neuem die dringenden Bitten, die Mahnungen der Freunde und
Akademiegenossen, Galilei möge, was um seines Namens willen über-
flüssig sei, lun ihretwillen nicht aufgeben und nicht länger verzögern,
wenn ihm der erw^orbene Ruhm genüge, so möge er doch der Welt
nicht seines Geistes Schätze vorenthalten. Erst im Oktober 1622,
drei Jahre nach dem Erscheinen der „Wage", sandte Galilei- sein
Manuskript nach Rom. „Entschuldigt meine Langsamkeit", schrieb
er dabei, „ich habe nicht anders gekonnt". Der Abrede gemäß war
die Schrift in die Form eines Briefes an Virg. Cesarini gekleidet.^
Überdies hatte Galilei ihr den Titel „II Saggiatore", Probier- oder
Goldwage, gegeben; er w^ollte in der Metapher des Gegners bleiben,
aber dabei ausdrücken, daß Sarsi, als er die Behauptungen Guiduccis
auf ihr Gewicht geprüft, „sich einer etwas zu groben Wage bedient
habe", er woUe sich zum gleichen Zweck ,, einer Wage der Probierer
bedienen, die genau genug ist, um weniger als den sechzigsten Teil
eines Gramms anzuzeiffen". Nach Galileis Wunsch sollte die Hand-
1 Ed. Naz. XVIII p. 423—425; XII p. 421, 422, 435, 438, 439, 443,
461, 471.
2 Ed. Naz. XIII p. 80, 90, 98.
— 39 —
Schrift zunächst von säiiitliclieii Mitgliedern der Akademie geprüft
und es sollte von jedem bezeichnet ^Yerden, \Yas er gemäßigt, geändert
oder verschwiegen wünsche.^ Sie fanden nur Treffliches zu rühmen;
nur die näheren Freunde gestatteten sich in aller Bescheidenheit,
auf geringfügige Einzelheiten hinzudeuten, die ihnen zu scharf gefaßt
oder sonst bedenklich schienen. Man beschloß, das Werk auf Kosten
der Akademie zu veröffentlichen, und zwar in Rom, „der Macht
der Gegner zum Trotz". Man wollte, daß im Angesicht der Kirche,
vor den Augen der Kongregation, die den Copernicus verurteilt hatte,
Galileis Lehre approbiert und damit den neuen wissenschaftlichen
Ansichten Beifall gezollt werde, gerade jenem Collegium Romanum
gegenüber, in dem noch im Anfang des letzten Studienjahres öffent-
lich gegen die Neuerer gedonnert und in langer Rede dargelegt war,
daß außer im Aristoteles keine Wahrheit zu finden sei,
„Wir werden uns", schreibt Cesarini^, „gegen diese Gegner
mit dem Schüd der Wahrheit bewaffnen und überdies mit der Gunst
der Oberen." In der letzteren lag ohne Zweifel der wirksamere Schutz
gegen die Intriguen, durch die man von gegnerischer Seite die Ver-
öffentlichung zu hintertreiben suchte. Kaum war von Florenz aus
die Nachlicht gekommen, daß eine Schrift gegen Sarsi vollendet und
nach Rom gesandt sei, als vom Collegium Romanum aus der Versuch
gemacht wurde, in den Besitz des Manuskripts zu gelangen; man trug
kein Bedenken, es Cesarini abzufordern. Cesarini \\'iderstand dem
Andringen der Jesuiten; er wußte, daß, wenn sie das Buch einmal
in Händen hatten, sie die Wirkung auf die Leser voraussehen und den
Druck unmögKch machen würden; hatte doch schon die Kunde, daß
seine Antwort da sei, bei der Schar der Durchschnittsgelehrten, die
bis dahin Grassis Triumph gesungen hatten, eine Umstimmung zur
Folge gehabt.
Cesarini fand die höchste Vorsicht um so mehr geraten, als
gerade damals von neuem Äußerungen des alten Übelwollens gegen
Galilei laut geworden waren. In jenen Tagen war Campanellas
in Deutschland gedruckte Apologie^ nach Rom gekommen; alsbald
wurde dem Dekret der Indexkongregation gemäß der Verkauf ver-
hindert. Man fand die Gelegenheit günstig, von neuem Verdäch-
1 Ed. Naz. XIII p. 80, 90, 98.
2 Ed. Naz. XIII p. 103, 105.
3 Ed. Naz. XIII p. 106.
— 40 —
tigungen gegen den Mann zu verbreiten, zu dessen Gunsten diese
Apologie geschrieben war. Cesarini durfte Galilei durch die Ver-
sicherung beruliigen, es fehle ihm nicht an Freunden und Beschützern
gegen die Verleumdungen, die seine Unterwerfung unter das Dekret
der Index-Kongregation in Frage zu stellen suchten.
Demnach fand er es angemessen, den Druck des Werks, das
schon vor dem Erscheinen die Gemüter so lebhaft in Anspruch nahm,
aufs möglichste zu beschleunigen. — Seine Bemühungen \vurden
wesentlich durch die wohlwollenden Gesinnungen des Zensors der
Inquisition erleichtert. Als solcher fungierte der Pater Kiccolo
Riccardi vom Dominikanerorden, vom König von Spanien mit
dem Beinamen Padre Moströ (^Vunder der Gelehrsamkeit) beehrt.
Mag dieser Name seinen Leistungen und Kenntnissen auf anderm
Gebiet gegolten haben — Galilei gegenüber bewährte sich Riccardi
als ein edelgesinnter Beschützer der freien Wissenschaft. Die Schrift
gegen Sarsi erfüllte ihn mit Bewunderung; als er sie zu Ende gelesen,
soll er mit den Worten des Julianus Apostata „vicisti Galilaee" Galilei
den Sieg über seinen Gegner zuerkannt haben. Die Erlaubnis zum
Dnick erteilte er in Ausdiiicken, die bei solcher Gelegenheit nicht oft
gehört wurden^: ,,Ich habe", schreibt er, „auf Befehl des hoch-
zuverehrenden P. Maestro del sacro Palazzo dieses Werk ,n Saggia-
tore' gelesen: nicht nur, daß ich nichts darin bemerke, was gegen
die guten Sitten wäre oder sich von der übernatürhchen Wahrheit
unseres Glaubens entfernte, habe ich vielmehr darin so viele schöne
Betrachtungen über die Naturphilosophie gefunden, daß ich glaube,
daß unser Jahrhundert sich dereinst nicht nur A^ird rühmen dürfen,
der Erbe der mühevollen Arbeit dahingegangener Philosophen zu sein,
sondern daß es der Entdecker vieler Geheimnisse der Natur sei, die
jene nicht enträtseln konnten, und das dank der feinsinnigen und
gediegenen Spekulation des Autors, in dessen Zeit geboren zu sein
ich mich glücklich schätze, da man das Gold der Wahrheit nicht
mehr gröbhch mit der Marktwage wog, sondern mit der feinsten
Goldwage zu wiegen begann."
Riccardi knüpfte mit diesen schmeichelhaften Worten frühere Be-
ziehungen zu Galilei von neuem an ; unmittelbar darauf gab ihm eine
Reise nach Florenz Gelegenheit, dem Manne, zu dessen Verehrern
1 Ed. Naz. VI p. 200.
— 41 —
er sich seit längerer Zeit zählte, persönlich nahezutreten. Auf seinen
Wunsch führte ihn Cesarini als seinen Freund und einen Mann, der
wohl verdiene, von Galilei gekannt zu werden, bei dem Freunde ein.^
So gestaltete sich ein Verhältnis, das für beide Männer bald genug
eine verhängnisvolle Bedeutung gewinnen sollte.
Neben der Gunst des Zensors war es in jenen Tagen für Galilei
von nicht geringem Werte, daß seine nächsten Freunde durch ihre
Stellung am päpstlichen Hofe in hohem Ansehen standen 2; seit
mehreren Jahren war Ciampoli zum Segretario de' Brevi befördert,
jetzt ernannte Gregor XV. auch Virginio Cesarini zu seinem geheimen
Kammerherrn.
In welcher Weise diese Persönlichkeiten beim Papste für Galilei
eintraten, darüber belehrt uns ein Brief Ciampolis vom 27. Mai 1623,^
Er berichtet, daß er die beiden ersten Bogen des Saggiatore gelesen.
,, Heute Abend habe ich in einer sehr langen Audienz bei unserem
Herrn vielleicht mehr als eine halbe Stunde Ihre ausgezeichneten
Eigenschaften geschildert, was er sehr gern gehört hat. Wenn Sie
zu jenen Zeiten (gemeint sind die Jahre 1616—17) hier die Freunde
gehabt hätten, die jetzt da sind, so wäre es vielleicht nicht nötig,
allerlei Mittel zu ersinnen, um jene bewunderungswürdigen Gedanken,
durch welche Sie unsere Zeit erleuchtet haben, wenigstens als philo-
sophische Poesien der Vergessenheit zu entreißen."
Es bedurfte dieser Vorteile, um den gewandten und mächtigen
Feinden gegenüber selbst nur zum Worte zu gelangen. Auch jetzt
noch verschmähte man das alte IVIittel nicht, als wahr auszugeben,
was man hoffnungslos wünschte, es mußten die ersten Druckbogen
nach Florenz gesandt werden, damit Galilei den dortigen Gegnern
beweisen könne: die Inquisition habe \\irklich den Druck gestattet.
Nachdem diese Erlaubnis erlangt war, trat kein anderes Hindernis der
Veröffentlichung entgegen. Indessen verfloß noch ein viertes Jahr nach
dem Erscheinen der „Wage", bis Horatio Grassi die vielbesprochene
Antwort Galileis aus dem römischen Buchhändlerladen empfing.*
Mit der ,, Goldwage" schließt Galilei eine längere Pause in seiner
schriftstellerischen Tätigkeit ab. Einleitend erzählt er, ^^^e das
1 Ed. Naz. XIII p. 109.
- Ed. Naz. XIII p. 69.
3 Ed. Naz. XIII p. 117f.
♦ Ed. Naz. XIII p. 145.
— 42 —
vielfache Übelwollen, dem seine Schriften von der ersten bis zur
letzten ausgesetzt gewesen seien, die Anfeindungen, Verdächtigungen
und Beraubungen, die er erfahren, wo er Verdienstliches zu leisten,
oder doch wenigstens verdienstlichen Absichten zu folgen glaubte, in
ihm den Entschluß zur Reife gebracht hätten, fernerhin durch
Schweigen den Übelgesinnten die Gelegenheit zu nehmen, ihre bösen
Talente an ihm zu üben; so wenig es ihm an Stoff gefehlt habe, andere
Werke zu veröffentlichen, die vielleicht nicht weniger als die früheren
unerwartete und für die Xaturlehre folgenreiche Ergebnisse zutage
gefördert hätten, so habe er doch jener schlimmen Erfahrungen wegen
vorgezogen, seine Gedanken in einem Kreise von Männern, die ihm
als wahre und aufrichtige Freunde ergeben seien, mitzuteilen und zu
besprechen. Wie sehr die Freunde bemüht gewesen, durch gute
Gründe ihn in seinem Entschlüsse schwankend zu machen, so habe
doch das Verlangen, in Ruhe und ohne Streit zu leben, für ihn den
Ausschlag gegeben. Aber er sehe jetzt, wie er auch durch Schweigen
seinem Geschicke nicht entgehen könne; denn da er geschwiegen,
sei man, da man ihm durchaus etwas anhaben wollte, darauf ver-
fallen, die Schriften anderer als die seinen auszugeben. So habe
Lotario Sarsi, eine völlig unbekannte Person, in der Rede des Mario
Guiducci die Veranlassung gefunden, sich gegen ihn zu wenden und
ohne Achtung gegen einen Mann von Guiduccis Ansehen ihn zum
Verfasser dieser Rede zu machen, an der ihm nichts gehöre, als die
Anerkemiung und Ehre, die ihm Guiducci dadurch erwiesen habe,
daß er seiner Meinung, die er in jenen freundschaftlichen Unter-
redungen kennen gelernt, seine Zustimmung gebe. Selbst wenn die
ganze Schrift über die Kometen von seiner Hand wäre — was niemand
in den Sinn kommen könnte, dem der Herr Mario bekannt ist — ,
wie sollte man das Benehmen dieses Sarsi bezeichnen, der so ver-
wegen sein Gesicht enthüllt und die Maske abzieht? Dies unerwartete
und völlig ungewöhnliche Verfahren nötige ihn, dem gefaßten Ent-
schlüsse, sich mit seinen Schriften nicht mehr öffentlich sehen zu
lassen, ungetreu zu werden, er wolle das Seine tun, daß wenigstens
das Ungebührliche einer solchen Handlungsweise nicht unerkannt
bleibe, und er hoffe, dadurch andern Leuten die Lust zu nehmen —
wie man zu sagen pflegt — „den schlafenden Hund zu stören."
So tritt denn Galilei als Guiduccis Verteidiger Sarsi gegenüber.
Wer dieser Lotario Sarsi sei, soll unerörtert bleiben, allerdings betrachtet
— 43 —
Galilei ihn als Maske, aber er hält es für kein nachahmenswertes Ver-
fahren, den Leuten die Maske abzureißen; er nehme an, sagt er, daß
bei seinem Gegner die xVbsicht der Verhülhmg nur die sei, ihn zu
freimütiger Erwiderung zu veranlassen, denn außer denen, die durch
die Maske ihren niederen Stand verdecken wollen, pflegen auch
Leute von Stand sich ihrer zu bedienen, wenn sie unter Verzicht auf
die besondere Achtung, die ihrem Range gebührt, sich der Freiheit
erfreuen wollen, mit jedermann auf gleichem Fuße zu verkehren;
zu diesen glaube er auch denjenigen rechnen zu müssen, der sich
unter der Maske eines Lotario Sarsi verberge, und wie er unerkannt
sich Äußerungen gegen ihn gestattet habe, deren er sich vielleicht
bei offenem Antlitz enthalten hätte, so, meint Galilei, dürfe es ihm
nicht unbequem sein, wenn auch er sich gegen ihn der Freiheit bediene,
die im Verkehr mit Masken üblich sei, und er besorge nicht, daß
Sarsi oder Andere Worte auf die Wage legen würden, in denen er sich
vielleicht freier, als ihnen lieb ist, äußere.^
So schreibt Galilei mit Maskenfreiheit gegen die Maske; auch
die Scheidung zwischen Grassi, dem Lehrer, und Sarsi, dem Schüler,
erkennt er vollständig an und verwertet sie nach seiner Weise; oft
genug findet er den Schüler eines ehrwürdigen Lehrers gänzlich un-
würdig, dann und wann kann er die Ähnlichkeit in den großen Ab-
surditäten Beider nicht verkennen.
„Die Goldwage", die Galilei mit diesen Vorbemerkungen ein-
leitet, gehört zu seinen umfangreichsten Schiiften; an dauerndem
Ge\vinn für die Wissenschaft ist sie vielleicht die ärmste; aber ihr
Wert ist nicht auf den Gehalt an neuen Wahrheiten beschränkt.
Die neue Kometenlehre war in Guiduccis Discorso erschöpfend dar-
gelegt, sie weiter zu begründen und gegen ernste Widersprüche zu
verteidigen, hätte ein ungleich geringerer Aufwand an schriftstelle-
rischen Mtteln genügt; man findet in der Tat diese Ausführungen
im Saggiatore, aber sie stehen als Gegenstand des Buches erst in
zweiter Linie, seine wesentliche Absicht war eine polemische: der
Streit wider den Peripatetiker Horatio Grassi. Daß um eines solchen
Gegners willen ein solches Buch geschrieben wurde, daß Galilei drei
Jahre seines schriftstellerischen AVirkens auf diese Aufgabe ver-
1 Ed. Naz. VI p. 219f.
— 44 —
wenden konnte, vergegenwärtigt uns den eigentümlichen Übergangs-
zustand der Wissenschaft in jenen Tagen: Für gelehrte Leser war
die Grenzlinie nicht vorhanden, die die Dispntierübungen eines Grassi
von der ernsten Wissenschaft trennt. Aber unter Galileis Händen
mußte die Widerlegung des Gegners, je gründlicher sie war, um so
sicherer auf die Darlegung dieser Grenze hinauskommen; er konnte
Sarsis Beweise nicht zergliedern, ohne zugleich in ihrem innersten
Wesen die scholastische Methode zu treffen. Wuchs auf diese Weise
das Buch weit über die unmittelbare Veranlassung hinaus, so liegt
doch lastend über seinen Blättern das Gefühl, die Geisteskraft an einen
unwürdigen Gegenstand verschwendet zu haben. Überdies ent-
ledigte sich Galilei seiner Aufgabe in einer Form, die immer wieder-
kehrende Äußerungen dieser peinlichen Empfindung unvermeidlich
machte. Satz für Satz und Wort für Wort unterwarf er seiner strengen
Wägung, und Trugschluß auf Trugschluß war, was sie auswies; immer
von neuem galt es, zu widerlegen, was ohne Ernst behauptet war,
IVIißdeutungen, Vorwürfe von sich zu weisen, die der Gegner nur
zum Schein vertrat und doch so vertrat, daß er den Unkundigen
täuschte und darum wider Willen zur Abwehr nötigte.
Galilei verfolgte den Gegner bis in die letzten Schlupfwinkel
seiner trügerischen Kunst. Er beschränkte sich nicht darauf, in ihrer
]S^ichtigkeit die Methode zu enthüllen, die ein Gebäude von Schlüssen
auf nie erwiesenen allgemeinen Sätzen aufführt und im logischen
Ergebnis wissenschaftliche Wahrheiten zu erringen vorgibt; er konnte
sich nicht versagen, den selbstgefälligen Kiitiker, der mit „Verstößen
gegen die Logik" um sich warf, seine Überlegenheit auch in der
eigenen Kunst empfinden zu lassen. Geduldig läßt er sich Sarsis
Vordersatz gefallen und zeigt, was strenge Logik aus ihm folgern
könnte, wie dagegen Sarsi falsch oder \\illkürlich schließt, dann erst
beleuchtet er auch den Vordersatz, und in neun Fällen von zehn
ist es eine unhaltbare Vorstellung, eine völlig unsichere Behauptung
oder gar die Schlußfolgerung selbst in anderen Worten, auf der das
ganze Truggebäude ruht. Galilei selbst hat diese undankbare Arbeit
halb im Scherz und halb in Demut treffhch gezeichnet, wenn er nach
gründlichem Disputieren über die Ursache der Kometenentzündung
mit den Worten abschließt: „so haben denn Sarsi und ich mit einem
großen Aufwand von Worten untersucht, ob die feste Höhlung der
Mondsphäre, die nicht in der Welt ist, durch ihre rotierende Bewegung,
— 45 —
die sie niemals gehabt hat, das Element des Feuers, von dem wir
nicht wissen, ob es existiert, mit sich fortreißt und dadurch auch die
Dünste, die infolgedessen sich entzünden und das Feuer für die
Materie des Kometen geben, von dem wir nicht wissen, ob er sich
an jener Stelle befindet, und von dem wir gewiß sind, daß er kein
brennender Gegenstand ist. Und so erinnert mich Sarsi an das Wort
des sinnreichen Dichters:
Mit dem Schwert Orlandos, das sie nicht besitzen
Und vielleicht niemals besitzen werden.
Werden Hiebe blindlings ausgeteilt."^
Galilei begnügte sich nicht damit, in dem einen Fall die Gattung
abzutun, mit der gleichen gründlichen Strenge folgte er dem Gegner
von Beweis zu Beweis; nicht ein einziger blieb ohne Erwiderung
stehen, je schärfer sein Tadel, je empfindlicher seine Enthüllungen,
um so weniger durfte er an anderer Stelle den Schein hervorrufen,
als sei er genötigt, auf Entgegnung zu verzichten. Man begreift,
daß ihn bei dieser Arbeit oft genug der Unmut überwältigt. „Wehe
mir!" ruft er bei solcher Gelegenheit aus, „und merke ich denn nicht,
daß die Stunden fliehen, und verderbe meine Zeit mit diesen
Kindereien?"
So ist auch sein Tadel meist in bittere Worte gefaßt, und wo es
darauf ankommt, der Ursache des Fehlgriffs nachzugehen, sieht man
Galilei meist der härteren Deutung den Vorzug geben. iSlcht selten
mag dabei unter den wohlverdienten Vorwürfen ein ungerechter
stehen, es war in den Irrgängen der Sophistik nicht immer leicht,
zu scheiden, was aus ungenügender geometrischer Einsicht, was aus
heuchlerischer Berechnung und Verhüllung des bessern Wissens ent-
sprang. Galilei läßt zwar keinen mathematischen Schnitzer ungerügt ;
er räumt dem Gegner großmütig Kenntnis des ersten Buches der
Euklidischen Geometrie ein, um bald darauf auch diesen Rest ernst-
lich in Frage zu stellen, aber in zweifelhaften Fällen betrachtet er
die Erklärung durch mangelndes Verständnis in elementaren Dingen
als die größere Unhöflichkeit und belastet dafür um so empfindlicher
das Gewissen seines Gegners. Bei solchen Gelegenheiten geht er auch
mit den Ausdrücken nicht allzu haushälterisch um; hat er auch in
Ed. Naz. VI p. 329f.
— 46 —
den Saggiatore keine von den stärkeren Zärtlichkeiten aufgenommen,
mit denen er Grassi in einem ersten Entwurf seiner Arbeit^, den
Randglossen zur Wage, bedenkt-, so verläßt er sich doch nirgends so
weit auf den Eindruck seiner Kritik, daß er nicht das Ergebnis noch
in einer Charakteristik auch für den weniger Zartfühlenden zu-
sammenfaßte. Fast jede Seite Aviederholt in unverhüllten Worten,
daß Sarsi ,, erdichtet", ,,lügt", ,, trügerischer Weise vorgibt". Galilei
ist unerschöpflich in AVendungen, die diesen Vorwurf wiederholen.
So heißt es einmal: Sarsi stelle sich häufig, als sehe er die Dinge
nicht, die er vor Augen habe, und hege dabei vielleicht die Hoffnung,
daß sein Vorgeben bei den andern nicht eine vorgebliche, sondern
eine wirkliche Blindheit zustande bringe. Dasselbe Urteil drückt er
ein anderes Mal mit den Worten aus: um Euch den Weg zu Wider-
legungen zu bahnen, tut Ihr neun Mal von zehnen, als verständet
Ihr nicht, was der Herr Guiducci geschrieben, schiebt seinen Worten
Bedeutungen unter, die weitab von seiner Absicht liegen, fügt hinzu
oder nehmt davon und präpariert Euch so die Sache nach Eurer
Willkür, so daß der Leser, der Euren Entgegnungen Glauben schenkt,
sich der Meinung hingibt, wir- hätten etwas sehr Einfältiges geschrieben,
und Ihr hättet es scharfsinnig enthüllt und widerlegt.
So glaubt sich Galilei berechtigt, die Beobachtungen, durch die
Sarsi ihn widerlegen will, gleichfalls als Erfindung zu verdächtigen.
Er sagt ihm geradezu: ,,sie können verändert und frei seinem Be-
dürfnis angepaßt sein," Dann bittet er ihn um Verzeihung, wenn er
den Verdacht freimütig äußert, aber nur, um durch die Erläuterung
den Vorwurf zu verstärken. „Er selbst", sagt er, „gibt uns die Ver-
anlassung, seinen Angaben keinen Glauben zu schenken. Welches
Zutrauen soll man zu den Berichten eines Menschen in bezug auf
vergangene Dinge haben, von denen nichts mehr zu finden und zu
sehen ist, wenn derselbe, wo es sich um fortbestehende, gegenwärtige,
öffentliche und gedruckte Dinge handelt, kein Bedenken trägt, von
zehnen neun verändert, umgestaltet, kurz, ins Gegenteil verkehrt
uns vorzutragen?
Die gleiche Bitterkeit färbt die Polemik des ganzen Buchs, und
in dieser Beziehung wird vielleicht der heutige Leser sich eines Ein-
1 Ed. Naz. VI p. 6, 109—179.
2 solennissimo bue. Galileis Lieblingsausdruck.
I
— 47 —
drucks der Eintönigkeit nicht ganz erwehren können. Auch wird
man den Tadel zuweik>n weniger ärgerlich und mehr vom Stolz des
überlegenen Meisters durchdrungen wünschen; wer Kepler kennt,
vermißt vielleicht den Hauch jenes belebenden Humors, der den
Aufenthalt auch in der "Wüste der Scholastik erträglicher macht.
Aber heute noch überrascht uns im Saggiatorc die Mannigfaltigkeit,
in der Galilei bei aller Ausführlichkeit, aller Wiederholung sein Grund-
thema zur Darstellung zu bringen weiß; nur einem so reichen Geiste,
dem zugleich die Sprache in vollstem Maße zugebote stand, konnte
die Lösung einer Aufgabe nach so breit angelegtem Plane gelingen,
ohne dabei ermüdend zu wirken. In der Zergliederung einzelner
Abschnitte der Wage bewährt sich die volle Meisterschaft seiner
Darstellung, so vor allem in der Entwirrung jenes Knäuels von lügen-
hafter Sophistik, in dem Sarsi seinen Irrtum über die ungleiche Ver-
größerung ferner und naher Gegenstände durch das Fernrohr in
versteckter Weise zugesteht. Die Lösung dieser undankbaren Auf-
gabe ist ein Kunstwerk der Ki'itik.
Auch sonst ist der Saggiatore an anziehenden Einzelheiten über-
reich; die hingeworfenen Gedanken und gelegentlichen Äußerungen,
die Beispiele und Bilder offenbaren auf jeder Seite den seltenen Geist.
Ist es in erster Linie ein ästhetisches Interesse, das die „Gold-
wage" bei dem heutigen Leser in Anspruch nimmt, so gesellt sich
dazu ein nicht geringeres für jeden, der es der Mühe wert erachtet,
der geschichtlichen Entwicklung der wissenschaftlichen Grund-
gedanken auf ihren vielverzweigten Wegen nachzugehen; es bedarf
nur der Bemerkung, daß Galilei kaum in einer zweiten Schrift so
mannigfaltige Probleme der iSaturforschung, bald eingehend, bald
im Vorübergehen zur Sprache bringt, um die Bedeutung des Buchs
in dieser Hinsicht zu kennzeichnen.
In ungleich höherem Maße und in vielfältigeren Beziehungen
war es den Zeitgenossen ein bedeutendes Werk, vor allem den
italienischen Zeitgenossen, denn wie es in Bildern und Zitaten auf
Leser rechnet, denen die Gestalten der italienischen Dichter ver-
traut sind, wie die Anmut seines Vortrags nicht gut von dem Wohl-
laut der florentiner Sprache zu trennen ist, wie die Feinheiten seiner
Polemik einen Geschmack voraussetzen, den Meisterwerke der italie-
nischen Literatur gebildet haben, so gewann auch der Anteil an dem
zweifellosen Triumpf der neuen Wissenschaft, den diese Blätter ver-
— 48 —
kündeten, für ihre italienischen Vertreter eine besondere Färbung
dadurch, daß dieser Siec: der Beredsamkeit, der logischen Kunst und
der wissenschaftlichen Methode errungen wurde über die Wissenschaft
des CoUegium Ronianum.
Auch die Fernerstellenden fanden in dem Zeitalter der dis-
putierenden Wissenschaft an der Gewandtheit in der Handhabung
der logischen Formen, an der rein rednerischen Überlegenheit im
wissenschaftlichen Streit einen Genuß, der den späteren Generationen,
wenigstens wo es sich um die Erforschung der Naturerscheinungen
handelt, fremd geworden ist.
Die \Nissensdurstigen Leser des 17. Jahrhunderts fanden über-
dies im Saggiatore einen Reichtum an Belehnmg, eine Fülle von
anregenden Betrachtungen, wie sie nicht leicht ein ähnliches Werk
geboten hatte. Belehrende Winke waren überall eingestreut, selten
waren Guiduccis Behauptungen verteidigt, Grassi widerlegt, ohne
daß für die eigene Anschauung neue Gesichtspunkte zur Geltung
gebracht wären. Oft genug findet Galilei dabei Veranlassung, das
bisher Errungene der Naturerkenntnis als ein Geringfügiges erscheinen
zu lassen. Als Versuche und Anfänge charakterisiert er auch die
eigenen Bemühungen. In diesem Sinne tritt er für die Möglichkeit
seiner Kometenlehre ein — mehr als Möglichkeit hat er nie für sie
in Anspruch genommen; auch jetzt noch verwahrt er sich gegen die
Zumutung, seiner Annahme eine bestimmte Form zu geben; er hat
mehr ein Erklärungsgebiet als eine bestimmte Erklärung bezeichnen
wollen; um so sicherer kann er den Gegner zurückweisen, der ihm
entgegenhält, wie wenig der Komet dem Regenbogen und den Höfen
um Sonne und Mond ähnlich zu nennen sei. In unzähligen Weisen
kann die Natur Ähnliches und Gleiches erzeugen, so viele dieser Weisen
uns bekannt sind — sie geben uns keinen Aufschluß über die un-
bekannten, sie lassen uns nicht erraten, wie viele uns zu erforschen
übrig bleiben. Seine Ansicht zu verdeuthchen, erzählt Galilei das
Märchen von der Entstehung des Schalls i^
,,An einem sehr einsamen Ort wurde ein Mensch geboren, der
von der Natur mit einem ungewöhnüchen Scharfblick des Geistes
und mit einer außerordentlichen Wißbegierde begabt war, der hielt
sich zum Zeitvertreib mancherlei Vögel und hatte große Freude an
1 Ed. Naz. VI p. 271—281.
— 49 —
ihroni Gosaiis. und mit der höcliston Bowiindprmif,' hotriiflitcte er
d'iv kunstvolle iMmichtunti-. dni-cli die sie mit derselben Luft, durch
die sie atmeten, niich iliiem P>eli(>l)t'ii verschiedene Melodien hervor-
bnachten, eine anmutij^er als die andere.
Xun orosehah es einmal zur Nachtzeit, daß er in der Xähe seiner
Wohnunn; einen zarten Ton vernahm; er konnte sich nichts aiuleres
denken, al.s daß es ein Vöpjlein wäre und machte sich auf, es zu fnnfi:en;
als er aher hinauskam, fand er einen Hirten, der auf einer Art p:eli(ihltefi
Holzes blies. Indem er die b'inj^er über das Holz bewegte und
(Öffnungen, die sicli daran befanden, bald schloß, bald öffnete, brachte
er jene verschiedenen Stimmen hervor, die denen eines Vogels ähnlich
waren, aber die Art und Weise war eine völlig andere. Erstaunt,
und von seiner angeborenen Wißbegierde getrieben, schenkte er dem
Hirten ein Kalb, um die Flöte zu erhalten; als er dann zurückkehrte,
wurde es ihm klar, daß, w'enn nicht zufällig dieser Mann vorüber-
gekommcn wäre, er nie gelernt hätte, daß es in der Natur zwei AVeisen
gibt, anmutige Stimmen und Melodien hervorzubringen; so beschloß
IT, sein Haus zu verlassen, er dachte: es werde ihm etwas Anderes,
Merkwürdiges begegnen. Und es traf sich am folgenden Tage, als
er an einer kleinen Hütte vorüberging, daß er drinnen eine ähnliche
Stimme erklingen hörte; um sich zu versichern, ob es eine Flöte oder
eine Amsel sei, ging er hinein und fand einen Knaben, der mit einem
Bogen, den er in der rechten Hand hielt, Sehnen strich, die über eine
Art hohlen Holzes ausgespannt waren, mit der Linken hielt er das
Instrument und bewegte die Finger darüber hin, und ohne jedes
Blasen entlockte er ihm mannigfaltige und höchst anmutige Melodien.
Wie groß sein Staunen war, mag der ermessen, der ähnlicher Begabung
und Wißbegierde teilhaftig ist; überrascht, zwei neue, so unerwartete
Weisen kennen zu lernen, durch die man die Stimme und den Gesang
hervorbringt, kam er auf den Gedanken: es möchten deren in der
Natur noch andere sein. Aber wie groß war seine Verwunderung,
als er beim Eintritt in eine Kirche hinter der Tür zu suchen anfing,
um zu sehen, wer den Ton von sich gegeben hätte — und nun gewahr
wurde, daß der Ton von den Angeln und den Bändern beim Öffnen
der Tür hervorgebracht war! VAn anderes Mal trat er, von seiner
Wißbegierde getrieben, in ein Wirtshaus; er erwartete, jemand zu
sehen, der mit dem Bogen sanft die Saiten einer Violine striche, aber
er fand einen Mann, der mit der Fingerkuppe den I^and eines Glases
Wuhlwlll, »Galilei. II. 4
— 50 —
rieb und ihm den schönsten Woliiklang enthickte. Als er dann weiter
beobachtete, daß die Wespen, die Mücken und die Flieoen nicht,
wie seine Vögel, (hirchs Atmen unterbrochene Laute heivorbracliten,
sondern durch ein überaus rasches Flügelschlagen einen anhaltenden
Ton gaben, da wurde sein Staunen größer, sein Zutrauen immer
geringer, daß er wisse, wie der Ton entsteht. Alles, was er bis dahin
erfahren, hätte nicht genügt, ihm begreiflich oder glaublich zu machen,
daß die Heimchen, da sie nicht flogen, nicht durch eine Art zu blasen,
sondern durch Erschütterung der Flügel ein so anmutiges und wohl-
klingendes Zischen von sich geben könnten. Aber als er der Meinung
war, es könne kaum noch möglich sein, daß es andere Weisen, Töne
zu bilden, gebe, nachdem er außer den aufgezählten Weisen noch so
viel Orgeln, Trompeten, Pfeifen, Saiteninstrumente von so vielerlei
Art beobachtet hatte, bis auf das Züngelchen von Eisen, das, zwischen
den Zähnen gehalten, in merlrwürdiger Weise die Mundhöhle als
Resonanzköi-per und den Atem als Tonerzeuger braucht — als er,
sage ich, der Meinung war, er habe alles gesehen, fand er sich mehr
denn je in Unwissenheit und Staunen versenkt, als ihm eine Zikade
in die Hände fiel und er weder, wenn er ihr den Mund verschloß,
noch wenn er ihr die Flügel festhielt, imstande war, den überaus
hellen Ton, den sie von sich gab, abzuschwächen; auch sah er an
ihr weder Schuppen noch andere Teile sich bewegen. Als er endlich
die Brusthöhle aufhob und darunter harte, aber dünne Knorpel sah
und glaubte, das Geräusch entstehe durch die Erschütterung der
Knorpel, kam er dazu, sie herauszubrechen, um die Zikade zum
Schweigen zu bringen. Alles war vergebens, bis er, die Nadel mehr
nach innen stoßend, die Knorpel durchbohrte und der Zikade mit
der Stimme das Leben nahm. So konnte er sich nicht einmal ver-
sichern, ob der Gesang von den Knorpeln herrührte. Da ergriff ihn
ein solches Mißtrauen gegen sein Wissen, daß, als man ihn fragte,
wie die Töne entstehen, er freimütig antwortete: er kenne einige
Weisen, aber er halte für gewiß, daß es noch hundert andere un-
bekannte und unerwartete geben könne."
Schwerlich läßt sich anschaulicher und annmtiger zugleich die
P>fahrung des gewissenhaften Forschers darstellen, der in natür-
lichem Trieb aller Orten nach Analogien sucht und immer von neuem
erkennt, daß die Analogie ihn, dem Reichtum der Natur gegenüber,
im Stich läßt. Als eine Warnung, die auch der heutige Forscher nicht
— 51 —
überhören darf, ruft Galileis pjzählunf]f jedem, der es unternimmt.
bei<annte Erstheinimsen zur Doutunn; unbekannter zu verwerten,
wo die Entsteh un,i(sbedinounc;en sich nicht ])riifen hissen, das Be-
(hMii^liche, l'nsicherc seines Versuchs ins Gedächtnis.'
Kann man in diesem Sinn seiner Erzähluni^ dauernde Bedeutung
beimessen, so wird man ilim nicht mit dem gleichen Einverständnis
folgen können, wenn man die besondere Absieht beachtet, in der
er seinen Einsiedler wandern läßt: ..Ich habe die Zikade in der Hand
und weiß nicht, wie sie singt'" — mit diesen Worten weist er die
Verpflichtung von sich ab, bestimmte, in ihrem Wirken wohlbekannte
Bedingungen nachzuweisen, unter denen der Komet nach seiner
Erklärungsweise erscheinen kann. Aber er geht weiter: Wenn die
bekannten Erscheinungen, die in ähnlicher Weise entstehen, rasch
vorübergehende sind, so ist die Vergänglichkeit der Materie, durch
die sie hervorgerufen sind, die Ursache ~ warum sollte es nicht ähn-
lich bei den Kometen sein?-
So beruft sich Galilei, wo es darauf ankommt, eine neue Er-
klärung zunächst nur als zulässig zu erweisen, auf Bedingungen, die
zwar tatsächlich uiil)ekannt und unnachweisbar sind, aber als möglich
in der unermeßlichen Mannigfaltigkeit der Xatur nicht geleugnet
werden können. Wer sieht nicht, daß er aus einer Quelle schöpft,
die für Freund und Feind mit gleicher Ergiebigkeit fließt! Es sind
nur andere Ausdrücke, aber es ist der gleiche Gedanke, durch den
Daliani^ die Planetennatur der Kometen rettet, wiewohl er weiß,
wie sehr sie von den Planeten des Tierlvreisgürtels abweichen.
Galilei fügt diesen allgemeinen Betrachtungen nur weniges hinzu,
um in den Einzelheiten seine Kometenlehre zu verdeutlichen. Seine
Beispiele suchen insbesondere den Einwürfen gegenüber zu erläutern,
wie auch bei anderen Naturerscheinungen die Ausdehnung der Licht-
erscheinung keinen Aufschluß über die Ausdehnung der erleuchteten
Materie nach den verschiedensten Richtungen gebe, wie die Form
und Lichtstärke bei den bekannten Beispielen dieser Gattung keines-
wegs der Gattung wesentlich, sondern durch die bestimmten Ent-
stehungsbedingungen einfach zu erklären ist Auch im Saggiatore
^ Im übrigen hat diese Geringschätzung der Analogie eine sehr wesent-
liche Rolle bei seinem Mißerfolg gespielt.
- Ed. Naz. VI p. 281.
■' Ed. Naz. XII p. 474—478.
4*
- 52 -
zieht er zur Verglokhunp; nanientlicli das Soiiiionbild auf bewegtCM-
MopiTsfläch»' und dio Strahlon lioraii. dir am bowölkton Horizont
von der Sonne als Zentrum aus<i-elien; aueh hier träp,t er kein Be-
denken, das Xordlieiil als einen Wiederschein der untergegangenen
Sonne und desliall) als einen Beweis dafür anzusehen, daß wirklicli
Dünste von der Ivrde aus zu solelien Höhen steigen, wie sie für die
Krklärung des Kometen notwendig wären.
Wie wenig zur Entstehung des Kometen nach seinem Sinne
die Bedingungen unerläßlich sind, die Sarsi fordert: eine spiegel-
artige (Hätte der retlcktierenden Oberfläche und wäßrige Dünste.
zeigt er durch einen scherzhaften Vorschlag zur Nachbildung des
Kometen.'
„Es nehme Euer Gnaden eine gut gereinigte gläserne Karaffe,
und indem Ihr eine angezündete Kerze nicht weit von dem Gefäß
haltet, werdet Ihr auf dessen Oberfläche ein kleines, sehr klares und
präzises Bild des Lichtes der Kerze sehen; nehmet nun mit der Finger-
spitze ein ganz wenig von irgendeinem Stoff, der etwas salbig ist.
so daß er am Glas haftet, und reibt so leicht, wie Ihr nur könnt, auf
den Fleck, wo das Bild des Lichtes zu sehen ist, so daß die Fläche
getrübt wird, und Ihr werdet sofort sehen, daß das genannte Bild
sich trübt; darauf dreht das Gefäß, so daß das Bild aus der trüben
Stelle hervorkommt und sie nur am Rand berührt, und fahret mit
dem Finger gerade über die trübe Stelle; dann werdet Ihr plötzlich
einen geraden Strahl daraus hervorkommen sehen, der dem Schweif
eines Kometen ähnelt, und dieser Strahl wird querdurch und in rechten
Winkeln durch das gehen, was Ihr mit dem Finger auf das Glas
gerieben habt, so daß, wenn Ihr in einer anderen Richtung reibt,
besagter Strahl sich auf einen anderen Teil richten wird. Und das
kommt daher, daß die Haut unserer Fingerkuppen nicht eben ist,
sondern die Zeichnung von einigen gewundenen Linien trägt, damit
wir die geringsten Unterschiede beim Betasten der tastbaren Dinge
fühlen. Indem Ihr nun den Finger über die mit Salbe eingeriebene
Oberfläche führtet, bleiben einige ganz leichte Furchen zurück, auf
deren Rücken sich Reflexe des Lichtes befinden, die, wenn sie zahl-
reich und in richtiger Ordnung verteilt sind, einen hellen Strich
bilden, an dessen Kopf man, wenn man durch Bewegen des Gefäßes
1 Ed. Naz. VI p. 290/91,
— 53 —
das erste, im nidit beschmierten Teil ffeniachtr BM wiederherstellt,
man den Anfani,' des Schweifes heller, und den Seil weil" selbst etwas
weniger leuchtend erblicken wird. Und derselbe h^lfekt wird ent-
stehen, wenn Dir das Glas, anstatt es einzureiben, durch Anhauchen
verdunkelt."
Galilei tüf^t dem Scherz die Bitte hinzu, es möge Cesarini. weim
jemals Sarsi darauf zu sprechen käme, in seinem JN'amen feierlich und
ausdrücklich beteuern, daß er darum nicht daran denke, anzunehmen,
es befinde sich am Himmel eine große Flasche und jemand, der sie
mit Fett bestreicht, und daß so der Komet entstehe,^
In ähnlicher Weise sehen wir Galilei erzählend und deutend um
der Kometen willen die verschiedensten Erscheinungen der Spiegelung
und der Brechung des Lichts heranziehen, und keinen der überaus
mannigfaltigen Gegenstände verläßt er, ohne daß dem wißbegierigen
Leser neue Tatsachen enthüllt oder bekannte in neuem Licht er-
schienen wären. So knüpft er an die Kritik der aristotelischen Lehre
von der Kometenentzündung einen ganzen Abschnitt über die eigene
Wärmelehre an.
„Ich fürchte", sagt er, ,,daß man sich im allgemeinen von dem,
was wir Wärme nennen, eine Vorstellung gemacht hat, die von der
Wahrheit weit entfernt ist, wenn man nämlich die Wärme als ein
Accidens, Zustand und Qualität betrachtet, die in Wirklichkeit in
der Materie ihren Sitz hat, deren Warmwerden wir empfinden. Ich
bemerke deshalb, daß ich allerdings die ^Notwendigkeit nicht ab-
weisen kann, sobald ich mir eine Materie oder körperliche Substanz
vorstelle, mir zugleich vorzustellen, daß sie begrenzt ist und diese
oder jene Gestalt hat, daß sie mit andern verglichen, groß oder klein
ist, daß sie an diesem oder jenem Ort, in dieser oder jener Zeit ist,
daß sie sich bewegt oder nicht, daß sie einen andern Körper berührt
oder nicht berührt, daß sie eins, wenig oder viel ist, und mit keiner
Phantasie kann ich sie von diesen Bedingungen trennen; aber was
ihr Weiß- oder Kotsein, Bitterkeit oder Süße, ihr Tönen oder Licht-
tönen, ihren angenehmen oder unangenehmen Geruch betrifft — so
empfinde ich keinerlei Nötigung für den Geist, sie von dergleichen
Bedingungen notwendig begleitet zu denken, ja, wenn die Sinne
uns nicht begleiteten, so würde vielleicht der Verstand oder die Ein-
' Ed. Naz. VI p. 2'Jl.
— 54 —
bilduiigskraft aus sich selbst niemals auf dergleichen kommen. So
denke ich, daß Geschmack, Geruch, Farben usw. für das Objekt,
in dem sie uns ihren Sitz zu haben scheinen, nichts als bloße jN'amen
sind, während sie ihren Ort in dem empfindenden Körper einnehmen,
so daß, wenn das Leben dahin ist, alle diese QuaMtäten aufgehoben
und vernichtet sind, wenn gleich wir, wie wir ihnen besondere
r\amen gegeben haben, die verschieden sind von jenen realen Acci-
dentien, gern glauben wollen, daß sie in Wh-klichkeit und realiter
von jenen verschieden seien. ^
Können hier den heutigen Leser Andeutungen über das Wesen
der Wärme fesseln, die, wenn auch nur ahnungsweise, Anschauungen
der Gegenwart verwandt sind, so war dem Zeitgenossen sicherlich
vor allem übrigen der Aufschluß überraschend, daß die Bleikugeln,
die nach Dichtung und Geschichtserzählung der rasche Flug
geschmolzen, nur Geschosse der Phantasie waren.
Der gleiche Streit gibt Galilei die Veranlassung, verworrenen
Meinungen der alten Philosophie zum ersten Mal klare Sätze seiner
neuen Mechanik über die Mitteilung der Bewegung gegenüberzustellen,
die den Hörern jener Tage eine neue Welt erschlossen. Unerklärt,
und darum nicht minder anregend, fügt er die Versuche hinzu, durch
die er die Luft im rasch geschwungenen Behälter von dem Umschwung
unberührt in ihrer Ruhe beharren sieht. Hier führt ihn der Zusammen-
hang zur ]\Iitteilung über jenes eigentümliche Experiment, durch
das er in Rom die dritte Bewegung des Copernicus zugleich -zu er-
klären und zu widerlegen versucht hatte. Er Aviederholt seine Er-
klärung nicht, um den Copernicus zu verteidigen; er hat nur aufzu-
klären, was Sarsi mißverstanden, wenn er von ähnlichen Versuche]!
gehört haben will. In der Tat ist Galilei auch jetzt noch weit davon
entfernt, die erste Gelegenheit zu neuen Äußerungen im copernica-
nischen Sinne und damit zum Widerspruch gegen das Dekret von
1616 benutzen zu wollen. Vielmehr erklärt er all jenen provozierenden
Worten Sarsis gegenüber kalt und ruhig, daß er sich unterworfen hat.
War Grassis Absicht, ihn entweder zum Geständnis zu verleiten, daß
er der ketzerischen Lehre anhänge, oder zur öffentlichen Erklärung,
daß er seine Wissenschaft den Anordnungen der Kirche unterwerfe,
so war Galileis Gesinnungen gemäß die Antwort von selbst gegeben.
1 Ed. Naz. VI p. 347f.
— 55 —
Er erklärt in bestimmton Worten, daß er als Katholik die copernica-
nische Lehre als falsch erkannt hat; aber seine Erläuterungen lassen
niemand in Zweifel darüber, daß er sie nicht als durch wissenschaft-
liche Gründe widerlegt ansieht. Unverkennbar sucht er bei dieser
Doppelstellung sich der Auffassung des Dekrets anzubequemen, die
in den letzten Jahren durch „die Verbesserungen zum Copernicus"
als die kirchliche anerkannt war. So erwidert er matt genug auf jene
boshafte, flüsternde Stimme, die dem Gegner copernicanische An-
sichten hinter der neuen Kometenlehre verraten will: „weder ich noch
Guiducci haben ein Wort davon gesagt oder auch nur daran
gedacht, — wie Sarsi selbst bekennt, wenn er sagt, er glaube nicht,
daß es mir jemals in den Sinn gekommen sei, die Bewegung der Erde
bei dieser Gelegenheit einzuführen, da er mich als fromm und kirch-
lich gekannt hat ; aber wenn dem so ist, zu welchem Zweck erwähnt
Ihr sie und in welcher Absicht sucht Ihr zu zeigen, daß sie zu meinem
Bedarf nicht ausreicht P"^
Indem Galilei die Frage zurückweist, wagt er so wenig wie
Guiducci die w^eitere Ursache namhaft zu machen, die Guiducci als
notwendig bezeichnet hat, damit die neue Kometenlehre der Deutung
der Erscheinungen genüge. Er konnte nicht offen einräumen, daß
seine Theorie ohne die Bewegung der Erde unvollständig bleibe,
wenn er nicht auch diese Lehre in demselben Buche zum Traum und
Hirngespinst herabwürdigen wollte, dem er die Aufgabe stellte, sie
aufs beste zu verteidigen. Aber ebensowenig sagt er, daß an jener
Stelle von Guiducci an die Bewegung der Erde nicht gedacht sei,
für den aufmerksamen Leser ist viehnehr das Gegenteil deutlich genug
zwischen den Zeilen der weiteren Auseinandersetzung zu lesen. Er
beleuchtet zunächst den hilflosen Versuch des Gegners, jeden Einfluß
der Erdbewegung, selbst wenn man an sie denken dürfte, als un-
genügend für die Zwecke jener Theorie zu erweisen, er zeigt, daß
Sarsi wieder über die Bewegungen der Erde nach der Lehre des
Copernicus, noch über die mannigfaltigen Erscheinungen hinreichend
unterrichtet ist, die infolge dieser Bewegungen an anderen Welt-
körpern w^ahrgenommen werden müssen; Galilei denkt auch hier
nicht daran, die unverständige Anwendung der copernicanischen
Lehre durch eine verständigere zu ersetzen; dagegen schließt er die
» Ed. Naz. VI p. 305.
— 56 —
Erörterung mit den Worten ab: wenn die der Erde zugeschriebene
Bewegung, die ich als fromme und katholische Person für gänzlich
falsch und nichtig halte, von so vielen und mannigfaltigen Erschei-
nungen Rechenschaft zu geben geeignet ist, die man an den Himmels-
körpern wahrnimmt, so kann ich mich nicht überzeugen, daß sie
nicht auch, falsch wie sie ist, täuschenderweise den Erscheinungen
der Kometen entsprechen könne, sofern nicht Sarsi sich zu deut-
licheren Ausführungen bereit finden läßt, als er sie bis jetzt vor-
gebracht hat.^
An anderer Stelle äußert Galilei sein Bedenken gegen die Weise
des Gegners, die Pflicht des Gläubigen wie ein wissenschaftliches
Argument zum Beweis zu verwenden; die kirchliche Entscheidung,
meint er, hätte ihm vielmehr ein Sporn sein müssen, diese Annahme
zu vernichten und als unmöglich darzulegen; es sei vielleicht nicht
übel getan, auch mit natürlichen Gründen, wenn es geschehen könne,
die Falschheit solcher Behauptungen zu erweisen, die als schrift-
widrig erklärt seien.
Es entspricht dem gleichen Standpunkt, wenn er hier nur zweifelt
und vermutet und dann doch mit größter Entschiedenheit die An-
sicht zurückweist, daß den Gläubigen nichts übrig bleibt, als sich
zu Tycho Brahe zu bekennen. Selbst wenn er mit Sarsi annehmen
wollte, daß der menschliche Verstand sich notwendig dem Verstand
eines andern Menschen leibeigen machen müßte, daß man bei Be-
trachtung der Himmelsbewegungen irgendeines Mannes Anhänger
sein müsse, sieht er nicht ein, aus welchem Grunde er Tycho wählt
und ihn Ptolomäus und Nicolaus Copernicus vorzieht, von denen
beiden wir vollständige und mit größter Kunst entworfene Welt-
systeme haben; er kann nicht sehen, daß Tycho dasselbe getan hat,
wenn es nicht etwa Sarsi genügt, daß er die beiden andern verneint
und ein anderes versprochen, wenngleich nicht ausgeführt hat. Ebenso-
wenig sei es Tycho, der die beiden andern als falsch erwiesen hätte,
denn was den Ptolomäus betrifft, so sei die einzige Widerlegung
desselben in den teleskopischen Beobachtungen enthalten, durch den
er, Galilei, den Wechsel der scheinbaren Größe bei den Planeten der
copernicanischen Annahme entsprechend gefunden hätte. „Was dann
die copernicanische Hypothese betrifft", fährt er fort, „so glaube ich
1 Ed. Naz. VI p. 311.
— 57 —
nicht, daß, wenn nicht, uns Katholiken zum Heil, eine erhabenere
Weisheit uns aus dem Irrtum gerissen und unsre Blindheit erleuchtet
hätte, eine solche Gnade und Wohltat uns durch die Gründe und
Beobachtungen Tychos zuteil geworden wäre. Da also die beiden
Systeme sicher falsch sind und keins von Tycho vorhanden ist, sollte
Sarsi mich nicht tadeln, wenn ich mit Seneca nach dem wahren Bau
der Welt Verlangen habe.^
Sieht man in allen diesen Äußerungen von der Form ab, die der
Glaube auferlegt, so bleibt als Kern der Ausdruck unerschütterter
Überzeugung. Der Saggiatore brachte seinen Lesern keine neuen
Beweise für den Copernicus, aber unter den Schätzen neuer Wissen-
schaft, die er verbreiten sollte, ließ Galilei auch die Hinweisung auf
die größeren nicht fehlen, die der kirchliche Beschluß den Gläubigen
vorenthielt.
Dem Zeitalter und der Heimat Jenes eisernen Zwanges fern,
bedünkt es uns nach dem Maßstab der eigenen Empfindungsweise
würdiger — wenn doch der unnatürliche Gehorsam walten soll —
zu verschweigen, was nur unter feierlichster Verwahrung, unter ver-
hüllenden Worten Duldung finden kann, aber weim es Galilei darauf
ankam, in der ersten Schrift, die er seit dem Unglücksjahr veröffent-
lichte, aller Welt zu sagen, da(j kein Dekret aus schlechten Gründen
gute machen könne, daß auch jetzt noch keine Deutung der Himmels-
erscheinungen neben der copernicanischen Bestand habe, so hätte
er diese Überzeugung nicht vernehmlicher verkünden können, als es
in den Formen der Demut im Saggiatore geschieht.
1 Ed. Naz. VI p. 232f.
Drittes Kapitel.
Vor den Dialogen. — Gegen Ingoli.
Der Saggiatore war noch nicht erschienen, als ein vielverheißendes
Ereignis die Freunde der ernsteren Wissenschaft in freudige Auf-
regung versetzte. Im August 1623 war Papst Gregor XV. gestorben.
Aus der Wahl der Kardinäle im kurzen, durch die Fieberschwüle
des römischen Sommers geängstigten Konklave ging als sein Nach-
folger der Kardinal Maffeo Barberini hervor, der unter dem Namen
ürbans VIII. den päpstlichen Stuhl bestieg. ^ Maffeo Barberini
hatte für einen der gelehrtesten Kardinäle gegolten; er hatte mit
vielen Gelehrten der Zeit, unter ihnen mit den angesehensten aus
dem Kreise der römischen Freunde Galileis in nahen Beziehungen
gestanden — so knüpften sich an seine AVahl die überschwänglichsten
Hoffnungen; „man erwartet eine vortreffliche Regierung", so wieder-
holte einer nach dem andern im jubelvolloi Bericht an Galilei; „wir
werden einen höchsten Mäcenas haben", ,,es wird ein Regiment der
schönen Wissenschaften sein" — so hieß es zuversichtlich in
den Kreisen der Lyncei.^ Stand docli vor allen übrigen Fürst Cesi
in Barberinis Gunst, nun wurden überdies durch die ersten Wahlen,
die der neue Papst zu treffen hatte, zwei der angesehensten Älitglieder
der Akademie in seine nächste Umgebung gezogen; Virginio Cesarini
wurde zum maestro di Camera ernannt, Monsignor Ciampoli wurde
als segretario de Brevi bestätigt und erhielt zugleich den Rang
eines Kainmerherrn, ein dritter aus dem akademischen Kreise, der
Cavaliere del Pozzo^, wurde für den Dienst des päpstlichen Neffen,
1 Ed. Naz. XIII p. 120.
2 Ed. Naz. XIII p. 121, 124, 125, 126.
3 Ed. Naz. XIX p. 560.
— 59 —
Francesco Barberini, bestimmt, dessen Erhebung zum Kardinal^
nicht ausbleiben konnte. Man säumte nicht, diese seltene Gunst
der Verhältnisse zur Sicherung dauernder Beziehungen zu verwerten.
Im Namen der Akademie wurde dem Papst die Widmung des Sag-
giatorc angetragen.- Urban nahm sie in gnädiger Weise an. Unter
den Verwandten des Papstes war der neu erwählte Kardinal, Fran-
cesco Barberini, dem alle AVeit gewichtigen l-^influß unter dem neuen
Regiment voraussagte, zugleich als Gönner gelehrter Bestrebungen
bekannt — ihm trug man in bescheidenster Höflichkeit die Mitglied-
schaft der Akademie an; der Kardinal wußte die Ehre, die ihm ge-
boten wurde, zu schätzen, und die Akademiker dankten ihm in feier-
licher Deputation, daß er ihre Genossenschaft nicht verschmähte.^
Wir werden also, schrieb man an Galilei, einen Protektor im Purpur
haben. Auch Galilei mußte der Genugtuung darüber Ausdi^uck
geben. Fürst Cesi fand es wünschenswert, daß er den Kardinal über
seinen aufrichtigen Anteil nicht in Zweifel lasse.* Galilei erwiderte,
daß seine Freude in der Tat aufrichtig sei. Mehr noch als für irgend-
einen der Freunde war die Wandlung der Dinge in Rom für ihn eine
verheißungsvolle. Seit längeren Jahren hatten freundschaftliche Be-
ziehungen zwischen ihm und dem Kardinal Maffeo Barberini be-
standen. Eine Reihe von Briefen des Kardinals gibt davon Zeugnis.
Mag der Wunsch, selbst für einen Gelehrten und besonderen Gönner
der Gelehrsamkeit zu gelten, ihm mehr als wahres Verständnis den
Verkehr mit dem großen Manne schätzenswert gemacht haben, die
Folge dieser schriftlichen Äußerungen läßt jedenfalls darauf schließen,
daß das Verhältnis auf beiden Seiten als ein näheres empfunden
wurde. Galilei übersandte dem Kardinal regelmäßig seine neu er-
schienenen Werke, und der Kardinal bekundete ihm in seinen p]n\ide-
rungen lebhaften Anteil^; er fand, daß seine Ansicht über die scln\im-
menden Körper der Galileis nahestehe'', Galilei schrieb ihm, noch
bevor er seine Auffassung veröffentlichte, über die Sonnenflccken
und die Ursache ihrer Ortsveränderung ^. Es schien dem Kardinal,
1 Ed. Naz. XIII p. 133, 137.
2 Ed. Naz. VI p. 201; XIII p. 129, 142, 146.
3 Ed. Naz. XIII p. 133, 134, 137.
* Ed. Naz. XIII p. 135.
5 Ed. Naz. XI p. 216.
« Ed. Naz. XI p. 317f.
■ Ed. Naz. XI p. 304—311.
— 60 -
daß Galilei die Deutung der Sonnenf lecken in Apelles Briefen mit
gutem Grund verwerfe^; freilich verwechselt er dann im folgenden
Brief die Meinung der beiden Gegner, wenn er versuchen will, „die
Planeten", die Galilei angekündigt hat, durchs Fernrohr zu ver-
folgen. Als bald darauf Barberini von Bologna nach Rom über-
siedelte, fand er Gelegenheit, Galilei sein AVohlwollen durch die Tat
zu beweisen. Bei ihm suchte in den Jahren der Drohungen und
Denunziationen Ciampoli Rat und Auskunft; er war es, der Galilei
ermahnen ließ, sich auf physikalische und mathematische Erörterungen
zu beschränken, die Theologie den Theologen zu überlassen; er zählte
im Jahre 1616 zu seinen entschiedensten Gönnern und Verteidigern,
und aus mancherlei Andeutungen läßt sich entnehmen, daß er dem
Urteil gegen die copernicanische Lehre wenigstens nicht in dem
Umfange zugestimmt habe, wie es im März 1616 zum Beschluß er-
hoben wurde.
So bekunden auch die späteren Briefe des Kardinals sein un-
verändertes Wohlwollen, seine Achtung vor Galileis Talenten. Galilei
sandte ihm, wie die früheren Schriften, auch Guiduccis Kometenrede
zu, und als sie durch einen Unfall nicht in die Hände des Kardinals
gelangt war, äußerte dieser den dringenden Wunsch, deshalb nicht auf
das Werk verzichten zu müssen. ^ Als Beweis seiner wahren Ergeben-
heit widmete er bald darauf dem Entdecker der Jupiterstrabanten
ein lateinisches Gedicht^; bei der Übersendung bittet er Galilei, die
Verse als ein kleines Zeichen der großen Verehrung, die er für ihn
hege, zu betrachten.^ Der gleiche Ton der Zuneigung findet sich
in den Zeilen wieder, mit denen Barberini wenige Monate vor seiner
Erhebung zur höchsten kirchlichen Würde Galilei für eine erwiesene
Aufmerksamkeit seinen Dank sagt. Den Worten seines Sekretärs
fügt er mit eigener Hand die wiederholte Versicherung hinzu, daß
Galilei bei ihm zu allen Zeiten das lebhafte Verlangen und volle
Bereitwilligkeit finden werde, ihm die Anhänglichkeit, die er ihm
und den Seinen bewahre, zu erwidern.^
Als Maffeo Barberini Papst Urban geworden war, sandte Galilei
1 Ed. Naz. XI p. 322/23.
2 Ed. Naz. XII p. 461—462. 463.
3 Ed. Naz. XIII p. 48—49, 50.
* Ed. Naz. XIII p. 48 f.
^ Ed. Naz. XIII p. 119.
— 61 —
dip Briefe des Kardinals seiner Lieblingstochter ins Nonnenkloster
zu Aicelri.^ ^lit inj^ondlieheni Entzücken las die Tochter, in welchem
Ansehen der h(»chverehrte Vater hei dem Manne gestanden, der nun
der höchste Herr der Christenheit geworden war. Kindlich denkt
sie sich aus, wie nun der Vater zur Thronbesteigung einen wunder-
schönen Brief an den Papst geschrieben habe, und ihr Verlangen ist,
wenn's möglich wäre, auch diesen zu lesen. Auch Galilei war in vollem
Maße empfänglich für den Abglanz der Herrlichkeit, der in den Augen
der Welt auf den Freund und Schützling des Auserwählten der Kirche
fiel. Auch ihm schwoll das Herz von stolzen Hoffnungen. Es ent-
sprach seinen Gewohnheiten, die Formen gesellschaftlicher Höflich-
keit mit der Gewissenhaftigkeit des Hofmanns zu wahren; dieses
Mal war es mehr als Form, wTun er außer den Freunden, die zum
päpstlichen Dienst berufen waren, auch den näheren Verwandten
des Papstes seine Glückwünsche in Ausdrücken darbrachte, die von
Genugtuung überströmten.
Für Galilei bedeutete diese Papstwahl nichts geringeres als die
l^röffnung neuer Aussichten für die Befreiung der Wissenschaft.
„Angelegenheiten von der größten Bedeutung für die Republik der
Wissenschaften bewegen mein Gemüt'", so schrieb er wenige Tage
nach der Ernennung Urbans an den Fürsten Cesi.- Wenn unsere
Wünsche bei solcher Gunst der Verhältnisse sich nicht verwirklichen
lassen, — so wird kaum zu hoffen sein, daß dies jemals geschehe.
Jetzt oder niemals, glaubte er, müsse es gelingen, eine Abänderung
oder Aufhebung des Dekrets gegen den Copernicus zu erwirken.
Niemand in der Republik der Wissenschaften hatte an einer
solchen Entscheidung größeren Anteil als Galilei. Er stand im sechzig-
sten Lebensjahr, und das Werk, das seit Jugendjahren als hohe
Lebensaufgabe ihm vorschwebte, das dem Geiste reif und vollendet
dastand, war unter dem Bann des kirchlichen Verbots noch immer
unausgeführter Entwurf geblieben.
Die sieben Jahre, die seit jener Entscheidung verflossen waren,
hatten genügt, ihn den Druck der Fessel in vollem Maße empfinden
zu lassen, aber die Äußerungen des Saggiatore beweisen, daß sie
ihn in seiner Gesinnung gegen die Kirche nicht wankend gemacht
i Ed. Naz. XIII p. 120, 122, 127.
■' Ed. Naz. XTTT p. 135. 140—141.
— 62 —
hatten. Unter solchen Umständen gab es keine Erlösung vom un-
ei-trägliehen Bann, als durch den freien Verzicht derselben Gewalt,
die Fessel und Bann über die (iläubigen verhängt hatte, und darum
mußte auch Galilei die VerN\irklichung seiner Hoffnungen — wenn
er jemals Erfüllung hoffen durfte — von dem neuen Träger der
päpstlichen Gewalt erwarten. Schon unter Gregor hatte ihm Ciam-
poli in der Zuversicht auf den eigenen Einfluß am päpstlichen Hofe
Andeutungen in dieser Hinsicht gemacht.^
Galilei war entschlossen, dem Papst persönlich seine Huldigung
darzubringen und bei dieser Gelegenheit für die Sache der freien
Wissenschaft einzutreten. Er ließ zunächst durch die Freunde am
päpstlichen Hof Erkundigungen einziehen, ob er auf gnädige Auf-
nalinie zu rechnen habe. Die Antworten lauteten überaus ermutigend.-
In Galileis Namen hatte Cesarini schon in den ersten Tagen
des neuen Regiments Sr. Heiligkeit den Fuß geküßt, und der Papst
hatte über das Zeichen der Ergebenheit seine Freude ausgesprochen.
.Jeder der Freunde suchte nun, bei passender Gelegenheit von Galilei
zu reden. „Ich schwöre Euch", schreibt ihm Thomas Einuccini^,
..daß nichts von allem, was ich sagte, unsern Herrn so sehr erfreut
hat, wie die Erwähnung Eures Namens; als ich dann Eures Wunsches
gedachte, erwiderte der Papst, es w^ürde ihn sehr freuen, Euch zu
empfangen, wenn es sich mit Eurer Gesundheit vereinen ließe, denn
die großen Männer, wie Ihr, müssen in jeder Weise darauf bedacht
sein, so lange als möglich zu leben." Als bald darauf* Fürst Cesi
zur Audienz erschien, empfing ihn der Papst mit den Worten: „kommt
Galilei? Wann kommt er?" „Die Stunde währt ihm tausend Jahre
bis dahin", erwiderte der Fürst. Alle wiederholten, daß der Papst
mit Liebe und Achtung von ihm rede. Einstimmig waren die Freunde
der Meinung, daß Galileis baldiges persönliches Erscheinen in Rom
nicht nur geraten, sondern um seiner Pläne willen unerläßlich sei.
Körperliche Leiden und ein ungewöhnlich rauher Winter nötigten
ihn gegen seine Neigung zu längerem Aufschub. Indessen war
dafür gesorgt, daß die Gesinnung des Papstes nicht erkaltete. Nur
1 S. d. Brief aampolis an Galüei vom 27. Mai 1623, der Kap. II, S. 41
ausführlich behandelt ist.
- Ed. Naz. XIII p. 124. 135.
3 Ed. Naz. XIII p. 139—140.
* Ed. Naz. XIII p. 140—141.
— 68 —
kurze Zoit nach Urbans Wahl im Herbst 1623 war der Saggiatore
erschienen. Die Widmung an den Papst^ im Namen der Akademie
der Lyncei von Virg. f'esarini verfaßt, gab nochmals dem Jubel und
den Hoffnungen, in denen die Freunde der Wissenschaft schwelgten,
wortreichen Ausdruck. Die Vorstellungen, in denen man den Papst
als den Mäzen aller edleren Bestrebungen gefeiert hatte, fanden
neue Nahrung in dem Interesse, das ürban alsbald dem Saggiatore
zuwandte; er ließ sich das Buch bei Tische vorlesen und folgte mit
großem Wohlgefallen bis zum Ende.-
Über den Eindruck des Saggiatoie in den weiteren Kreisen der
gelehrten und der gebildeten Zeitgenossen ist uns außer den be-
geisterten Kundgebungen der Freunde wenig erhalten. Unter den
Urteilen der Zeitgenossen nehmen die kurzen Bemerkungen Keplers
unser Interesse in Anspruch, Es ist das letzte Mal, daß wir den
großen Mann Galilei nahetreten sehen, das erste Mal, daß die beiden
nicht auf gleicher Seite kämpfen, aber um so schöner tritt Keplers
edle Denkweise aus seinem Urteil hervor. Seine Bemerkungen zum
Saggiatore^ finden sich im Anhang einer größeren Schrift, durch
die er die Lehre Tycho Brahes gegen Scipio Chiaramonti von
Cesena'* verteidigt, Kepler betrachtete sich nach Tychos Tode bei
aller Verschiedenheit der Ansichten und der Gesinnung als den natür-
lichen Vertreter des Mannes, dem er so viel verdankte. Er trat über-
dies in der Lehre vom himmlischen Ort der Kometen und der
Methode Tychos, ihn nachzuweisen, für die eigene Sache ein, für
einen Besitz, dessen er sich seit dreißig Jahren sorglos und ungestört
gefreut und den er, wie er war, den Nachkommen zu überliefern ge-
dachte. Seine Schrift, die sich als Schildhalter Tychos dem „Anti-
tycho" gegenüberstellt, will zugleich mit aller Sorgfalt untersuchen,
ob er selbst, „was er als Jüngling gelernt, als Mann gelehrt hat, nun
im abwärtsgehenden Lebensalter wieder verlernen und andern,
lehrend, nehmen muß."^
1 Ed. Naz. VI p. 201,
2 Ed, Naz. XITI p. 141, 146, 154.
^ Appendix Hyperaspistis seu spicilegiura ex trutinatore Galilaei.
Jo. Kepler! Opera ed. Frisch. Vol. VII p. 270—279.
* Tychonis Braliei Hyperaspistes. Jo. Kepieri Opera ed. Frisch.
Vol. VII p. 161—269.
* Jo. Kepler! opera ed. Frisch. Vol. VII p. 166.
— 64 —
Sein Urteil über Galileis Kometenlehre ist unausgesprochen in
dieser Verteidigung Tyehos gegen Chiaramonti enthalten. Die „Ähren-
lese aus Galileis Goldwage" läßt diese Hauptsache unberührt. Nicht
in den Streit zwischen Sar.si und Galilei will er sich einmischen, aber
seine Pflicht als Verteidiger nötigt ihn, so gut er kann, die Angriffe
zurückzuweisen, in denen auch der Saggiatore den Verdiensten, ja
der wissenschaftlichen Ehre Tycho Brahes zunahe tritt. ^ Keine Stelle
des Buches bleibt unberühi't, die von ihm redet (im Vorübergehen
finden dann auch die Bemerkungen ihre Erledigung, in denen Kepler
selbst genannt wird). Galilei hatte Tyehos Namen in ziemlich gering-
schätziger Weise erwähnt. So hatte er gelegentlich den Vorwurf
der Unwissenheit in einfachen geometrischen Dingen gegen ihn er-
hoben; bei der Entscheidung über die Kleinheit der Kometenparallaxe
sieht er ihn völlig willkürlich Beobachtungen auswählen, die seiner
Absicht entsprechen, andere verwerfen, die widersprechen. Kepler
weist wenigstens in einzelnen Fällen diese Vorwürfe mit voller Über-
zeugung zurück. Jene Fehler und Irrtümer sind, wenn man sich
an die Worte hält, unbestreitbar vorhanden; aber wer Tyehos große
Leistungen kennt und bei den Worten an den Mann denkt, kann
den Grund nicht in einer Unwissenheit suchen, die bei Schülern zu
tadeln wäre; Sorglosigkeit im Ausdruck, ein unglücklicher Zufall
beim Druck, selbst eine augenbUcMiche Gedankenschwäche könnte
passender zur Erklärung dienen, um so mehr, als diese scheinbaren
Fehlgriffe für Tyehos Hauptbeweis ohne jede Bedeutung sind. -
In dem anderen Falle mag Kepler so wenig glauben, daß' Galilei
ernstlich den ersten aller astronomischen Beobachter der Gewissen-
losigkeit zeiht, daß er vernnitet, er sei vor allem darauf bedacht
gewesen, Guiducci Wort für Wort gegen den Angriff zu verteidigen;
er kann nicht zweifeln, daß Galilei, wenn irgend jemand, weiß, wie
weit „Minzen von Lupinen verschieden sind" 3, und welcher Unter-
schied zwischen Tyehos unglaublicher Sorgfalt in Beobachtungen
und der gewöhnlichen OberflächHchkeit der meisten Beobachter be-
steht. In der Schrift gegen Chiaramonti hat er den gleichen Vorwurf
1 Jo. Kepler! opera ed. Frisch. Vol. VII p. 270.
^ Vergl. Keplers merkwürdige Verteidigung der geometrisch sinnlosen
Stelle Astron. inst. II 125 im Tychonis Hyperaspistes (Jo. Kepleri opera
Vol. VII p. 194, ergänzt p. 270).
^ Jo. Kepleri opera ed. Frisch. Vol. VII p. 277.
— 65 —
in aller Gründlichkpit widerlegt, hier weist er nur darauf hin, daß
Tychos eigene Beobachtungen vollkommen ausreichen und von ihm
ausschließlich benutzt werden, um zu erweisen, worauf es ankommt;
dann aber habe er die Beobachtungen anderer verglichen und unter
ihnen keineswegs ausgewählt, was die seinigen bestätigte, sondern
nach denselben Grundsätzen die besseren gesondert, nach denen er
die eigenen den übrigen vorgezogen hatte. Niemand war in dieser
Beziehung ein besserer Kenner und ein besser berechtigter Kichter
als der Forscher, der seine größten Entdeckungen nicht unabhängig
von Tychos neuer Kunst der astronomischen Beobachtung und ihren
großen Ergebnissen zu denken vermochte. Aus vollster Sachkenntnis
konnte Kepler gleichfalls erwidern, wo es sich um Tychos Weltsystem
handelte. Auch hier mußte er, so zweifellos für ihn die Überlegenheit
der copernicanischen Lehre begründet war, den wegwerfenden Äuße-
rungen Galileis widersprechen, nach denen von einem tychonischen
System nicht zu reden sei. In der Tat hatte Tycho eine völlige Dar-
stellung der Himmelserscheinungen nach seiner Hypothese „ver-
sprochen", und dies Versprechen war unausgeführt geblieben, aber
sein System konnte nicht als ein nicht vorhandenes bezeichnet werden;
ohne die eigene Ansicht im Dunkeln zu lassen, muß Kepler doch
behaupten, daß Tychos Lehre viele sch^^ierige Probleme der Planeten-
kunde zu lösen wohlgeeignet ist, daß sich die meisten copernicanischen
Deutungen leicht in ihre Sprache übertragen lassen. Galilei hatte
geäußert, daß erst durch seine Entdeckungen über die Veränderung
in der scheinbaren Größe des Mars die Stellung der Erde inmitten
der Marsbahn beseitigt sei. Kepler hat für diese Entdeckung freudige
Anerkennung, aber eine solche Bedeutung kann er ihr nicht zu-
gestehn; es waren Tychos Beobachtungen, aus denen er selbst, noch
vor der Erfindung des Fernrohrs, Erdabstände berechnet hat, die
der Annahme des Copernicus über die Stellung des Mars im Planeten-
system entsprechen. Nicht ohne Verwunderung kann Kepler bei
dieser Gelegenheit wahrgenommen haben, daß Galilei dem ganzen
Bereich dieser Forschungen über den Mars wie völKg fremd gegen-
übersteht. Er wußte das Buch über die Bewegung des Mars in seinen
Händen, er selbst hatte es ihm vor fünfzehn Jahren übersandt;
die gleiche Lehre hatte er vor drei Jahren in der systematischen
Darstellung seiner „copernicanischen Astronomie" wiederholt; aber
kein Wort in Keplers Bemerkungen deutet Überraschung oder Be-
Wohlwill, Galilei. II. 5
— 66 —
fremden an; er wiederholt in aller Kürze die Annahmen, die er dort
der Berechnnng zugrunde legt; er füi'chtet nicht, äußert er, daß
Galilei diese Annahmen leugnen will und deshalb Tychos Beobach-
tungen jene Bedeutung streitig macht; er meint, daß nur der Eifer
des Streits ihn fortreiße; „als der unerbittliche Orkus dem Orpheus
seine Euridice versagte und Thrazien andere Mädchen ihm entgegen-
führte — da soll er, vom Haß gegen das ganze übrige Geschlecht
ergriffen, seine Worte nicht zwar mit Überlegung, aber vom bitteren
Schmerz überwältigt, auch gegen Euridice selbst gerichtet haben. "^
In höherem Grade noch befremdend klingen für Kepler die
Äußerungen, in denen die beiden Gegner übereinstimmend von
Copernicus reden. Kepler begreift weder das Verbot, noch die Unter-
werfung. Aber auch hier vermeidet er Galilei gegenüber jedes strengere
Wort. Mit dem ganzen Unwillen einer edlen Gesinnung wendet er
sich gegen Sarsis heuchlerisch eingekleidete Verdächtigungen; nur
als Sarsis Äußerungen führt er die Verwahrungen des frommen Katho-
liken an, nur ihn sieht er untersuchen, ob die falsche copernicanische
Lehi'e, falsch me sie ist, den Erscheinungen genügen könne und
findet, daß er dabei wie zwischen lauernden Hunden den Toren der
Wahrheit zustrebe; so sehr verlangt er, die Tore zu erreichen, so
vorsichtig fragt er, daß er nicht gebissen wird. Kepler versteht nicht
oder \dll nicht verstehen, daß die römischen Herrscher in Wirklich-
keit sich eine Entscheidung anmaßen, die ihrem Machtbereich ent-
zogen ist; die stärkere Vermutung spricht in ihm dafür, daß nur
die knechtische Gesinnung den Willen der Gebieter zu dem gestalte,
was sie knechtisch befolgen. „Täuscht mich nicht alles", ruft er
aus, „so füi-chtet Aegle die Stirn des Silen, die sie selbst mit
Mennig angestrichen; mag denn Perillus in eigener Qual seinen
Ochsen brüllen lehren." ^
All diese Worte wenden sich gegen Sarsi, aber im Kern der
Sache treffen sie Galilei mit. Kepler nennt ihn nicht, keins seiner
Worte könnte dem, der nur durch ihn vom Saggiatore weiß, ver-
raten, daß auch Galilei dem Machtspruch gegenüber vollen Gehorsam
zur Schau trägt. Zsur einen jener merkwürdigen Sätze findet man
zitiert, aber auch hier deckt Keplers lateinische Übertragung mit
1 Jo. Kepler! opera ed. Frisch. Vol. VII p. 271f.
- Ibid. p. 276.
— 67 —
absichtlicher Ungciiauigkeit die demütigen Worte des Originals, er
überhört ,,die Wohltat für die Katholiken"; statt der „erhabenen
Weisheit", die von Rom kommt, setzt er „ein übernatürliches Licht",
und so kann er selbst der Meinung seine Zustimmung nicht versagen,
daß schwerlich Tycho die Forscher über den Irrtum des Copernicus
aufgeklärt hätte, wenn nicht „ein übernatürliches Licht sie erleuchtet
hätte"; „auch auf Tycho", fügt Kepler hinzu, „ist, wie mich dünkt,
etwas von jenem übernatürlichen Licht durch eine enge Ritze herab-
gestrahlt, und dieser Strahl hat seine Augen von dem hellglänzenden
Gestirn des copernicanischen Systems auf sein eigenes gelenkt."
„Aber denen", schließt er — um völlig klar zu sein — , „die
etwas stärkere Augen haben, verschwinden nicht sofort beim Aufgang
der Sonne die übrigen Gestirne, namentlich wenn sie gesondert bald
jene, bald diese anschauen, ein jedes an seinem Ort und Bezirk. "^
Daß Galilei nicht anders dachte, \Mißte Kepler trotz der wider-
sprechenden Worte, daß man so denken und die Worte den Gedanken
verleugnen lassen konnte, das allerdings w^ar ihm seinem innersten
Wesen nach fremd und unbegreiflich. Aber nur zwischen den Zeilen
eines offenen Bekenntnisses läßt sich, wenn man deuten will, ein
leiser Vorwurf für Galilei lesen, Mit voller Absicht sucht er, wie hier,
so in allen Teilen der Beurteilung im Streit, wie in der Zustimmung
die freundschaftliche Form zu wahren, in allem Freimut der Rede
läßt er nirgends den Ausdruck der vollen Achtung vermissen, der
dem ebenbürtigen Geist gebührt, und so versäumte er auch nicht,
zum Schluß den übrigen Inhalt des Buchs als überaus reich an
Gedanken und Versuchen zu kennzeichnen, in vollem Maße würdig,
bei den Freunden der Philosophie Lob und Gunst zu finden. -
Galilei scheint so wenig für die milde Form wie für den ernsten
Gehalt in den Einwürfen seines Kritikers offenen Sinn gehabt zu
haben; sein Urteil über Keplers Bedenken lautet überraschend gering-
schätzig. Zum ersten Male tritt bei dieser Gelegenheit in bestimmten
Äußerungen der tiefe Gegensatz der Naturen der beiden Männer
zutage, die bis dahin trotz aller bewußten Verschiedenheit im Denken
und Reden sich als Freunde nahegestanden hatten. Vor allem war
Keplers Schreibweise Galilei in hohem Maße unsympathisch, und
^ Jo. Kepler! opera ed. Frisch. Vol. VII p. 274.
- Ibidem p. 279.
— 68 —
in der Tat läßt sich kaum ein größerer Gegensatz denken, als seine
schwungvolle, schmuck- und bilderreiche, tausendfältig abschweifende
Darstellung neben der durchsichtigen Klarheit, Einfachheit und
Sauberkeit in Galileis Stil. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß diese
starke äußerliche Abneigung Galileis ihn unfähig gemacht hat, in
Keplers Werken unter den vielen Dingen, die ihn abstießen, bis zum
Kern der größten Entdeckungen zu gelangen. Was sich aus ander-
weitigen Andeutungen vermuten läßt, ^^'ird in seinen Äußerungen
über die Randglossen zum Saggiatore ziemUch ununn^imden aus-
gesprochen.^
Galilei empfing „die Ährenlese zum Saggiatore" zugleich mit
einer neuen peripatetischen Schrift Chiaramontis gegen die Be-
wegung der Erde; er trägt kein Bedenken, beide Schriften in raschem
Urteil zusammenzufassen; die eine wie die andere erscheint ihm
überaus schwach. „Alles in allem", schreibt er einem Freunde in
Bologna, freilich in vertrautem Briefwechsel^, ,, bestärken mich die
Schöpfungen dieser ersten Männer — er redet noch immer von Kepler
und Chiaramonti zugleich — einigermaßen in der geringen, und ich
kann sagen kleinmütigen Meinung, die ich immer von meiner Be-
gabung gehegt habe." Seltsam genug gesteht er auf demselben Blatt,
daß er von Keplers Anhang das allerwenigste verstehe, er wisse nicht,
ob das an seiner geringen Fassungsgabe oder an dem ausschweifenden
Stil des Verfassers Hege; er fürchtet, weil er seinen Tycho nicht gegen
die Anschuldigungen des Saggiatore habe verteidigen können, habe
Kepler für gut befunden, zu schreiben, was andere, und vielleicht
auch er selbst, nicht verstehen können. Eine solche Auffassung ist,
selbst wenn man vergessen könnte, gegen wen sie gerichtet ist, dem
Inhalt jenes Anhangs gegenüber kaum verständlich, wenn man nicht
an eine Art instinktiver Scheu vor der fremdartigen Weise Keplers
denken will.
Geben diese Worte nur den ersten Eindruck nach flüchtigem
Durchblättern wieder, so fiel das Urteil, nachdem er nach ruhigem
Lesen nochmals beide Schriften zusammenwirft, um nichts gerechter
oder milder aus; Keplers Einwürfe scheinen ihm von der allerleichtesten
Art. , Um seines, wie um Keplers Namens willen, dünkt ihm eine
1 Ed. Naz. XIII p. 290, 292, 297. 299. 301. 305. 310, 315.
- Ed. Naz. XIII p. 302. 326, 328, 331.
— 69 —
Erwiderung unerläßlich, wiewohl ein jeder, der nur mittelmäßig in
Arbeiten dieser Art bewandert ist, selbst sehen wird, daß alles Un-
recht auf Keplers Seite ist. Von der beabsichtigten Erwiderung ist
in weiteren Briefen an Caesar Marsili noch wiederholt die Rede,
und jedes Mal fügt Galilei hinzu: die Autwort sei eine Kleinigkeit;
sie ist jedoch in zusammenhängender Form nicht erschienen, nur
auf Einzelheiten geht er gelegentlich in den späteren Schriften ein.
Daß er auch jetzt in Keplers Zitaten keine Veranlassung fand,
sorgsamer als zuvor sich mit den ,, Kommentaren über die Bewegungen
des Mars" zu beschäftigen, beweisen diese späteren Werke.
Mit größerer Teilnahme folgte er dem Eindruck, den sein Buch
im Collegium Romanum hervorrief. Die Freunde in Rom waren
beauftragt, ihm von allem, was sich darüber erspüren ließ, Kunde
zu geben. Sie berichteten getreulich, was irgend von Grassi und
seinen Ordensgenossen laut wurde. ^
Grassi war einer der ersten, der den Saggiatore im Laden des
Buchhändlers forderte; er wechselte die Farbe, als er das Titelblatt
sah; „drei Jahre", sagt er, ,,hat mich Galilei auf diese Antwort warten
lassen, ich aber", läßt ihn der Erzähler hinzufügen, .,^^11 ihn binnen
drei Monaten aus der Ungewißheit l)efreien".
Bald hieß es: ein Pater des Collegiums habe das Buch gelesen
und finde es vortrefflich; Galilei — sollte er geäußert haben — habe
sich allzu bescheiden benommen, Sarsi werde zu tun haben, wenn
er antworten wolle. Alles in allem schien es, als ob die Väter sich
gut behandelt fanden. Hatte der Pater flüchtig gelesen, oder wußte
er nur so gut die wahre Empfindung zu verhüllen — der Verlauf
entsprach diesen ersten freundlichen Äußerungen nicht.
Auch Grassi sprach sich anfangs lobend aus, nur über Galileis
ironische Ausfälle hatte er Klage zu führen; er werde ihm antworten,
sagte er, aber ohne Gehässigkeit; wenn er nach Rom käme, wollte
er sich mit ihm befreunden. Ernster wurden die Berichte, als mit
der weiteren Verbreitung des Buchs die Jesuiten sich mehr und mehr
in der öffentlichen Meinung spottendem Urteil ausgesetzt sahen.
T^un fanden sich natürlich die Leute, die Sarsis Einwendungen nie
der Rede wert gefunden hatten; in einem Brief aus Florenz^ mußte
1 Ed. Naz. XIII p. 145.
2 Ed. Naz. XIII p. 232, 236.
— 70 —
Grassi die aufreizenden Worte lesen: der Saggiatore müsse wohl
sämtlichen Jesuiten den Mund geschlossen haben, sie würden nicht
wissen, was noch zu antworten sei. Aufwallend ließ sich Grassi
darüber vernehmen: wenn die Jesuiten im Laufe des Jahres so vielen
Häretikern zu antworten wissen, so werden sie es auch wohl noch
mit einem Katholiken aufnehmen.
Unmittelbar darauf erging an die Jesuiten der strenge Befehl,
die ganze Angelegenheit fernerhin mit keinem Wort zu berühren.
Daß ein Jesuit, und einer der gelehrtesten, dem Florentiner Mathe-
matiker gegenüber den kürzeren gezogen, war allen Lesern des
Saggiatore offenbar geworden; so blieb von weiteren Diskussionen
weder Ehre noch Nutzen zu hoffen; nach außen wenigstens suchte
man den Orden von der Sache des Ordensbruders zu trennen; als
Grassi seine Antwort zustande gebracht hatte, sah er sich für die
Veröffentlichung auf die eigenen ^Vlittel angewiesen; er mußte sich
nach Paris wenden, um niu* einen Verleger zu finden.
Aber mit den Worten waren die Empfindungen nicht unter-
drückt, der Eint' ruck der empfangenen Beleidigung bheb unver-
gessen. Auch Grassi wußte unter der Maske der Liebe und Verehrung
ungezähmten Groll im Herzen zu wahren. Er suchte mit Galilei
und seinen Freunden freundschafthche Beziehungen anzuknüpfen,
allem Anscheine nach, um im näheren Verkehr seine verwundbaren
Seiten um so sicherer kennen zu lernen.
Als Guiducci bald nach dem Erscheinen des Saggiatore nach
Rom kam, bemühte sich Grassi um seine Bekanntschaft^; befreundete
Jesuiten suchten eine Annäherung zu vermitteln; Guiducci weigerte
sich zu wiederholten Malen, ihn zu sehen-, aber die Freunde ließen
nicht nach; als Guiducci im folgenden Jahre erkrankt darniederlag,
überhäuften sie ihn mit Aufmerksamkeiten, und als sie nun von
neuem fragten, ob sie den Pater Grassi zu ihm führen dürften — da
fürchtete Guiducci undankbar zu scheinen, wenn er sich weiter
weigere. Schon am nächsten Tage fand Grassi sich ein; er trat dem
Kranken so liebenswwdig und herzlich entgegen, „als wären sie alte
Bekannte". Von „Wage" und „Goldwage" war nicht mehr die Rede,
dagegen waren der Hauptgegenstand des Gesprächs Galilei und seine
Werke. Der Pater erzählte, daß er sich genötigt gesehen habe, eine
1 Ed. Naz. XIII p. 199.
2 Ed. Naz. Xni p. 202.
— 71 —
Schrift des Erzbischofs von Spalatro über Ebbe und Fhit die Zensur
passieren zu lassen; de Dominis war einer der ersten, der die An-
ziehung des Mondes zur Erklärung der Fluterscheinung verwandte.
Beide Männer lobten die Schrift. ,,AVir haben jedoch", warf Grassi
hin, „über denselben Gegenstand die Schrift des Herrn Galilei, die
äußerst scharfsinnig ist." Guiducci stimmte lebhaft zu. So war man
— wie durch Zufall — nach wenigen Worten bei der Bewegung der
Erde. Guiducci päumte nicht, zu versichern, daß Galilei sich dieser
Lehre als Hypothese und nicht als Wahrheit bediene — , Grassi seiner-
seits bekannte, daß, wenn sich ein Beweis für diese Bewegung fände,
man die Heilige Schrift anders auslegen müsse, als es bisher an den
betreffenden Stellen geschehen sei; so sei die Meinung des Kardinal
Bellarmin gewesen. Natürlich erklärt Guiducci seine vollkommene
Zustimmung.^
Auch bei späterem Zusammentreffen bildete die copernicanische
Lelire regelmäßig den Hauptgegenstand der Unterredung. Als Gui-
ducci bald nach jenem ersten Besuch ins Collegium Romanum kam,
um einen befreundeten Pater predigen zu hören, eilte Grassi, sobald
er seiner ansichtig wurde, auf ihn zu und wich nicht von seiner Seite,
bis er das Haus verließ. Sofort befragte er ihn über eine Äußerung,
die ein angesehener Jesuit schon in Padua von Galilei gehört haben
wollte: Galilei sollte nämlich einem bekannten Bedenken gegen die
Erdbewegung durch die Behauptung widersprochen haben, daß eine
Kugel, die vom Mastkorb niederfällt, am Fuße ankommen und nicht
zurückbleiben wird, gleichviel, ob das Schiff in Ruhe oder Bewegung
ist. Guiducci erwiderte, die Sache verhalte sich so und sei durch
viele Versuche erwiesen. Grassi gab seinem Zweifel unverhohlenen
Ausdruck; nach aristotelischer Erklärungsweise meinte er, daß, wenn
der Versuch zutreffe, wohl das Fahrzeug die Luft, und diese die Kugel
bewegt habe. Guiducci führte andere Versuche an, in denen dieser
Einwurf keinen Raum fand; aber der Pater fand die Sache schwierig.
Indessen ging man zur Predigt.
Ln Groll der Jesuiten lag eine Ermunterung auch für die alten
Gegner; schwerlich war es ein Zufall, daß sich gerade in der Zeit der
ersten Verbreitung des Saggiatore die Stimme des Pater Caccini von
neuem vernehmen ließ.- Sicher — hörte man ihn äußern — wäre
1 Ed. Naz. XIII p. 199, 202, 205, 209, 210.
2 Ed. Naz. XIII p. 156.
Galilei iin Jahre 1616 der Inquisition übergeben, wenn nicht manche
hohe Herren ihm ihren Schutz gewährt hätten. Der Pater Castelli,
der Galilei davon berichtete \ fügt in frommer Entrüstung hinzu —
als ob die hohen Herren das Heilige Offizium hinderten und schlechte
Menschen beschützten, und dann gar das Heilige Offizium auf hohe
Personen Rücksicht nähme, wenn es sich darum handelte, Vergehen
gegen die Religion zu züchtigen; mir scheint, der Pater selbst ver-
diene, der Inquisition übergeben zu werden!
Von solchem Eifer gegen die Übereifrigen war man in Rom auch
in jenen Tagen weit genug entfernt, aber ebensowenig war die Lage
der Dinge neuen Intriguen gegen Galilei günstig. Im April 1624 kam
Galilei nach Rom-; er reiste über Acquasparta, um dort mit dem
Fürsten Cesi vorzuberaten, wie am besten das große Unternelmien
zum Ziel zu führen sei. Eine Trauerbotschaft wartete seiner in Rom.
Unter der kleinen Zahl auserwählter Freunde, die mit schwärmerischem
Verlangen seiner Ankunft entgegensahen, war der treuesten einer,
Virginio Cesarini, nur wenige Tage zuvor der Lungenschwindsucht
erlegen.^ Der schmerzhchen Enttäuschung, die ihm der Tod des
Freundes bereitete, gesellte sich für Galüei bald eine noch herbere
hinzu, als er nach kurzem Aufenthalt in Rom erkennen mußte, daß
für eine Verwirkhchung seiner Hoffnungen die Aussicht gering war.
Urban empfing ihn mit gnädigem Wohlwollen; die einflußreichsten
Kardinäle bewiesen ihm ehrende Aufmerksamkeit^, aber ihnen allen
lag der Gegenstand seiner Sorgen fern; hundert Angelegenheiten,
die der Augenblick brachte, schienen unendhch wichtiger und
nahmen das Interesse so vollständig in Anspruch, daß an eine ernst-
liche Erörterung der wissenschaftlichen Frage nicht zu denken war.
Gelang es, die Unterredung in gewünschte Richtung zu lenken, so
war wohl hier und dort, wie Galilei dem Freunde schrieb, „Land zu
entdecken", aber sicher sah er zimi Ungewissen Ziel nur lange, be-
schwerliche Wege führen.
Cesi mahnte zum Ausharren^; nur von langhingezogenen Ver-
handlungen dürfe man sich in Rom Erfolg versprechen. „Euer Rat",
1 Ed. Naz. XIII p. 388ff.
- Ed. Naz. XIII p. 169, 175, 177.
" Ed. Xaz. XIII p. 171, 174.
* Ed. Xaz. XIII p. 177—183, 185.
5 Ed. Xaz. XIII p. 180.
— 73 —
erwiderte Galilei^ wäre höchst vortret'llich, ^Yenn nur aucii die ^'atur
sich darauf einlassen wollte, die wenigen Tage, die mir übrigbleiben,
in Jahre oder Monate zu verwandeln; wohl finde ich täglich bewährt,
wie manches sich erreichen ließe, wenn mir nur Zeit, Gelassenheit
und Geduld nach Wunsch zu Gebote ständen; aber die Sorge, daß
die Zeit mir versagt ist, und das Verlangen, den einen oder andern
meiner Gedankengänge zum Abschluß zu bringen, macht es mir
ratsam, mich sobald als möglich in meine Ruhe und oziosa libertä
zurückzuziehen."
Galilei blieb trotz aller Entmutigung noch einen vollen Monat
in Rom. Sechs Mal hatte er längere Unterredungen mit dem Papst.
Berichte über den Inhalt sind uns nicht erhalten und sind vielleicht
niemals niedergeschrieben; wir wissen nur, daß Galilei bei dieser
Gelegenheit vor dem Papst mit voller Wärme für die Walirheit der
copernicanischen Lehre eingetreten ist, um eine Aufhebung des
Dekrets zu erwirken. So hebt er insbesondere hervor, daß die neue
Lehre in den Ländern der Ketzer zu immer allgemeinerer Anerkennung
gelange, und daß ein Makel auf die wissenschaftliche Einsicht der
Katholiken falle, ein Vorwurf gegen die Kirche selbst einen Schein
von Berechtigung gewinne, wenn sie eine solche Lehre verdamme,
zumal der Verdacht entstehen könnte, als sei dies Urteil auf die
nichtigen Argumente gegen den Copernicus begründet, die seit der
Zeit des Verbots - gewissermaßen als katholische Wissenschaft dar-
geboten werden.
Galilei veranlaßte den Kardinal Zollern. der als Deutscher über
die Verbreitung der copernicanischen Lehre in seiner Heimat be-
richten konnte, in diesem Sinne den Papst auf die Gefahren der
kirchhchen Entscheidung hinzuweisen.^ Der Papst erwiderte dem
Kardinal: die Kirche habe die copernicanische Lehre keineswegs als
ketzerisch verdammt und werde sie auch nicht als ketzerisch ver-
dammen, sie sei nur als verwegen erklärt, und übrigens, fügte Urban
zuversichtlich hinzu, sei nicht zu besorgen, daß man jemals einen
zwingenden Beweis für die Wahrheit dieser Lehre finden werde.
Nach solchen Aufschlüssen konnte Galilei nicht länger darüber
im Zweifel sein, daß ein Erfolg nach seinem Sinn in unberechenbarer
Ferne liege; auch jetzt noch glaubte er, daß bei längerem Weilen
1 Ed. Naz. XIII p. 182—183.
2 Ed. Naz. XIII p. 179, 182; XIX p. 409.
— 74 —
mit jedem Tage mehr auf Fortschritte als auf Verlust zu zählen sei;
aber die Aussicht auf Verhandlungen ohne Ende sehreckte ihn ab;
der Gedanke, daß ihm vielleicht nur noch eine kurze Frist zu leben
vergönnt sei, erlaubte kein Zögern. Alles trieb ihn zur Heimkehr.
Er war mit dem Ritter von Este in langer Unterredung und in Heiter-
keit zusammen gewesen; wenige Tage darauf war der Ritter gestorben;
ein Sporn, schreibt er, eine Mahnung auch für mich, wie die Zeit
dahinrafft (rapacita). Die Freunde mußten ihm Recht geben. So
kehrte er im Juni nach mehr als zweimonatlichem Aufenthalt nach
Florenz zurück. Der Papst entließ ihn huldvoll, wie er ihn auf-
genommen hatte; mehrfach hatte er ihn auch während seines Aufent-
halts durch äußerliche Gnadenbeweise ausgezeichnet; er beschenkte
ihn mit einem Gemälde, mit einer goldenen und einer silbernen Denk-
münze und mit vielen Gotteslämmchen; so verhieß er ihm auch beim
Abschied ein Jahrgeld für seinen Sohn Vincenzo; Monsignor Ciampoli
wurde beauftragt. Sr. Heiligkeit das Versprechen ins Gedächtnis zu
rufen; damit aber auch am Florentiner Hof erkannt werde, vde nahe
Galilei dem päpstlichen Herzen stehe, erließ Urban ein besonderes
Breve an den Großherzog Ferdinand, in dem er seinen Gesinnungen
lebhaften Ausdruck gab. ,, Schon lange", heißt es darin, „umfassen
wir diesen großen Mann, dessen Ruhm am Himmel leuchtet und
über die Erde schreitet, mit väterlicher Liebe. Denn wir kennen in
ihm nicht nur den Glanz der Gelehrsamkeit, sondern auch den Eifer
der Frömmigkeit, und er ist reich an solchem Wissen, durch das
unser päpstliches Wohlwollen leicht envorben wd. Xun aher, da
er nach Rom gekommen, uns zur päpstlichen Würde zu beglück-
wünschen, haben wir ihn mit großer Liebe aufgenommen und haben
ihn mit Freuden zu wiederholten Malen gehört, wie er den Glanz
der Florentiner Beredsamkeit in gelehrten Disputationen mehrte.
Nun aber wollen wir nicht, daß er ohne eine reiche Mitgabe päpst-
licher Liebe in die Heimat zurückkehre. Alles Gute"', schließt das
Sendschreiben, ..was Du, edler Fürst ihm erweisest, würde uns zur
Genugtuung gereichen."^
Die Frucht der römischen Reise war für Galilei der Entschluß,
ohne Verzug die längst begonnenen Werke zur Vollendung zu bringen;
was dann, wenn sie vollendet waren, mit ihnen geschehen sollte.
1 Ed. Naz. XIII p. 183 f.
— 75 —
wollte er den Umständen und dem Rat der Freunde überlassen.
Als nächste, wichtigste Aufgabe betrachtete er die Erweiterung seiner
kurzen Betrachtungen über Ebbe und Flut zu einem umfassenderen
Werk, das unter dem gleichen Titel die Beweise für die eopernicanische
Lehre zusammenstellen sollte.
Ehe er jedoch diese größere Arbeit in Angriff nahm, hatte er
einen jener zahlreichen Gegner des Copernicus abzutun, die unter
dem Schutze des Dekrets zu unverdientem Ansehen gelangt waren.
Schon im Jahre 1616, als Galilei in Rom den Copernicus ver-
teidigte, hatte ihm Francesco Ingoli, ein Advokat in Ravenna, eine
Widerlegung seiner Lehre zugesandt mit der Aufforderung, ihm zu
antworten, wenn er Irrtümer oder Trugschlüsse in seinen Behaup-
tungen entdeckte.^ Es war ein Machwerk von untergeordnetster Art;
neben den gewöhnlichen Einwendungen gegen die Bewegung der
Erde, die er dem Aristoteles, Ptolemäus und Tycho Brahe ent-
nommen, hatte Ingoli Betrachtungen eigener Erfindung eingestreut,
die eine absolute Unwissenheit in den elementaren Begriffen der
Astronomie und Geometrie verraten. „Der Punkt im Zentrum",
deduziert er unter anderem^, ,,muß eine größere Entfernung von der
Kugeloberfläche haben, als jeder Punkt zwischen Zentrum und Ober-
fläche, und demgemäß muß seine Parallaxe größer sein, als die eines
Körpers außerhalb des Zentrums ; nun hat aber der Mond eine größere
Parallaxe als die Sonne, also kann die Sonne nicht im Zentrum
stehen." Galilei hätte es vielleicht nicht für überflüssig gehalten,
auch den baren Unsinn dieser neuerfundenen Mathematik zu be-
leuchten, wenn nicht die Entscheidung der Index-Kongregation ihm
Schweigen auferlegt hätte.
Als er nun, acht Jahre später, nach Rom zurückkehrte, fand er
zu seiner Überraschung, daß man Ingolis Gründe als wissenschaftliche
Argumente betrachtet und aus seinem Schweigen gefolgert hatte,
er sei außerstande zu antworten. Galileis Andeutungen machen
wahrscheinlich, daß im Jahre 1624 einflußreiche Kardinäle, vielleicht
der Papst selbst, sich auf diese dürftigste aller Widerlegungen beriefen.^
1 Ed. Naz. V p. 397-412.
2 Ed. Naz. V p. 404.
3 Auch Personen von solcher Stellung, daß sie auf das Urteil der Index-
Kongregation einen Einfluß üben konnten, haben Euren Beweisen nicht
geringe Achtung zuteil werden lassen. Ed. Naz. VI p. 510/11.
— 76 —
So fand es Galiloi geraten, noch jetzt dem untergeordneten
Gegner zu erwidern; die Antwort bot ihm zugleich die Gelegenheit,
zu erproben, wie weit unter den veränderten Verhältnissen ein offenes
Auftreten zugunsten der unterdrückten Lehre zu wagen sei. Die
Antwort an Ingoli ist die erste Schrift, die er ausschließlich der vässen-
schaftlichen Verteidigung des Copernicus gewidmet hat.^
Wie sehr Galilei sich bewußt war, daß es sich dabei um einen
ernsten Schritt handelte, geht aus der ganzen Stimmung dieser
Schrift hervor; in ruhiger Milde lehrend und aufklärend verbreitet
er sich über die wichtigsten Scheingründe; wie oft der Stoff auch
die Veranlassung dazu bietet, so hört man doch kaum einen Anklang
an die Bitterkeiten des Saggiatore, zu denen ihn dort der Überdruß
am ungleichen Kampfe fortriß. Allerdings läßt Galilei keinen Zweifel
darüber aufkommen, wie er über seinen Gegner denkt. Er habe
geschwiegen, sagt er einleitend, weil er geglaubt habe, so am besten
Ingolis höfliches Benehmen erwidern zu können; denn nur so sei es
möglich gewesen, ihm die Freude nicht zu verderben, die er ohne
Zweifel an der Widerlegung eines großen Mannes gefunden habe;
nur so, seinen Ruf so wenig als möglich zu schädigen. Auch habe er
nicht glauben können, daß irgend jemand ihm weniger Einsicht
zutrauen würde, als erforderlich wäre, um jene Gründe samt und
sonders zu widerlegen. Nun, da er es als richtig erkannt habe, nicht
länger zu schweigen, erbittet er Ingolis Verzeihung, wenn ihm die
Antwort mißfalle — er selbst sei Schuld daran; denn wenn er die
Hand aufs Herz gelegt und bedacht hätte, daß Copernicus auf diese
überaus schwierigen Betrachtungen so viele Jahre verwandt, als er
dazu Tage gebraucht habe — so hätte er sich eines Besseren besinnen
und sich nicht leichtmütig einreden dürfen, daß er einen solchen
Mann zugrunderichten könne, und namentlich mit solcher Art von
Waffen, und wenn darunter etwas von seiner eigenen Erfindung,
so sei das von noch geringerem Gewicht als das übrige. „So habt Ihr
glauben können", ruft Galilei aus, „daß Nicolaus Copernicus nicht
in die Geheimnisse des alleroberflächlichsten Sacrobosco eingedrungen
sei? Daß er nichts von Parallaxe verstanden? Daß er den Ptole-
mäus und Aristoteles nicht gelesen oder nicht verstanden ? Ich wundre
mich nicht, daß Ihr Euch zugetraut habt, ihn widerlegen zu können,
da Ihr ihn so wenig geachtet habt."
1 Ed. Naz. VI p. 501—561.
— 77 —
Nicht minder entschieden redet Galilei, wo er im einzelnen prüft,
a.ber in aller Klarheit und Schärfe des Widerspruchs behandelt er
doch den Gegner wie einen guten Freund, den er üljer seine Ver-
iiTungen aufzuklären hat. Mit liebenswürdiger Heiterkeit läßt er
sich darauf ein, Ingoh die Grundbegriffe der Parallaxenlehre zu ver-
deutlichen und den WirrwaiT seiner Berechnungen über die Parallaxe
von Sonne und Mond zu lichten.
Geduldig geht er auf den astrologischen Einwurf ein, daß die
Fixsterne in der Entfernung, die ihnen Copernicus zuweist, nicht auf
die Erde wirken könnten und scherzt über den Beweis, den Ingoh
der verschiedenen Wirkung der Sonne im Winter und im Sommer
entnimmt, der doch weit besser für die entgegengesetzte Meinung zu
benutzen sei, daß das Fernere stärker wirke.
Von einer Erörterung der eigentlich copernicanischen Lehre ist
dabei nicht die Rede. Ingoli berührt sie nicht; er hat sie schwerlich
verstanden. So hat auch Galilei in seiner Erwiderung weniger die
Beweise des Copernicus zu vertreten und zu vervollständigen, als
vielmehr die üblichen Betrachtungen abzuwehren, die eine Bewegung
der Erde als unmöglich erscheinen lassen. Die Fragen, die darauf
Bezug haben, sind für die Wissenschaft von geringerer Bedeutung;
Copernicus hatte sie fast beiläufig in kurzen Worten erledigt; wenn
seine Lehre Wahrheit verkündet, müßten sie früher oder später völlige
Aufklärung finden; aber je mehr seine Lehre über die Grenzen der
Fachwissenschaft hinaus die Denkenden in Anspruch nahm, um so
gewichtiger erschien sie, um so dringender war auch für die Astronomen,
die eine Anerkennung der wissenschaftlichen Wahi'heit verlangten,
die Aufforderung, gerade diese Fragen, die in einer Art Volksphysik
ihren Ursprung hatten, in klarer Weise zu beantworten; es war un-
erläßlich zu erweisen, daß ein HauptÜTtum all jenen Erwartungen
zugrunde lag, die darauf gerichtet waren, in den Erscheinungen des
täglichen Lebens die Spuren der allgemeinen Bewegung ^^■iede^-
zufinden. Andrerseits hatte die Schule auf die alte Anschauung
der ruhenden Erde ein ganzes System von Vorstellungen über das
eigentlich Naturgemäße in den Bewegimgen und der räumlichen Ver-
teilung des Materiellen gebaut, die nun mit dem Anspruch, Wahr-
heit zu sein, der neuen Lehre gegenübertraten. Galilei hatte, so
lange er Copernicaner war, diesen beiden Arten von Einwürfen vor-
zugsweise seine Aufmerksamkeit zugewandt. Schon in Pisa und
— 78 —
Padua hatten zalili-eiche Schüler aus seinem Munde die Griuidlehi-en
einer neuen Mechanik vernommen, die beiderlei Gründe beseitigt,
von Schülern ^^irden die einzelnen Argumente früh schon weithin
verbreitet; es waren dieselben Beweise, die Galilei später, namentlich
in den Jahren 1615 und 1616 in Rom den Peripatetikern gegenüber
vertrat. Der Brief an Ingoli ist die erste Schrift, in der diese Lehren,
wenn auch nur in vorläufiger Übersicht, zusammengestellt werden.
Galilei zeigte mit Beispielen, daß in allen Erörterungen der Gegner
zwei Quellen des IiTtums eine Rolle spielen: sie nehmen bei ihi*en
Beweisen als bekannt an, was in Frage steht; fast alle diese Argumente
aus Bewegungserscheinungen, wie sie eintreffen und nicht eintreffen,
nehmen stillschweigend an, daß die Erde ruht, und sind hinfällig
ohne diese Voraussetzung; und dann: wo es sich um leicht anzu-
stellende Versuche handelt, deren Ausführung die Wahrheit an den
Tag bringen würde, halten sie es für überflüssig, sie wklich anzu-
stellen, geben sie für ausgeführt aus und bringen sie vor als ent-
scheidend zugunsten ihrer Behauptung; dahin gehört insbesondere
die Behauptung, daß die Bewegungen fallender Körper auf einem
Schiff andere sein werden, wenn das Schiff ruht oder wenn es sich
bewegt, und der darauf begründete Schluß, daß die Bewohner der
Erde an ihrer Umgebung erkennen müßten, ob sie sich bewege.
Galilei führt aus, ^ie vielmehr der wirkliche Versuch auf einem
Schiff in überzeugendster Weise klar machen müßte, daß eine Be-
wegung der Erde in der erwarteten Weise unmöglich wahrzunehmen
sei. Die verschiedensten Bewegungen geworfener, schwimmender,
fließender, fallender, fliegender Körper würden durch die Bewegung
des Schiffs so wenig verändert erscheinen, daß es in einem ab-
geschlossenen Raum, wo man die Versuche anstellte, unmöglich sein
würde zu entscheiden, ob das Schiff ruht oder sich bewegt. ^
Die Erklärung weist nur in kurzer Andeutung darauf hin, daß
eine Bewegung als eine erscheinen und doch vielfach zusanmien-
gesetzt sein könne, und daß der Beobachter immer nur den Teil
wahrnehmen könne, den nicht er selbst mit dem Gegenstand seiner
Beobachtung gemein habe.
Gleichfalls nur im Vorübergehen wirft Galüei seine schwer-
wiegenden Zweifel gegen die willküiiichen Sätze der aristotelischen
1 Ed. Naz. VI p. 547.
— 79 —
Mechanik in die Wage, die der Erde die Schwere, den Himmels-
körpern ätherische Leichtigkeit, jener die geradlinige Bewegung,
diesen den Kreislauf als Eigentümlichkeiten ihrer Natur zuweist und
mit diesen Attributen die Möglichkeit der copernicanischen Lehre
zu beseitigen vermeint. Unmöglich, behauptet Galilei diesen uralten
Sätzen gegenüber, kann in einem geordneten Weltsystem irgend-
einem Körper von Natur eine geradlinige Bewegung zukommen,
da sie eine immerwährende Änderung des Orts ohne Wiederkehr
bedingt; vielmehr muß, wenn überhaupt eine Bewegung als die
natürliche zu betrachten ist, dies keine andere als die kreisförmige
sein. Wenn Ingoli mit seinen Lehrern meint, daß der schwerere
Körper weniger zur Bewegung geeignet sei, so wird dagegen Galileis
Bewegungslehre dartun, daß, je schwerer der Körper, um so größer
seine Fähigkeit, die übertragene Bewegung aufzunehmen und zu
bewahren; und wie hier nur mißdeutete Wahrnehmungen dem alten
Irrtum zugrunde liegen, so ist es auch mit der ganzen Lehre vom
Schweren und Leichten, Schwere ist nach Gahleis Meinung die ein-
geborene Neigung (Streben), durch die ein Körper der Bewegung vom
seinem natürlichen Ort einen Widerstand entgegensetzt und durch
die er, wenn er gewaltsam von ihm entfernt wird, freiwillig zurück-
kehrt, und so kehrt ein Tropfen Wasser, den man in die Höhe hebt
und dann in Freiheit läßt, ins Meer zurück. Aber wer wird sagen,
daß das Wasser selbst im Meere schwer ist, da es, wiewohl in Freiheit,
sich nicht mehr bewegt?
Und so ist auch der Erdball weder schwer noch leicht, so wenig
wie alle übrigen W^ltkörper. Treffen diese Erörterungen vorzugsweise
Sätze des Aristoteles und seiner Anhänger, so werden, wo es sich
um die Beweise gegen die jährliche Bewegung der Erde handelt,
insbesondere die Ansichten Tycho Brahes, aus denen Ingoli schöpft,
einer scharfen Kritik unterworfen. Auch in diesem Teil der Schrift
findet Galilei nach mancher Eichtung eine erste Gelegenheit, sein
Urteil auszusprechen, neue Auffassungen kund zu geben. Bewegt
sich die Erde im Jahr um die Sonne und läßt sich an dem
Abstand der Fixsterne — wie dies die Beobachtungen feststellen —
trotzdem in Jahresfrist weder Vergrößerung noch Verringerung
wahrnehmen, so muß die Entfernung der Fixsterne eine beinahe
unermeßliche und demgemäß, da sie in diesem Abstand noch so
starkes Licht entsenden, ihre Größe eine außerordenthche sein.
— 80 —
Tycho Brahe^ berechnet den Abstand zum 14000 fachen des Halb-
messers der großen Erdbahn und schließt demnach nach seinen
Annahmen über die scheinbare Größe der Fixsterne (der Durchmesser
der größeren scheint ihm = 2—3 Minuten), daß viele derselben an
Größe dem Inhalt des großen Kreises der Erdbahn gleichkommen
würden, IngoK sieht mit ihm in diesen ungeheuren Größen und
Abständen einen ausreichenden Beweis für die Unmöghchkeit einer
jährlichen Bewegung nach Copernicus' Annahme.
Galilei läßt auch bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt, daß
seine Meinung von Tycho Brahes Wissenschaft nicht mit dem Urteil
der Welt zusammenstimmt; man hört aus seinen Worten deutlich
genug, daß er nicht gewillt ist, mit den Übrigen die Zahl und die
Schärfe seiner Beobachtungen als ein bhnder Bewunderer anzu-
staunen. Die Rechnung über die mutmaßliche Entfernung der Fix-
sterne, die er der Schätzung Tychos gegenüberstellt, beruht auf
teleskopischen Vergleichungen, dennoch ist ihr Ergebnis weiter hinter
der WirkHchkeit zurückgeblieben, als das des Gegners. Galilei geht
von der iVnnahme aus, daß viele Fixsterne — etwa die der dritten
Größe — die Größe der Sonne haben; er findet es in hohem Grade
berechtigt, die Sterne als Sonnen zu betrachten, „nichts fehlt ihnen,
um so genannt zu werden", und ebensowenig findet sich bei der
Sonne eine Eigentümhchkeit, um derentwillen wir sie von der Schar
der übrigen Fixsterne scheiden könnten. jN'un aber ist der scheinbare
Durchmesser der Sonne nach seinen Beobachtungen etwa fünfzigmal
größer als der des Jupiter, den Durchmesser des Jupiter aber iiimmt
er wohl zehnmal größer an, als den eines mittleren Fixsternes; man
hätte also die Entfernung eines solchen zu 500 Sonnenfernen anzu-
nehmen. Die Täuschung, die diesen Schätzungen zugrunde liegt,
hat auf Galileis eigenthche Weltanschauung keinen Einfluß. Er
glaubt sich wohl berechtigt, Tychos Zahlen anzuzweifeln, aber es
würde ihm keine Verlegenheit bereiten, wenn selbst diese willkür-
lichen Berechnungen der Wüklichkeit entsprächen und wir genötigt
wären, so unfaßbare Abstände anzunehmen; er bezweifelt, daß die
Beobachtungen über die völlig unveränderte Breite der Fixsterne,
über die unveränderte Polhöhe wirklich so feststehen, wie man vor-
^ Diese Angaben sind allem Anscheine nach dem Briefwechsel Tycho
Brahes mit dem hessischen Astronomen Rothmann entnommen.
— 81 —
gibt; aber wenn dies der Fall wäre und wenn aus alledem hervor-
ginge, daß wirklich „der große Ki'eis" von unmerklicher Größe im
Vergleich zur Fixsternsphäre wäre — „v/as", ruft er, „wäre daran
unmöglich und unzuträglich?" „Die ganze Schwierigkeit", fügt er
hinzu, „scheint mir in der Einbildungskraft der Menschen und nicht
in der Natur zu liegen. Bald darauf vervollständigt er diesen Gedanken-
gang, ,,Wenn ich die Welt betrachte, soweit sie unsere Sinne um-
fassen, so kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie groß oder
klein sei; mein Verstand will sich weder bequemen, daß sie endlich,
noch daß sie unendlich sei."
Galilei weiß, daß seine Betrachtungen das Gebiet der Theologie
berühren; so untermrft er sich der Entscheidung, die in dieser Be-
ziehung die höheren Wissenschaften treffen werden. Menschlicher
Wissenschaft, meint er, wird die Frage für immer unentschieden
bleiben.
Diese Ausführungen über die Unermeßlichkeit der Welt, über
die Verteilung der Weltkörper im Räume, insbesondere über das
Verhältnis der Sonne zu den Fixsternen würden für sich schon
genügen, jeden Zweifel über die eigentliche Absicht des Briefs an
Ingoli auszuschließen; Gaülei will nicht allein die Einwände der
Gegner als nichtig erweisen; er tritt von neuem für die Wahrheit
der copernicanischen Lehre in die Schranken. Nachdrücklicher noch
spricht sich seine Überzeugung aus, wo er der sogenannten di'itten
Bewegung des Copernicus gedenkt. Daß eine eigene Bewegung der
Erdachse so voDständig der jährlichen Bewegung des Zentrums sich
anpassen könne, daß sie in unveränderter Stellung zu verharren
scheint — daß überhaupt Zentrum und Achse entgegengesetzte
Bewegung haben können — , schien Tycho und seinem Anhänger
undenkbar; Galileis Versuch beweist ihm, daß diese Erhaltung der
Achsenstellung nicht allein möglicher-, sondern notwendigerweise mit
dem jährlichen Umlauf verbunden ist. Zusammenfassend äußert er
sich über die Erscheinungen, die nach der Meinung der Gegner aus
der Erdbewegung folgen müßten und über die, die in Wirklichkeit
sich ergeben, folgendermaßen:
„Diese und andere Argumente sind von Copernicus sehr wohl
gekannt und geprüft, und noch viel eingehender von mir, und ich
erkenne, daß in ihnen allen entweder nichts enthalten ist, was für
die eine oder andere Seite Beweiskraft hat, oder wenn doch der einen
Wohlwill, Galilei. II. 6
— 82 —
von ihnen Gewicht beizulegen ist, dies zugunsten der copernicanisehen
Meinung gelten muß; aber ich behaupte weiter, daß ich andere Er-
fahrungstatsachen kenne, die bis jetzt von niemand beobachtet sind,
aus denen — sofern wir in den Grenzen natürlicher und menschlicher
Betrachtungen bleiben — mit Notwendigkeit die Kichtigkeit des
copernicanisehen Systems hervorgeht."
Dies alles weiter auszuführen, behält er einer späteren Gelegen-
heit vor.i
Eine Schrift von so unzweideutiger Gesinnung war auch unter
Urbans Kegiment noch nicht zur Veröffentlichung geeignet; sie hätte
in Italien nie die Erlaubnis der Zensur gefunden. Dafür genügte
jetzt nicht mehr, daß Galilei ausdrücklich die theologischen Argu-
mente des Gegners von seiner Erwiderung ausschloß. Es galt, eine
Form zu erfinden, in der er die Wahrheit lehren konnte, ohne dadurch
Anstoß zu erregen, daß er sie Wahrheit nannte. Er gab dem Brief
eine Einleitung, in der er als selbstverständlich vorausschickt, daß
ihm die Absicht fern liege, eine Behauptung als wahr zu vertreten,
die nach der Erklärung der Kirche verdächtig sei und einer Lehre
widerspreche, die durch Majestät und Autorität über den natürlichen
und astronomischen Wissenschaften steht; er woUe nur — sofern er
mit Astronomen und Philosophen zu tun habe — zeigen, daß er nicht
so blind und ohne Verstand sei, die copernicanische Lehre für
möglicher- oder notwendigerweise wahr nur darum zu halten, weil
er Ingolis Beweise nicht gesehen oder begriffen habe. Es komme
dazu, daß, wie er erfahren, Exemplare jener Schrift auch zu ver-
schiedenen auswärtigen Nationen und vielleicht auch in die Hände
von Ketzern gekommen seien. So scheine es ihm seinem Ruf und
vielleicht auch dem anderer gemäß zu sein, wenn er ihnen die Ver-
anlassung nehme, sich fälschlich vorzustellen, es sei unter den Katho-
hken niemand gewesen, der begriffen hätte, wieviel diese Schriften
zu wünschen übriglassen, oder daß man im Glauben an ihren Wert
die Widerlegung der Meinung des Copernicus aufgegeben hätte, ohne
Sorge darum, daß doch möghcherweise einmal einer von denen, die
von uns getrennt sind, einen sicheren und überzeugenden Beweis
^ Auch sonst verweist er vielfach auf eine vollständige Antwort und
eingehendere Begründung an anderer Stelle, sein Brief wül nur ein Vorläufer
des größeren Werks sein, das er zum Schlüsse unter dem Titel einer Unter-
suchung über Ebbe und Flut des Meeres ankündigt.
— 83 —
oder eine offenkundige Erfahrung für ihre Wahrheit beibringen könnte.
Ja, er gibt sich der Hoffnung hin, die Häretiker, unter denen, wie
er hört, alle Angesehenen der Meinung des Copernicus sind, zu be-
schämen, wenn er in einer ausführlicheren Darlegung ihnen zeigt,
daß die Katholiken nicht aus Mangel an natürlicher Einsicht und weil
sie etwa nicht so viel Gründe und Erfahrungen, Beobachtungen und
Beweise gesehen haben, als sie selbst, in der alten Gewißheit be-
harren, die von heiligen Schriftstellern gelehrt ist, sondern aus Ehi'-
furcht vor den Schriften der Väter und aus Eifer für die Religion
und den Glauben, „Würden sie dann sehen", fährt er fort, „daß
alle ihre astronomischen und natürlichen Gründe aufs beste von uns
verstanden sind, ja, daß wir außerdem noch andere, von wesentlich
größerer Kraft als die bisher vorgebrachten kennen — so könnten
sie uns nicht als blind oder unwissend in den menschlichen Wissen-
schaften, sondern höchstens als Menschen tadeln, die in ihrer Meinung
beharren, ein Urteil, das am Ende für einen wahren katholischen
Christen nicht in Betracht kommen kann."
Ja, schließlich verheißt Galilei, es werde seine Widerlegung,
je gründlicher sie sei, um so sicherer die wohltätige Einsicht ver-
breiten, wie wenig menschlichem Denken und menschlicher Weisheit
zu vertrauen ist, und wie sehr wir den höheren Wissenschaften ver-
pflichtet sind, die allein die Blindheit unseres Geistes zu erhellen und
uns Erkenntnisse zu erschließen vermögen, zu denen w durch unsere
Erfahrungen und Beweise nie gelangen würden. ^
Galilei trägt hier, wie bei allen ähnlichen Gelegenheiten, kein
Bedenken, seiner Unterwerfung den demütigsten Ausdi'uck zu geben,
war doch sein Zweck, vor allem die Männer der Kirche zu ge\\innen;
nur von ihnen erwartete er Abhilfe, Sie waren es, die er nochmals
auf die Ausbreitung der copernicanischen Lehre unter den Ketzern
hinweisen wollte, aber ihnen auch wollte er die Anerkennung seiner
guten Beweise dadurch erleichtern, daß er die Entscheidung über
ihren Wert, ja über den Wert jeder wissenschaftlichen Erkenntnis
in ihre Hände gab. Bei alledem steht diese einleitende Erläuterung
und Verwahrung dem übrigen Inhalt der Schrift fremdartig und ohne
jede innere Beziehung gegenüber; die Einschaltung ist eine rein
mechanische, man braucht nur diese eine Seite zu beseitigen, um
1 Ed. Naz. VI p. 511f.
— 84 —
im übrigen ein rein copernicanisches Bnch vor Augen zu haben.
Dieselbe Schrift, die in den einleitenden Worten jede Fähigkeit des
menschliehen Verstandes, zur Wahrheit zu gelangen, in Frage stellt,
spricht auf einer anderen Seite in stolzester Zuversicht von der
Nichtigkeit menschlicher Autorität der Katur und der wahren Wissen-
schaft gegenüber.
In üblicher Weise hatte Ingoli die Autorität des Aristoteles und
aller Peripatetil{;er angeführt, um zu beweisen, daß die Erde schwerer
als die Sonne sei und daß die Himmelskörper keine Schwere haben.
„In natürlichen Dingen", entgegnet ihm Galüei, „gut die Autorität
der Menschen nichts; Ihr zwar, als Rechtsgelehrter, scheint großes
Gewicht darauf zu legen, aber die Natur, mein Herr, spottet der
Anordnungen und Delo-ete der Fürsten, Kaiser und Monarchen
imd würde auf ihr Geheiß nicht ein Jota von ihren Gesetzen und
Anordnungen — ändern. Aristoteles war ein Mensch, sah mit den
Augen, hörte mit den Ohren, dachte mit dem Gehirn. Ich bin ein
Mensch, sehe mit den Augen, und weit mehr als er; was das Denken
betrifft, so glaube ich, daß er über mehr Dinge gedacht hat, als ich;
aber ob mehr oder besser als ich über die Dinge, die uns beiden Gegen-
stand des Denkens gewesen sind — das werden unsere Gründe und
nicht unsere Autoritäten zeigen." ^
1 Ed. Naz. VI p. 538.
Viertes Kapitel.
Die Dialoge.
A. Allgemeine Charakteristik der Dialoge, ^
Ursprünglich hatte Galilei dem berühmten Werk, das wir heute
unter dem Titel „Dialoge über die beiden größten Weltsysteme"^
kennen, den Namen: „Dialoge über Ebbe und Flut" geben wollen;
damit sollten alle übrigen Beweise für die Bewegung der Erde diesem
einen, den er für den entscheidenden hielt, gewissermaßen unter-
geordnet werden. An dieser Rangordnung wurde durch den neuen
Titel nichts wesentliches geändert. Geblieben ist aber vor allem
auch die für das Werk so charakteristische Dialogform. Diese eignete
sich vorzüglich dazu, in aller Ausführlichkeit Gründe und Gegen-
gründe zur Sprache zu bringen; sie gab aber zugleich Galilei Ge-
legenheit, seine Meisterschaft der Darstellung zu bewähren.
Die drei Personen seiner Dialoge vertreten nicht nur die ver-
schiedenen Ansichten; es sind vollständig, z. T. in dramatischer
Lebendigkeit durchgeführte Charaktere. In den beiden Vertretern
der neuen Wissenschaft, Salviati und Sagredo, hat Galilei zwei ver-
storbenen Freunden ein Denlanal gesetzt^; unter ihnen ist Salviati
der eigentliche Wortführer für die copernicanische Lehre. Galilei
hat in ihm mit Vorliebe den ruhigen Weisen gezeichnet. Die rück-
sichtsvolle Milde gegen den Gegner, das ernste Eingehen auf dessen
Gründe, die zwingende Gewalt seiner Logik, durch die er ihn nötigt,
sich selbst zu widerlegen — das alles war Galileis eigenste Weise
der Belehrung, wie sie nicht nur seine römischen Zuhörer im Jahre 1616
^ Dieser kurze Abschnitt ist Vorträgen des Verfassers entnommen
(vergl. Vorrede). Der Herausgeber.
2 Ed. Naz. VII p. 1—519.
3 s. Bd. I S. 170f.
— 86 —
sclüldern, sondern alle seine Schriften und Briefe anschaulich machen,
^'eben Salviati erscheint Sagredo als eine überaus liebenswürdige
rsatur, genial, heiter bis zur Ausgelassenheit, reich an kleinen Ge-
schichten, deren Spitzen meistens gegen den Anhänger des Aristoteles
gerichtet sind, ^^^e an Vergleichen, die immer den Nagel auf den
Kopf treffen. Allem Anschein nach hat Galilei in diesem Sagredo
nicht nur eine äußerst anziehende, lebenswahre Gestalt gezeichnet,
sondern auch ein vortreffhches Porträt, denn die Briefe des Vene-
tianers Sagredo, die uns in nicht geringer Zahl erhalten sind, spiegeln
ganz und gar die herzgewinnende, geniale Persönlichkeit wieder, flie
uns in den Dialogen unter demselben Namen begegnet. Wir begreifen,
daß Galilei diesen Freund noch lange nach seinem Tode sein Idol
genannt hat. Sagredo steht als lernbegieriger Hörer den Streitenden
gegenüber, freilich nicht als unparteiischer Hörer, wie er sich selbst
zu geben versucht, denn mit Herz und Kopf gehört er längst der
neuen, aufstrebenden Wissenschaft an, die sich von Aristoteles be-
freit hat. Seine ganze Neigung scheint uns schon von vornherein
dem Copernicus zugewandt.
Als dritte Person der Dialoge tritt unter dem Namen des Sim-
plicio der Gelehrte aus der Schule des Aristoteles auf. In dieser
Gestalt hat Galüei die Schulwissenschaft, gegen die sein Kampf ge-
richtet war, verewigt mit all ihrer Wortweisheit und alles beweisenden
Logik, ihrer Geistesabhängigkeit, ihrem Schwören auf des Meisters
Wort und ihrem Widerstreben gegen das neue Licht, gegen die neuen
Wege, Kurz, ganz so, wie sie uns aus den Büchern jenes Zeitalters
entgegentritt, ist sie in diesem meisterhaften Bilde wiedergegeben.
So wie die Dinge lagen, w^ar es ein ziemlich kühnes Unterfangen,
die Wahrheit in solcher Form zu sagen. Auch ohne den eigentümlichen
Beigeschmack in den Sonderbarkeiten des Schulgelehrten war es
nicht leicht, den Einch-uck der Lächerlichkeit fernzuhalten, wo der
Zweck des Buches erforderte, daß Simplicio genau so viele Nieder-
lagen erlitt, als er Disputationen anfing, ]\Iit feinem künstlerischen
Sinn, wohl auch mit einiger Rücksicht auf so manchen, der ihm zum
Bilde des Simplicio gesessen hatte, hat Galilei diese Charakteristik
durch einen Kern von edlerer Gesinnung gemildert; auch ist Sim-
plicio keineswegs, wie so viele von Galileis lebenden Gegnern, ein
beschränkter Kopf; es wirkt vielmehr in seiner aristotelischen Denk-
und Redeweise etwas wie vieljährige Gefangenschaft, die bis ins
— 87 —
reife Mannesalter den ursprünglich gut begabten Mann von aller
wirklichen Welt abschloß, und man glaubt zuweilen, wenn man ihn
hört, er müsse nur den alten Kerker ein für allemal losgeworden
sein, um als ein l^benbürtiger neben den beiden scharfen Denkern,
die ihn bekämpfen, zu stehen. Aber diejenigen, die später im Sim-
plicio ihr Spiegelbild erkennen sollten, sahen naturgemäß vor allem
die Ähnlichkeit, eine Ähnlichkeit, die sie nie verzeihen konnten und
in der Tat niemals verziehen haben.
Galilei schrieb sein Buch, wie die früheren, für jedermann; aber
es war doch unerläßlich, wenn er die Wahrheit der copernicanischen
Lehre für seine Zeitgenossen nachweisen und gegen alle Widersprüche
schützen wollte, mit aller Gründlichkeit auf die Einwendungen der
Gelehrten der alten Schule einzugehen. All die uns befremdend und
abgeschmackt anmutenden Lehren, wie die von der Unveränderlich-
keit der Dinge über dem Mond, von der Unvergleichbarkeit der
irdischen und himmlischen Dinge, vor allem die Bewegungslehre,
aus der man damals die Unmöglichkeit der Erdbewegung deduzierte,
all das mußte gründlich erörtert und widerlegt werden.
So hat ein großer Teil der Dialoge heute ausschließlich geschicht-
liche Bedeutung, man kann ihm nur gerecht werden, nur seine
mächtige Wirkung im 17, Jahrhundert sich vergegenwärtigen, wenn
man sich der undankbaren Mühe unterzieht, vorher eine Zeitlang
auf der Schulbank vor den gelehrten Nachbetern des Aristoteles
zu sitzen. Wer diese Anstrengung nicht scheut, wird zur Belohnung,
wenn er dann Galileis Buch liest, die Empfindungen des befreiten
Gefangenen teilen, wie sie uns aus den Briefen der Mitlebenden in
jenen Tagen entgegentreten.
B. Tägliche Bewegung.
Daß Galilei für seine Gedanken diese Form, für die Dialoge diese
Personen wählte, läßt ohne weiteres erkennen, wie er die Aufgabe
seines Buchs gedacht hat. Es liegt nahe genug, die Dialoge mit dem
„Abriß der copernicanischen Astronomie" zusammenzustellen, in dem
Kepler^ wenige Jahre zuvor die Summe seiner Forschungen nieder-
gelegt hatte; in dieser großen Schöpfung des Kepler sehen Geistes
^ Für Kepler war die Aufgabe die Astronomie der Planeten, die Be-
weise für die Bewegung der Erde kurz und Nebensache, für Galilei umgekehrt
die Planeten Nebensache.
— 88 —
finden sich neben den ^\^mderbaren Phantasien seiner Hinnnelsphysik,
die bald genug ins Reich der Dichtung verwiesen wurden, die wahren
Gesetze der Planetenbewegungen, die seinen Xanien unsterblich
gemacht haben. Der Fortschritt über die ursprüngliche Lehre des
Copernicus hinaus, den dies Buch vergegenwärtigt, ist so außerordent-
lich groß, daß man — freilich wenig in Kepler schem Sinne — hat
zweifeln können, ob das System in der neuen Gestalt noch ein coperni-
canisches zu nennen sei. Von einer Fortbildung der Lehre in ähn-
lichem Sinne kann bei den Dialogen nicht die Rede sein. Xur in
wenigen, untergeordneten Beziehungen geht Galilei über die coper-
nicanischen Grundlagen hinaus, ja, jene großen Entdeckimgen, die
durch Tycho Brahes Beobachtungen ermöglicht und von Keplers
Genius ausgefülu^t waren, sind für ihn noch nicht vorhanden;
während Kepler die Geschwindigkeit der Planeten nach bestimmter
Regel mit ihrem Abstand von der Sonne sich ändern sah, kennt
Galilei eine Veränderung weder der Abstände noch der Geschwindig-
keiten; die Grundanschauung des Copernicus, nach der die Sonne im
Mittelpunkt der ki'eisförmigen Planetenbahnen steht, ist in den
Dialogen unbedenklich festgehalten, und doch hatte Kepler die
Unmöglichkeit dargetan, bei kreisförmigen Bahnen die beobachteten
Ungleichheiten der Planeten zu erklären. Die Dialoge schweigen
selbst von den Problemen und den Rätseln, die in Keplers Forschung
ihre Lösung gefmiden hatten. Die Beseitigung dieser Schwierigkeiten
war unerläßlich, wenn es sich darum handelte, die copernicanische
Lehre zur wahren Astronomie des Sonnensystems zu erheben; sie
war von untergeordneter Bedeutung, wo es darauf ankam, der über-
lieferten AVeltanschauung gegenüber die unermeßliche Überlegenheit
der Vorstellung, die von der zweifachen Bewegung der Erde ausging,
für jeden Denkenden zur Klarheit zu bringen. Dies und nichts
anderes wollen die Dialoge, um dieser Aufgabe ^^illen begreift man,
was sie ausführen, wie was sie übergehen; sie reden nicht von
unerledigten Schwierigkeiten; es ist mehr als wahrscheinlich, daß
Galilei Keplers Lösung nicht als Erledigung anerkannte — aber um
der mangelnden Vollendung willen dem Copernicus widersprechen,
das hieß ihm das Haus niederreißen, weil der Ofen raucht. Dagegen
behandeln die Dialoge in voller x\usführlichkeit alles, was mensch-
licher Verstand und Unverstand zugunsten der alten Anschauung
ersonnen hatte und ersinnen konnte, um dann in triumphierender
— 89 —
Beweisführung zunächst die Möglichkeit der andern Lehre, dann die
überw^ältigenden Zeugnisse für ihre Wahrheit darzulegen.
Für Mathematiker hatte Copernicus seine Lehre niedergeschrieben,
als die wahre Weltanschauung für alle lehrt sie Galilei. Nicht daß
sein Buch nur die Beweise des Copernicus verdeutlichte oder der
strengen Form entkleidete — darin liegt ein nicht zu unterschätzen-
des, aber das geringere Verdienst der Dialoge; ihre wahre Bedeutung
liegt in der Begründung einer Vorstellungsweise, die dem coperni-
canisch Denkenden den Zusammenhang der natüi-üchen Erscheinungen
in ähnlicher Weise verdeutlicht, wie die Physik des Aristoteles die
Welt erklärt hatte, in deren Mittelpunkt die Erde ruht. Selbst der
Mathematiker bedurfte als denkender Mann dieser neuen Physik,
wenn das Ergebnis seiner Rechnungen für ihn zur anschaulichen
Wirklichkeit werden sollte. Die Fragen nach der jN^atur des Himmels
und der Himmelskörper, nach den Ursachen der Bewegung, ihrer
Dauer und ihrer Hemmungen, ihrer Form und ihrer Geschwindigkeit
— sie aUe waren seit den Zeiten des Altertums erledigt und abgetan,
wenn die Erde ruhte ; sie aUe bedurften von Grund aus neuer Prüfung,
wenn die Erde sich bewegte. Man braucht nur zu hören, was ein
Tycho Brahe als Beweise gegen den Copernicus anführt, um zu be-
greifen, daß für die neue Lehre die Elemente der Physik neu zu
begründen waren. Die allbekannten Tatsachen, auf die er sich beruft,
der geradünige Weg der fallenden Körper, das Treffen der Kugeln,
nach welcher Himmelsgegend man auch schieße, sind zwar für Tycho
schwerlich der Ausgangspunkt des Widerspruchs gewesen; ^^1e andere,
hätte vermutlich auch der dänische Astronom sich mit diesen Be-
denken abgefunden, wenn nicht ge^^ichtigere Gründe ihn bestimmt
hätten; aber diese abfindenden Deutungen der Verteidiger verraten
nur noch mehr, daß eine klare Antwort noch nicht zu geben war.
Schon Copernicus sieht sich um solcher Fragen willen genötigt,
manche alte Definition, manche hergebrachte Vorstellung zu ver-
werfen.
William Gilbert und Kepler gingen auf demselben Wege weiter,
weniger noch, als ihr großer Lehrer, erkannten sie in den überlieferten
Lehren eine Fessel für die freie Forschung. Der Kampf für Copernicus
forderte vor allem übrigen Lossagen vom Aristoteles; mehr oder
minder konsequent unterzogen die Jünger des Copernicus sich dieser
Forderung; aber wenn sie im Widerspruch einig waren, so war die
— 90 —
Mannigfaltigkeit der Lehren, die man an die Stelle der aristotelischen
Physik zu setzen versuchte, kaum geringer, als die Zahl der Schrift-
steller, die sich dieser Aufgabe be\mßt "«iirden. Nur wenige unter
diesen Versuchen verleugnen die Veranlassung, der sie ihr Dasein
verdanken; nur um des bestinunten Zweckes willen, die coperni-
canische Anschauung durchzuführen, ersann man neue Beziehungen
und Eigenschaften der Körper, deren sie nicht bedurften, wenn
Ptolemäus Recht behielt. Galilei dagegen vernichtete die Physik
des Aristoteles als in sich unhaltbar und unmöglich; die Wahrheit
der neuen Lehre, die er ihr gegenüberstellte, war an die Wahrheit
der copernicanischen Lehre nicht gebunden, und eben darum war
sie geeignet, über die Berechtigung der Gegengründe, die man
physikalische nannte, ein entscheidendes Wort zu sprechen. Was
dieser Lehre gegenüber jene früheren Versuche bedeuten, läßt in
unzweideutigem Urteil die Geschichte des copernicanischen Systems
erkennen; kaum, daß die Geschichtsschreiber sie der Aufzeichnung
wert gefunden haben; wer sie kennen lernen will, hat sie mit müh-
samem Quellenstudium zu sammeln; dagegen erteilt man heute
noch auf die Fragen, die aus physikalischen Bedenken hervorgehen,
die x\iitworten der Dialoge. Alle jene älteren Bemühungen sind für
die Entdeckung der Wahrheit unfruchtbar geblieben, dagegen -wurzelt
fast alles, was der Gegenwart an augenscheinlichen Beweisen für die
Tatsache der Erdbewegung bekannt ist, in der Physik oder doch in
der Methode Galileis; nicht wenige dieser Beweise sind dem klaren
Wortlaut der Dialoge ohne weiteres zu entnehmen. Daß der außer-
ordentliche Fortschritt, der auf diese Weise für die Veranschaulichung
der copernicanischen Lehre gewonnen war, wiewohl er die Lehre
popularisiert, doch ein rein wissenschaftlicher war, bedarf nicht der
Erläuterung.
Liegt in dieser Schöpfung einer neuen Bewegungslehre und ihrer
Anwendungen auf das copernicanische System die unvergängliche
Bedeutung des Buchs, so hatten dem Zeitalter Galileis die sehr um-
fassenden Untersuchungen, die der Methode und der Lehre des
Aristoteles gelten, kaum geringere Bedeutung. Galilei schrieb für
alle, die in jenen Tagen dem großen Gegenstande ihr Interesse zu-
wandten. Um dieser Absicht willen durfte er sich nicht damit
begnügen, den logischen Argumenten seiner Gegner mit Erfahrungen
zu erwidern, auch wo solche Erfahrungen unserer Auffassung gemäß
— 91 —
zur Widerlegung völlig ausreichten; denn keine Erfahrung war den
Argumenten der Schulgelehrten gewachsen. Wie konnte Erfahrung
über die Unwissenheit oder die Unmöglichkeit eines Wissens auf-
klären, wo die Beweise des Aristoteles Wissen und Klarheit in vollem
Maße gewährten, wo überdies die Autorität seines großen Namens
jeden Zweifel beseitigte!
So mußte Galilei den Gegner mit seinen eigenen Waffen be-
kämpfen. Diese gründlichen Widerlegungen auf dem Wege logischer
Zergliederung nehmen in seinem Buch einen breiten Raum ein, um
ihretwillen zumeist hat man die Dialoge weitschweifig gefunden;
aber sie entsprachen dem Raum, den noch immer die Denkweise der
Schule in der Welt erfüllte, zu der Galilei reden wollte.
So ist der erste „Tag" der Dialoge ausschließlich der Prüfung
jener aristotelischen Lehre bestimmt, gegen die er seit mehr als
zwanzig Jahren vergeblich den Himmel selbst zum Zeugen angerufen
hatte, der Lehre von der völligen Unvergieichbarkeit irdischer und
himmlischer Dinge. Lag doch der Kern des Buchs in dem Gedanken,
die Erde unter die Sterne zu erheben, einer Vorstellung, die jener
große Gegensatz an der Schwelle der Erörterung als völlig absurd
zurückzuweisen scheint.
Mit sicherer Hand zerreißt er das Gewebe von Schlüssen, in
denen Aristoteles aus der Vorstellung einer vollkommenen Welt als
notwendige Folgerung herzuleiten vermeint, was uns die oberfläch-
lichste Wahrnehmung der Sinne darstellt. Um der Vollkommenheit
willen teilt Aristoteles von den beiden einfachen Bewegungen die
Kreisbahn dem Himmel, die gerade Linie der Erde zu; zwar sieht
er nur an den Teilen das Aufsteigen und Absteigen in geraden Linien,
aber der Satz: das Ganze verhält sich wie die Teile, reicht ihm aus,
um auch der Mutter Erde als Ganzem die geradlinige Bewegung zu-
zuweisen. GalUei zeigt, wie er nur durch Trugschlüsse und unklare
Definitionen den Schein zur wahrhaft naturgemäßen Ordnung erhebt,
wie das Geheimnis seiner Beweisführung darin liegt, daß er vorgibt,
ein Gebäude nach den Regeln der Baukimst aufzuführen, aber in
Wahrheit seine Baukimst nach dem Gebäude einrichtet.
Will man mit Plato von dem Bilde einer vollkommenen Welt
ausgehen, so findet Galilei in dieser für die geradlinige Bewegung
keinen Raum, denn die Körper, denen sie zukommt, ändern unauf-
hörlich ihren Ort und ihr Verhältnis zu den anderen, so dient sie zur
— 92 —
Änderung, nicht zm* Erhaltimg; in einer wohlgeordneten Welt ist
alle Bewegung der einzelnen Weltkörper eine kreisförmige, nur sie
ist zur Erhaltung geeignet, denn nur in ihr ist das Streben zum
bestimmten Ziel und das Widerstreben gegen die Entfernung vom
erreichten in stetem Gleichgewicht. Dagegen ist die gerade Linie
die Bahn, die die Teile mit beschleunigter Bewegung zum ganzen
führt, wenn sie von ihm getrennt sind, und in der sie mit verzögerter
sich vom ganzen entfernen, wenn äußere Kräfte sie zu trennen suchen.
Die Schwere, die das eine, wie das andere bewirkt, ist für Galilei,
wie für Copernicus, nichts anderes, als das Streben der Teile zur Ver-
einigung mit dem Ganzen, dem sie angehören. Ein ähnliches Streben
der Teile zur Vereinigung verrät ihm die Kugelgestalt der Sonne
und des Mondes, und so scheint ihm nichts im Wege zu sein, wenn
man in der geordneten Welt, nicht nur auf der Erde, sondern überall,
die geradlinige Bewegung den Teilen in ihrem Verhältnis zum Ganzen
zuteilt. Die Weltkörper als ganze aber können nur entweder ruhen
oder im Kreise bewegt sein.
Aber der Gegensatz der Bewegungen, wie ihn Aristoteles lehrt,
ist zugleich die feste und alleinige Grundlage seiner Lehre vom Gegen-
satz des Irdischen und Hinmilischen; aus ihm geht insbesondere das
Entstehen und Vergehen hier — die ewige, wandellose Gleichheit
dort mit logischer jX^otwendigkeit hervor; so fällt denn auch mit der
willkürlichen Verteilung der Bewegungen das ganze Gebäude. Aber
Galilei findet darum nicht minder unerläßlich, die inneren Wider-
sprüche und logischen Willkürlichkeiten zu enthüllen, durch' die es
mögüch wurde, jene Verwandlungserscheinungen, die niemand be-
greift, auf einen Gegensatz der Bewegungen im Reich der irdischen
Elemente zurückzuführen.
Erst nachdem sich die Beredsamkeit der Parteien an dieser
Aufgabe erschöpft hat, ist von Erfahrungen die Rede. Der Gewiß-
heit ü'discher Wandelbarkeit gegenüber vermißt der Peripatetiker jede
Kunde vom Anderswerden im Hinmiel. — ,,Ihr wißt's von Italien,
aber woher von China und Amerika?" fragt Salviati. „Sichere
Berichte verkünden es", entgegnet Simplicio. „So bedarf's des Augen-
scheins oder der glaubwürdigen Berichterstatter; da uns beides für
den Mond nicht zu Gebote steht, — was beweist uns, daß auf ihm
nicht ist oder geschieht, was wir nicht erfahren können?" „Die
ältesten Überlieferungen besagen, daß einst festes Land, wo jetzt die
— 93 ~
Straße von Gibraltar ist, die gegenüberliegenden Erdteile vereinigte,
so daß erst später, als der Ozean das Festland durchbrach, das
Mittelländische Meer entstand. Veränderungen so gewaltiger Art, wenn
sie am Monde vorgekommen wären, könnten uns nicht unbemerkt
geblieben sein." ,,Wohl! aber wo sind auf der Erde die wißbegierigen
Selenographen gewesen, die uns das Bild des Mondes aus alter Zeit
bewahrt hätten, daß wir heute vergleichen könnten, ob in der Ver-
teilung heller und dunlder Stellen eine Änderung eingetreten sei?
Was sagt man uns vom Mond? Der eine sieht darin ein mensch-
liches Gesicht, der andre eine Löwenschnauze, der dritte Kain mit
einem Reisigbündel auf der Schulter. Was also ist damit gesagt,
wenn man den Himmel für unveränderlich erklärt, weil wir am Mond
oder anderen Himmelskörpern nicht die Veränderungen sehen, die wir
an der Erde kennen?" ^
Nun erst führt Salviati aus, was in Wahrheit das 17. Jahrhundert
von Veränderungen im Reich der Himmelskörper weiß.
Er redet von den neuen Sternen vom Jahre 1572 und 1604 und
von den Flecken der Sonne. Für die Kometen, die andere gleichfalls
in so ferne Regionen erheben, ist er noch jetzt nicht abgeneigt, einen
irdischen Ursprung anzunehmen. Ein ausführlicher Bericht über
den Mond, wie ihn das Fernrohr enthüllt hat, beschließt die erste
Unterredung. Mannigfache Beobachtungen aus den zwischenliegenden
Jahren vervollständigen die Schilderung der „Sternenbotschaft",
Galilei hat inzwischen entdeckt, daß infolge der Achsendrehung des
Mondes etwas mehr als die HäKte seiner Oberfläche von uns gesehen
wird. Aber das wichtigste Ergebnis für die gesamte Himmelskimde,
wie Galilei es 20 Jahre zuvor verkündet hatte, hat sich in aller späteren
Forschung bewährt.
In siebenfacher Beziehung weist der Bericht der Dialoge an dem
einzigen Himmelskörper, der bisher eine Vergleichung gestattet hat,
die Übereinstimmung mit der Erde nach. Daß in aller Ähnlichkeit
wesentliche Verschiedenheiten stattfinden und stattfinden müssen,
will Galilei nicht bezweifeln. Aber der Wahn, daß die Erde als un-
vergleichlich außerhalb der Schar der Himmelskörper stehen muß,
bleibt nichtsdestoweniger durch den Mond widerlegt. Ist auf diese
Weise die Erde „aus der Finsternis ans Licht gezogen", so wird nun
1 Ed. Naz. VII p. 74.
— 94 —
weiter zu prüfen sein, wie weit es Wahrscheinlichkeit hat, sie als
ruhend, wie weit sie irgendwie bewegt zu denken ist. Soll dies erkannt
werden, meint Galilei, so muß vor allem übrigen begriffen sein, daß,
wenn die Erde sich bewegt, und wie immer sie sich bewegen möge,
dies nun und nimmermehr auf der Erde selbst von ihren Bewohnern
an irdischen Gegenständen wahrgenommen werden kann, sondern
innner nur an dem, was die Bewegung nicht teilt, und zwar muß
eine jede Bewegung der Erde sich daran erkennen lassen, daß nicht
etwa ein einzelner Himmelskörper, etwa der Mond oder Venus, sich
zu bewegen scheinen, sondern alles, was nicht an der Bewegung der
Erde teilhat, muß uns diese Bewegung wiederspiegeln; wenn zunächst
die Erde sich in 24 Stunden in der Richtung von Westen nach Osten
um ihre Achse di'eht, so kann das für uns auf keine andere Weise
erkennbar werden, als daran, daß wir den ganzen Sternenhimmel
mit der Sonne und dem Mond in 24 Stunden in der Richtung von
Osten nach Westen gehen sehen; es müßte also, wenn der Himmel
ruht und die Erde sich bewegt, genau dasselbe wahrgenommen
werden, wie wenn in Wirklichkeit Sonne, Mond und Sterne sich so
bewegten, ^vie es uns erscheint. Soviel man denken mag, wird sich
kein Unterschied erdenken lassen, an dem uns offenbar würde, ob
das eine oder das andere Wirklichkeit ist; denn alle Bewegung, sagt
Galilei, ist nur Bewegung und als Bewegung wirksam in bezug auf
etwas, das sich nicht bewegt. Die Waren, mit denen ein Schiff be-
laden ist, bewegen sich, insofern sie Venedig verlassen, Korfu, Kandia,
Zypern passieren und nach Aleppo kommen, während Venedig, Korfu,
Kandia usw. ruhen und sich nicht mit dem Schiff fortbewegen; aber
für die Warenballen, Kisten usw., mit denen das Schiff befi'achtet
ist in bezug aufeinander und in bezug auf das Schiff selbst, ist die
Bewegung von Venedig nach Syrien wie nicht vorhanden, sie ändert
nichts an ihrer wechselseitigen Beziehung, weil sie allen gemeinsam
ist, und wenn ein Ballen während der Fahrt auch nur um einen
Finger breit von der nächsten Kiste fortgerückt wird, so wird dies
für beide in bezug auf sich selbst eine größere Bewegung sein, als der
Weg von 2000 Meilen, den sie in unveränderter Lage miteinander
zurücklegen. 1
So ist auch alle Bewegung des Himmels nur Bewegung, insofern
ein Ruhendes vorhanden ist oder gedacht wird. Nehmt die Erde
1 Ed. Naz. VII p. Ulf.
— 95 —
aus der Welt, und all jener Wechsel der Erscheinungen, in dem wir
die gewaltigsten Bewegungen zu erkennen meinen, ist nicht mehr;
die Welt kennt dann weder iVufgang noch Untergang von Sonne,
Mond und Sternen, weder Tage noch Xächte; all dieser Wechsel
existiert nur in bezug auf die Erde.
Wenn aber die Erscheinungen aufs Haar übereinstimmen müßten,
ob die Erde oder alles außerhalb der Erde sich bewegt — was ist
dann glaublicher: daß die kleine Erde in 24 Stunden ihre Umdrehung
vollendet, oder die unermeßliche Sphäre der Sterne mit Sonne und
Planeten mit einer Geschwindigkeit, die aUe Begriffe übersteigt?
Und noch dazu nach der seltsamen Regel, daß, je ferner der Stern,
desto größer, rasender seine Geschviindigkeit sein müßte, um den
allgemeinen Wirbel mitzumachen, während sonst alle Himmelskörper
ihre Kreisbahn um so langsamer durchlaufen, je größer ihre Bahn
ist; daß andrerseits diese Geschwindigkeit bei den Fixsternen vom
Himmelsäquator bis zu den Hinmielspolen abnimmt, an den Polen
völliger Ruhe gleichkommt usw., und dabei auf ein Zentrum Rück-
sicht nimmt, das in unermeßlicher Entfernung außerhalb des Zen-
trums dieser Kreisbahnen ruht.
Sagredo erwidert, daß ihm das auf den ersten Blick noch ungleich
törichter vorkomme, als wenn man einen hohen Turm erstiege, um
die Stadt und ihre Umgebung zu überschauen, und dann verlangte,
daß das ganze Land den Rundgang machte, damit man nicht nötig
hätte, den Kopf zu drehen.
Aber nun kommen die Bedenken in Scharen. Wenn die Erde
sich von Westen nach Osten bewegt, wie ist es möglich, daß die
fallenden Körper in gerader Linie senkrecht gegen die Oberfläche
fallen und nicht vielmehr weit westlich von dem Fußpunkt der Senk-
rechten die Erde treffen, da doch der Fußpunkt längst nach Osten
enteilt ist ? Sehen wir nicht, daß auf dem ruhenden Schiffe die Kugel,
die von der Höhe des Mastkorbs in der Senkrechten herabfällt, am
Fuße des Mastbaums ankommt, während dieselbe Kugel, wenn das
Schiff sich bewegt, um so weiter hinter ihm zurückbleibt, je größer
die Geschwindigkeit der Fahrt ist?
Wenn man dieselbe Kugel aus demselben Kanonenlauf mit
gleicher Kraft nach Westen abschießt, so müßte sie in beträchtlich
größerer Entfernung treffen, als wenn man nach Osten schießt, denn,
wenn nach Westen, kommt zum eigenen Weg der Kugel noch der
— 96 —
Weg, um den die Kanone sich mittlerweile ostwärts vom Ziel ent-
fernt hat; schießt man dagegen nach Osten, so rennt die Kanone
ge^^•issermaßen der Kugel nach; es müßte die Schußweite um das
Stück verringert werden, das die Kanone gleichzeitig in derselben
Richtung zurücklegt. Aber nichts der Art zeigt die Erfahrung; man
schießt nach Osten genau so weit, wie nach Westen, also steht die
Kanone unbeweglich fest, und demnach auch die Erde. Und ebenso
bestätigt sich die Ruhe der Erde, wenn man nach Norden oder Süden
schießt, denn wenn die Erde sich bewegt, so könnten die Kugeln
das Ziel nicht treffen, sie müßten immer in westlicher Richtung
zurückbleiben, was nicht beobachtet vtird. Auch müßte man bei
jedem Schuß nach Osten zu hoch, nach Westen zu niedrig treffen,
da das Ziel im ersteren Fall durch die Umdrehung der kugelförmigen
Erde zu rasch unter die Schußlinie gesunken ist, im andern sich zu
rasch über diese Linie hinaushebt.
Wer immer den Copernicus vertreten wollte, hatte, um diese
Bedenken zu beseitigen, annehmen müssen, daß die Körper der Erde,
gleichviel ob sie in Ruhe oder bewegt sind, mit der festen Masse der
Erde verbunden oder von ihr getrennt sind, die Bewegung der Erde,
wie sie ihnen zu irgendeiner Zeit mitgeteilt ist, in unveränderter
Yfeise bewahren. Kepler hatte den Begriff der Trägheit zu Hilfe
genommen; aber die Form, in die er diesen Begriff gefaßt hat,
gestattete ihm nicht, entsprechende Erscheinungen vorauszusagen
oder zu erklären, bei denen die Bewegung der Erde nicht in Betracht
kommt; er schweigt von dem Fall der Körper auf Schiffen; ja er
macht sich selbst den Einwurf: die westwärts abgeschossene Kugel
müsse, gerade weil sie die östliche Richtung der Erdbewegung bei-
behält, infolge der Trägheit ihrer Materie die gewaltsame Bewegung
durch den Schuß weniger leicht annehmen, als die ostwärts geschossene,
die nur in derselben Richtung bewegt wird, die ihr ursprünglich zu-
kommt; und Kepler gesteht unumwunden zu, daß dieser Unterschied
stattfinde, nur der Größe der bewegenden Ursache gegenüber un-
merklich werde. Auch wenn er wahrzunehmen wäre, fehle die Möglich-
keit der Untersuchung, denn wie soll man sich überzeugen, daß die
Kraft der Explosion bei den verschiedenen Schüssen dieselbe
gewesen ist.^
^ Keplers Trägheitsbegriff ergibt also eine falsche Konsequenz oder
Ruhe der Erde.
— 97 —
Das Beispiel verdeutlicht, wieviel vor Galilei erreicht war, wie-
viel ihm selbst zu leisten übrig blieb.
Galilei beginnt mit dem geradlinigen, senkrechten Fall der Körper.
Er zeiht zunächst den Gegner des logischen Fehlers. Wer behauptet,
daß der fallende Körper in gerader Linie den Fußpunkt trifft, und
daraus folgert, daß die Erde ruht, der setzt die Ruhe der Erde, die
er beweisen -svill, voraus, denn wenn die Erde nicht ruht, ist die
Bewegung des fallenden Körpers keine gerade Linie. So ist der
Gegner genötigt, den Ai'istoteles zu verbessern und seinen Einwand
in der Sprache der Schule dahin auszusprechen: daß, wenn die Erde
sich bewegt, der Stein nicht längs der Senlvrechten von der Spitze
zum Fuß des Turmes fallen könnte, weil er alsdann zugleich eine
geradlinige und eine Ivreisförmige Bewegung haben müßte, was un-
möglich ist, namentlich bei schweren Körpern.
Galilei beweist das Gegenteil. Als Grundlage seiner Ausführung
stellt er das Prinzip fest: daß die Bewegung, die einem Körper mit-
geteilt wird, demselben in unzerstörbarer Weise übertragen
wird. Als völlig unhaltbar erkennt er die übliche Deutung der Peri-
patetiker, nach der die bewegende Kraft zunächst auf die Luft über-
tragen und von dieser dem Körper, den sie begleitet, stets von neuem
mitgeteilt wird. Galilei begründet eine neue Bewegungslehre durch
die einfache Annahme, daß es keiner Ursache für die Erhaltung der
Bewegung bedarf. Der Körper, der durch irgendeine Ursache bewegt
ist, würde sich bis ins Unendliche in derselben geraden Linie und mit
derselben Geschwindigkeit fortbewegen, wenn kein Widerstand seine
Bewegung verzögerte, keine andere Ursache sie beschleunigte. Aus
der Unzerstörbarkeit der übertragenen Bewegung folgt dann sofort
die weitere Erkenntnis, daß eine zweite Bewegung, die dem bereits
bewegten Körper mitgeteilt wird, die erste nicht beeinträchtigt oder
verändert; in der Bewegung des Körpers sind in diesem Fall beide
einzelnen Bewegungen vollständig erhalten; sie ist aus beiden gemischt
oder zusammengesetzt. Die mannigfaltigsten Beispiele verdeutlichen
diese Zusammensetzung. Die Kugel, die der Hand des Reiters im
schnellsten Galopp entfällt, bleibt nicht hinter ihm zurück, denn sie
bewahrt die Geschwindigkeit des Ritts, auch wenn sie fällt; ja, die
Kugel kann ihm noch folgen, wenn er sie reitend rückwärts schleudert,
und nur, wenn die Geschwindigkeit der Bewegung, die er ihr auf
diese Weise erteilt, größer ist, als die des Pferdes, wird sie in Wirklich-
Wohlwill, Galilei. II. 7
— 98 —
keit sich in entgegengesetzter Richtung bewegen. Man hat geglaubt,
daß der Reiter, der den Spieß vor sich her wirft, imstande sei, im
rascheren Ritt den geworfenen wieder aufzufangen; er wii'd es ver-
gebens versuchen, denn der Spieß hat zur Geschwindigkeit des Ritts
noch die des Wurfs in gleicher Richtung empfangen; wohl aber wird
er bei noch so großer Geschmndigkeit fangen können, was er im Ritt
aufwärts geworfen hat.
So ist auch der Einwurf vom Fall auf ruhendem und bewegtem
Schiff einfach dadurch erledigt, daß der Unterschied, von dem man
redet, wie so manche andere Tatsache der alten Physik, vom Einen
behauptet und von Tausend nachgesprochen, aber nie erprobt ist;
ein solcher Unterschied findet nicht statt und kann nicht stattfinden.
Das Schiff mag ruhen oder segeln, seine Geschmndigkeit groß oder
klein sein, immer wd die Kugel am Fußpunkte der Senkrechten
niederfallen, in der der Anfangspunkt ihrer Bewegung liegt, es sei
denn, daß der Bewegungszustand der Luft geringe Abweichungen
veranlasse. Mannigfache merkwürdige Folgerungen ergeben sich
ohne weiteres, sobald man nur diese Zusammensetzung der Bewegungen
klar begreift. So findet man, daß die wirkliche Bahn des Körpers,
der auf bewegtem Schiffe fällt, je nach der Geschwindigkeit des
Schiffs eine immer andere, größere, mehr gestreckte Linie wird,
und alle diese noch so verschiedenen Bahnen werden in derselben
Zeit zurückgelegt, die der senkrechte Fall in der ungleich kürzeren
Bahn auf ruhendem Schiffe erfordert ; dasselbe würde von den Bahnen
der Kanonenkugeln gelten, die von der Höhe eines Turmes, gleichviel
mit welcher Kraft, in horizontaler Richtung abgeschossen würden;
wie verschieden auch die Schußweite, die die Kraft des Pulvers
bestimmt, die Dauer ihres Fluges wäre immer der Zeit gleich, in
der sie durch senkrechten Fall den Fuß des Turmes erreichten. Um
die Form dieser, wie immer verschiedenen, Bahnen zu verzeichnen,
ist nur genaue Kenntnis der Regel erforderlich, nach der die Ge-
schwindigkeit des fallenden Körpers zunimmt. Galilei ist der erste,
der diese Regel erkannt hat, er braucht nur mit dieser senkrechten,
gleichförmig beschleunigten Bewegung die gleichförmige in der Rich-
tung des Wurfs oder Schusses zusammenzusetzen, um die Form der
Wurflinie zu finden, in ihr zugleich die wirkliche Bahn des Körpers,
der vom bewegten Mäste fällt, denn nicht anders als der horizontal
gerichtete Wurf der Hand oder Schuß der Kanone wirkt die Bewegung,
— 99 —
die das Schiff allen mit ihm bewegten Körpern überträgt. Was bei
den Körpern des bewegten Schiffs noch als ein Äußerliches, der Natur
der Körper Fremdartiges erscheinen könnte, das ist den Körpern
der bewegten Erde als unzerstörbarer, von ihrem Wesen nicht trenn-
barer Besitz gegeben; so ist die Anwendung der Erläuterung einfach
genug. Der Stein, der von der Höhe des Turmes fällt, verliert
dabei die ursprünglich östlich gerichtete Bewegung der Erde nicht,
es ist also kein Grund, warum er hinter dem Fußpunkt des Turms
zurückbleiben sollte, der diese östliche Bewegung teilt.
Von dieser gemischten Bewegung aber erkennen wir nur den
Teil, der dem fallenden Körper eigentümlich ist; unsrer Wahrnehnumg
entzieht sich der andere, den der Turm und alles, was ihn umgibt,
mit ihm gemein hat. Wenn wir bei ruhiger See zu Schiffe von Smyrna
nach Venedig fahren und uns die Zeit damit vertreiben, eine Zeichnung
anzufertigen, so teilt die zeichnende Hand die Bewegung über das
mittelländische Meer; sie hat also in Wirklichkeit in jedem Augen-
blick gleichzeitig zwei Bewegungen, und ihr eigentlicher AVeg ist ein
unendliches GewliT von Figuren; von alledem aber sehen wir sowohl
w'ährend der Fahrt als bei der Ankunft in Venedig nichts als die
Zeichnung, d. h. den Teil der Bewegung der zeichnenden Hand, den
das Schiff und deshalb das Blatt, auf dem wir zeichnen, nicht teilt;
die Zeichnung würde uns nicht anders erscheinen, wenn sie auf
ruhendem Schiff gefertigt wäre. Ebensowenig würde der Beobachter
bei demx fallenden Körper einen Unterschied wahrnehmen, wenn er
während des Falls zugleich mit dem Turm und der Erde sich ost-
wärts fortbewegte; es kann also die Wahrnehmung des senkrechten
Falls nicht als Beweis gegen die Bewegung der Erde gelten.
Es kommt nur darauf an, diese Anschauungsweise klar zu fassen
und zur Anwendung zu bringen, um eine Reihe ähnlicher Einwürfe
zu beseitigen. Die aufwärts geschossenen Kanonenkugeln kehren in
den senki-echt gerichteten Lauf zurück, ob die Erde ruht, oder ob sie
sich bewegt, denn aufwärts fliegend wie niederfallend w^ürden sie
die östliche Bewegung der Erde ungeschwächt bewahren, der Lauf
eilt ostwärts, nachdem die Kugel ihn verlassen, aber die Kugel folgt
ihm mit gleicher Geschwindigkeit. So müssen auch die Schüsse
treffen, ob die Erde sich bewegt oder nicht, und die Himmelsgegend,
nach der man zielt, ändert die Sicherheit nicht, denn wenn die Erde
sich dreht, w'ürde zwar das Ziel, bis es von der Kugel erreicht ist,
— 100 -
seinen Weg in östlicher Richtung zurückgelegt haben, aber diese
östliche Bewegung wü'd von der Kugel geteilt; die Kugel bewahrt
sie, ob sie im Laufe ruht oder die Luft durchfliegt, und gleichviel
welche Richtung ihr der Schuß erteilt, sie würde darum nicht weniger
treffen, als wenn das Ziel und der Lauf sich auf ruhender Erde befände.
So würden auch die westwärts gerichteten Schüsse nicht zu
niedrig, die östlich gerichteten nicht über das Ziel hinausschießen;
richtig ist, daß das westlich gelegene Ziel durch die Bewegung der
Erde sich über eine ruhend gedachte Tangente mehr und mehr
erhebt, so wie das östliche sich unter eine solche Tangente senkt;
aber ein IiTtum ist, sich die Linie, die den Zielenden mit dem Ziel
verbindet, als eine ruhende Tangente zu denken, der Zielende ändert
seinen Ort, wie das Ziel, die Tangente, in der er schießt, hebt sich
und senkt sich durch die Bewegung der Erde genau in derselben Weise
wie das Ziel.
So würde durch das Treffen der Kugel die Bewegung der Erde
nicht widerlegt sein, auch wenn die Berufung auf diese Tatsache
sich durch Beobachtung bekräftigen ließe. In Wirklichkeit nehmen
die Gegner für sich in Anspruch, was niemand wahrgenommen hat.
Galilei berechnet, daß bei der Wurfweite der Geschütze und der
Zeitdauer, die ihrem Weg entspricht, die Hebung und Senkung des
Ziels durch die Erdbewegung nicht einen Zoll (1/23 braccia) betragen
würde, aber die Abweichungen der Kugel aus andern Gründen sind
ungleich größer. Wer möchte beweisen, daß die Erdbewegung keinen
Teil daran hat? Größere Schwierigkeiten scheint der freie Flug der
Vögel zu bieten. In tausendfältiger Bewegung durchstreichen sie die
Luft; oft lange genug, ohne die Erde unter sich zu berühren; wie
soll man sich vorstellen, daß in dem Hin und Her der Bewegungen
ihnen nicht die ursprüngliche Bewegung der Erde verloren geht?
wie, daß sie die verlorene medererlangen, um im Fluge nicht hinter
den Türmen der Erde zurückzubleiben? Der Einwand gehört zu
denen, die schon den Alten die Annahme einer Erdbewegung wider-
sinnig erscheinen ließen. Copernicus hat sich auf eine Erörterung
nicht eingelassen: den Löwen, sagt Galilei^, kümmerte das Bellen der
kleinen Hunde nicht. Galilei zeigt, daß die Ki'aft des lebenden Tiers
als Ursache seiner \^'illkürlichen Bewegung, das einzige, wodurch der
1 Ed. Naz. \^T p. 194.
— 101 —
Fall der fliegenden Vögel von dem Fall der geworfenen Geschosse
sich unterscheidet, einen Unterschied der Erldärung nicht bedingt.
Es ist unzweifelhaft, daß die innere Kraft den lebenden Vögeln
Bewegungen gestattet, die den toten Vögeln sowohl wie den geworfenen
Kugeln unmöglich sind; aber die Bewegung des lebenden Vogels,
die nicht aus dieser Innern Ursache stammt, ist in ihm ganz so wie
in der geworfenen Kugel vorhanden. Galilei sieht auch hier keine
Schwierigkeit. ,,Ist die Geschwindigkeit des Vogels =1, die Ge-
schwindigkeit der Erde = 9, so hat der Vogel, wenn er ostwärts fliegt,
die vereinigte Gesch\\indigkeit 10 und kommt mit dieser genau so
weit, als wenn er auf ruhender Erde mit der Geschwindigkeit 1
geflogen wäre; fliegt er westwärts, also der Erdbewegung entgegen,
so bleiben ihm in der Richtung der Erdbewegung nur 8 Grade,
während die Erde mit 9 nach Osten geht, er bleibt also westwärts
zurück, und zwar genau so weit, als er mit der Geschwindigkeit 1
auf ruhender Erde gekommen wäre. Die Erdbewegung hindert ihn
und hilft ihm ebensowenig in seinem Flug, er sei gerichtet, wie er
wolle, wie sie die fliegende Kugel in ihrer Bewegung fördert oder
hemmt. Den Flug nach Westen richten, heißt nichts anderes, als
von der täglichen Bewegung, die 9 Gesch^indigkeitsgrade betragen
mag, etwa einen Grad in Abzug bringen, so daß dem Vogel deren 8
verbleiben, so lange er fliegt; und kehrt er zur Erde, so hat er alsbald
die gemeinsamen 9; fliegt er gen Osten, so kann er dadurch ihnen
einen zehnten hinzufügen und mit diesen 10 zu seinem Turm zurück-
kehren.
Um den letzten Zw^eifel zu beheben, fordert Galilei^, daß man
mit all den Gegenständen, lebenden und toten, deren Bewegung auf
bewegter Erde man prüfen wiU, sich auf einem rasch segelnden Schiff
so vollständig abschließe, daß eine Fortbewegung des Schiffs an
äußern ruhenden Gegenständen nicht wahrzunehmen ist; man wii-d
alsdann durch den Augenschein gewahren, daß der Bewegung der
Teile nicht zu entnehmen ist, ob das Ganze ruht, oder ob es in
Bewegung ist, so vollständig werden in beiden Fällen die Bewegungs-
erscheinungen an den Teilen übereinstimmen.
Aber die Lehre von der Zusammensetzung der Bewegungen,
die den Erfolg dieses Versuches voraussehen läßt, gewährt noch mehr.
1 Ed. Naz. VII p. 2]2f.
— 102 —
Sie weist statt jener Folgen, die der Gegner in unklarer Berechnung
erwartet, tatsächliche Verschiedenheiten der Bewegungserscheinungen
auf ruhender und bewegter Erde nach; sie bezeichnet demnach Ver-
suche, die eine Entscheidung für oder wider Copernicus ergeben
müssen. Galilei ist sich dieser Konsequenzen wohl be\^aißt gewesen.
Er sieht, daß, wenn die Erde sich bewegt, die Kugeln, die auf der
nördlichen Erdhälfte nordwärts geschossen werden, nicht allein nicht
westlich zurückbleiben, sondern ostwärts vorauseilen müssen,
denn sie kommen mit der größeren Geschwindigkeit des größeren
Parallelkreises in die höheren Breiten. Galilei glaubt jedoch, daß
bei der geringen Schußweite der Kanonen der Unterschied der
Geschwindigkeit zu gering sein wird, um solche Abweichung erkennen
zu lassen. Eine späte Folgezeit hat seine Vorstellung bestätigt, und
in der Abweichung der Kanonenkugeln je nach der Richtung des
Schusses hat sich ein bestimmter Beweis für die Rotation der Erde
ergeben.
Galilei hat ebensowenig übersehen, daß aus ähnlichem Grunde
der fallende Körper in Wirklichkeit ostwärts vom Fußpunkt der
Senkrechten den Boden treffen müsse; er redet davon, als er dem
Jesuiten Scheiner die seltsame Rechnung revidiert, nach der ein
Körper, um vom Mond zum Zentrum der Erde zu fallen, mehr als
sechs Tage gebrauchen sollte. Scheiner hält für ganz undenkbar,
daß eine Kugel bei solchem Fall stets über dem Punkte bleibe, der
an der Erdoberfläche in der Senkrechten unter ihr liegt; er läßt sie
in verwickelten Spiralen zur Erde gelangen. Galilei berechnet nach
den einfachen Annahmen seiner Fallgesetze für denselben Fall nur
eine Zeit von wenig mehr als drei Stunden; auch diese kürzere Fall-
zeit müßte nach der Denkweise des Gegners eine starke westliche
Abweichung der fallenden Kugel bewirken; ein solches Zurückbleiben
erwartet auch Galüei, wenn der Ort, von dem die Kugel kommt,
an der 24 stündigen Bewegung der Erde keinen Anteil hat ; bewegt
er sich dagegen mit der Erde, wie dies der Voraussetzung der
Berechnung entspricht, so nmß der fallende Körper vielmehr dem
Fußpunkt der Senki-echten ostwärts vorauseilen, da er mit der
Geschwindigkeit der höheren Kreise der Luft die Erde treffen würde.
Auch hier hat Galilei es seinen Nachfolgern überlassen, aus der
klaren Folgerung die Aufforderung zum entscheidenden Versuch zu
entnehmen.
— 103 —
Nicht ganz so glücklich, aber dennoch bahnbrechend, ist seine
Erläuterung einem EimA^rf gegenüber, auf den die alten Philosophen
besonderes Gewicht gelegt hatten, Sie kannten die Schleuderkraft
des rasch gedrehten Rades und der rasch geschwungenen beschwerten
Schnur. Sie sahen diese Kraft mit der Geschwindigkeit der Kreis-
bewegung wachsen — so, schlössen sie, müssen bei einer Geschwindig-
keit, wie sie für die Erdrotation anzunehmen wäre, mit ungeheurer
Gewalt die Körper der Erdoberfläche, Menschen, Tiere, Gebäude
ins Weltall geschleudert werden. Daß dies nicht geschieht, schien
ihnen ein ausreichender Beweis gegen jede Bewegung der Erde.
Scherzend verbessert Galilei zugunsten der Gegner die Form
ihres Einwurf s^; sie reden, als komme es darauf an, eine Bewegung
zu widerlegen, die plötzlich, etwa zur Zeit des ersten, der sie behauptet,
ihren Anfang genommen hätte, denn eine von Anbeginn bewegte
Erde würde nach ihrer Schlußweise weder die Aufführung von
Gebäuden, noch die Entstehung von Menschen und Tieren dulden.
Galilei unternimmt zum erstenmal, die Verhältnisse zu bestimmen,
unter denen infolge rascher Ki-eisbewegung Teile der Peripherie sich
von dem geschwungenen Körper lösen müssen; zum erstenmal ist
hier von einem Bestreben der kreisförmig bewegten Körper, in der
Tangente zu entweichen, die Rede. Dies Bestreben äußert sich,
solange der Körper in der Kreisbahn bleibt, als Druck gegen die
Peripherie; wd die Verbindung aufgehoben, so wiü'de Entfernung
in gerader Linie stattfinden, wenn keine andere Kraft den Körper
wieder zur Peripherie zurückführte. Dies letztere müßte an der
bewegten Erde früher oder später durch das Gewicht des fort-
geschleuderten Körpers bewirkt w^erden. Eine Abschleuderung könnte
daher nur dann stattfinden, wenn die Geschwindigkeit in der Tangente
die des Falls überträfe; aber je größer der Kreis, um so mehr müßte
die Geschwindigkeit in der Tangente überwiegen, denn je größer der
Kreis, um so langsamer entfernt sich die Tangente von der Peripherie,
um so kleiner ist also der FaUraum, durch den der Körper zur Peri-
pherie zurückkehrt. Es müßte also, damit ein Körper von der Erde
losgerissen würde, die Zeit, in der er sich durch Tangentialbewegung
mehr als tausend Ellen vom Berührungspunkt entfernt, nicht aus-
reichen, um ihn der Erde einen Finger breit zu nähern. Ein solches
1 Ed. Naz. VII p. 215f.
— 104 —
Verhältnis findet aber nicht statt. Galilei beweist allgemein, daß sich
vom Zentrum an die Tangente immer eine Sekante der Ai't ziehen
läßt, daß der Abschnitt der Sekante zwischen Tangente und Peri-
pherie in jedem beliebigen Verhältnis kleiner gemacht werden kann,
als das Stück der Tangente zwischen dem Berührungspunkt und der
Sekante. Er scheint so jedes Abschleudern von Teilen, die zum
Zentrum gezogen werden, widerlegen zu wollen. ^
Daß die alten Denker zu den ungeheuerHchsten Annahmen über
die Schleuderkraft der rotierenden Erde gelangen, liegt nur in der
irrigen Vorstellung, die eine Zunahme dieser Schleuderkraft schlecht-
hin von der Geschwindigkeit der Ki-eisbewegung abhängen läßt.
Galilei zeigt, daß diese Annahme nur für die Bewegung im gleichen
Kreis oder in Kreisen von gleichem Durchmesser Gültigkeit hat;
haben die Kreisbahnen verschiedene Halbmesser, so ist keineswegs
das Bestreben, in der Tangente zu entweichen, bei gleicher Anfangs-
geschwindigkeit das gleiche, bei größeren größer. Denn je kleiner
der Kreis, um so mehr entfernt sich in gleichen Zeiten die Tangente
von der Peripherie, um so größer muß daher die Kraft sein, die den
Körper hindert, in der Tangente zu entweichen; je größer der Kreis,
um so schwächer, sagt Galilei, kann der Zügel oder Leim sein, der
den Körper an die Peripherie zu fesseln vermag; es nimmt also bei
gleicher Geschwindigkeit die Schleuderki-aft ab, wie das Kad an
Größe zunimmt, und so könnte es vielleicht nötig sein, daß man,
um dem größeren Rad die gleiche Schleuderkraft zu erteilen wie
dem kleinen, seine Geschwindigkeit im gleichen Verhältnis vergrößern
müßte, wie den Durchmesser; das aber würde geschehen, wenn das
kleine und das große Rad ihre Umdrehung in gleichen Zeiten voll-
endeten, und so könnte man glauben, daß die Umdi-ehung der Erde
die Steine nicht mehr noch weniger abzuschleudern vermögen würde,
als irgendwelches kleine Rad, das sich in 24 Stunden einmal umdreht.
Gahlei läßt seinen Sagredo die kühne Vermutung hinstellen^,
ohne bei dieser Gelegenheit prüfen zu wollen, ob in der Tat das Ver-
hältnis der Schleuderkräfte durch den Vergleich getroffen sei. Salviatis
Worte deuten den Zweifel an^. In der Tat trifft die Rechnung nicht
^ Galilei zeigt die Ursache des Irrtums, aber er irrt dabei selbst.
2 Ed. Naz. VII p. 224f.
^ Sagredo läßt die Zentrifugalkräfte bei gleichem Halbmesser im gleichen
Verhältnis wie die Geschwindigkeiten wachsen.
— 105 —
zu; aber den Fehler zu erkennen und zu berichtigen, genügte eine
konsequente Durchführung der klaren geometrischen Methode, durch
die Galilei eine neue Lehre von der Tangentialkraft in den Dialogen
begründet hat. Der Irrtum berührt die Kraft des Beweises nicht,
durch den eins der wertvollsten Argumente der alten Physik gegen
die Bewegung der Erde für immer beseitigt war.
Mit nicht geringerer Gründlichkeit prüft Galilei die zahlreichen
Einfälle, logische Deduktionen wie vermeintliche Erfahrungstatsachen,
die einzelne Gelehrte seiner Zeit den von alters her überlieferten
Gründen für die Ruhe der Erde hinzugefügt hatten. So verschmäht
er nicht, dem Manne zu antworten, der vergebens erwartet, aus der
Tiefe eines Brunnens die Sterne in raschem Fluge über sich dahin-
eilen zu sehen, und stattdessen stundenlang denselben Stern über
seinem Haupte sieht. So geht er mit dem Jesuiten Scheiner in langer
Untersuchung auf die Frage ein, was und welcher Art das Prinzip
der Erdbewegung sein könne. ^ Nach der Weise der Schule bewies der
gelehrte Jesuit, daß das Prinzip der Bewegung weder ein äußeres noch
ein inneres sein könne; ist aber beides unmöglich, so kann eine Erd-
bewegung nicht sein. Galileis Entgegnung will keinen Zweifel darüber
lassen, daß es Fragen gibt, auf die dem Copernicaner die Antwort
fehlt, und die der Gegner nur darum so leicht erledigt, weil ihn die
Schule gelehrt hat, Worte für Begriffe zu nehmen. Er weiß nicht,
ob es ein inneres oder äußeres Prinzip ist, das die Erde bewegt, aber
sein Nichtwissen vermag nicht, ihr, was sie hat, zu nehmen. Aber
das eine weiß er: wenn man ihm sagen kann, was es ist, das den
übrigen Himmelskörpern den Ursprung der Bewegung gibt, so will
er sagen, was die Erde bewegt. Ja, mehr als das erkennt das Auge
des Genius: man soll ihn nur belehren, was die Teile der Erde nach
unten gehen läßt, so wird auch das ihm genügen, um zu sagen, was die
Erde bewegt.
Der Peripatetiker zweifelt nicht: „ein jeder weiß, es ist die
Schwere, die die Körper fallen macht."
„Ihr irrt", entgegnet Salviati, „Ihr hättet sagen sollen: ein jeder
^ „Wie ist ein Prinzip der Bewegung möglich", meint Scheiner, „das
dem Allerverschiedensten, den vier Elementen, dem Toten wie dem Lebenden
gemeinsam wäre?" „Wenn das nicht möglich ist — entgegnet Sagredo — so
kann eine lebende Katze nicht aus dem Fenster fallen, weil die tote aus dem
Fenster fällt."
— 106 —
weiß, daß man es Schwere nennt; aber nicht nach dem Namen frage
ich, sondern nach dem Wesen der Sache, und von diesem Wesen
^^-ißt Ihr nicht mehr, als von dem Wesen dessen, was die Sterne
bewegt.^"
C. Jährliche Bewegung.
Der dritte Tag der Dialoge^ hat die jährliche Bewegung der Erde
zum Gegenstand. Wer nicht zufrieden ist, in dem Buche zu lesen,
was es geben will, nuiß hier zumeist Gelegenheit zum Tadel finden;
hier scheint der Ort, an dem von Keplers neuer Astronomie zu reden
war, von dem entscheidenden Beweis, daß es unmöglich sei, durch
kreisförmige Bahnen und gleichförmige Bewegungen die Erscheinungen
zu erklären, oder, wenn Galilei diese Erkenntnis seines großen Genossen
nicht als hinlänghch begründet ansah, so hätte man doch an dieser
Stelle zum mindesten einen Hinweis auf die ungelösten Schwierig-
keiten der copernicanischen Lehre als auf die Aufgabe einer künftigen,
fortschreitenden Wissenschaft erwarten sollen.
Oft genug findet Galilei in den Dialogen Gelegenheit, den ab-
geschlossenen Formeln der Schule gegenüber die wahre Wissenschaft
als eine immer werdende, als das Werk der aufeinander folgenden
Generationen darzustellen; aber hier, wo die Veranlassung zu solchen
Betrachtungen unmittelbar gegeben war, erscheint das Unvollendete
als ein völlig abgeschlossenes Werk. Nicht einmal von den In-
konsequenzen, zu denen Copernicus sich genötigt sah, ist die Rede.
Niemand könnte diesen Dialogen entnehmen, daß die einfache- Kreis-
bahn nicht genügt, die wirklichen Bewegungen der Planeten und des
Mondes zu deuten.
Man hat das auffallend, selbst tadelnswert gefunden, aber man
mag die Tatsache beurteilen, wie man vnll, ohne Zweifel entsprach
sie einer bestimmten Absicht des Verfassers: nicht die Ausführung
des copernicanischen Systems, sondern die Beweise für die jährliche
Bewegung der Erde um die Sonne und die Widerlegung der Gegen-
gründe bilden den Gegenstand des dritten Dialogs. Es handelte
sich liier um den Teil der neuen Lehre, der zumeist der Auffassung
I
^ Hier waren vom Verf. Ausführungen über den Wert dieses ersten
Teils, das Dauernde in ihm, die Anschaulichkeit der Beweise und wie weit
diese für uns noch heute aufklärend sind, geplant. D. Herausgeber.
2 Ed. Naz. VEI p. 299-441.
— 107 —
der Laien Schwierigkeiten bot; in vollem Maße macht sich denn auch
bei diesem Teil die seltene Gabe des Meisters, zu verdeutlichen und
zu lehren, geltend. Er geht davon aus, daß eine Bewegung der fünf
Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn um die Erde
nicht anzunehmen, daß vielmehr notwendig die Sonne in den Mttel-
punkt ihrer Bahnen zu setzen sei. Für Merkur und Venus genügt
zum Beweise, daß ihre Entfernung von der Sonne immer nur eine
geringe ist und daß sie, von der Erde gesehen, immer nur auf der-
selben Seite wie die Sonne stehen, daß sie größer erscheinen, wenn
sie rückläufig, als wenn sie rechtläufig sind. Die übrigen erscheinen
sowohl in der Opposition wie in der Konjunktion, aber daß sie in
der Opposition der Erde näher, in der Konjunktion ihr ferner stehn,
geht aus der Verschiedenheit der scheinbaren Größe in diesen ver-
schiedenen Stellungen hervor; so kann die Erde nicht im Mittel-
punkt ihrer Bahnen stehen; daß aber der Unterschied der Erdabstände
in den entgegengesetzten Stellungen so viel betrüge wie der doppelte
Abstand der Erde von der Sonne, diese Forderung der copernicanischen
Annahmen, konnte durch die Beobachtungen vor der Erfindung des
Fernrohrs nicht als "Wahrheit erwiesen werden.
Galileis Entdeckungen rechtfertigen die kühne Zuversicht des
großen Mannes, den der scheinbare Widerspruch der Beobachtung
nicht irremachte. Sie zeigen, daß durchs Fernrohr beobachtet, der
scheinbare Größenwechsel der Berechnung entspricht, sie zeigen die
Phasen der Venus, die gefordert waren, wenn die Planeten nicht im
eigenen Licht leuchteten, sie geben endlich Aufschluß über die
gesonderte Stellung, die nach Copernicus dem Mond allein als Tra-
banten der Erde zugewiesen war. Demi wie nach Copernicus der
Mond nicht nur die Erde umkreisen sondern im Jahreslaufe an sie
gefesselt erscheinen sollte, so sah Galilei in den vier Mediceischen
Sternen vier Monde ihre Bahnen um den Jupiter und mit ihm um
die Sonne vollführen.
So sind durch die Hilfe des Fernrohrs, wie Galilei sagt, die drei
ersten Saiten, die anfangs zu dissonieren schienen, mit dem coperni-
canischen System in ^^^Inderbarer Weise in Einklang gebracht.
Ein Zweifel über die Stellung der Sonne im Mttelpunkt der
fünf Planetenbahnen ist demnach nicht zulässig; es bleibt nur zu
entscheiden, ob die scheinbare jährhche Bewegung der Sonne in
Wirklichkeit der Erde oder der Sonne zukommt. Die Wahrscheinlich-
— 108 —
keit spricht zunächst dafür, daß das Zentrum jener fünf Bahnen
und nicht ein Punkt außerhalb derselben der ruhende sei. Die Erde
steht zwischen der Venus mit ihrem neunmonatlichen und dem Mars
mit dem zweijährigen Umlaufe, es ist glaublicher, daß sie selbst,
als daß das Zentrum des Planetensystems in jährlichem Umlauf sich
bewegt. Ist aber die jährliche Bewegung der Erde zugeteilt, so folgt
die tägliche von selbst, denn ohne die Umdrehung um die Achse
würde das Erdenjahr nur in einen Tag und eine jS^acht von je sechs
Monaten zerfallen. Mt diesen kurzen Andeutungen und ohne den
I^amen zu nennen, fertigt Galilei die Hypothese Tycho Brahes ab.
Es ist seine weitere Aufgabe, wie die tägliche, nun auch die
jährliche Bewegung an allem nachzuweisen, was an ihr nicht teil-
nimmt. Zunächst an der Bewegung der Planeten. Es ist der Glanz-
punkt der copernicauischen Lehre, von dem er hier zu reden hat;
der Teil, „der allein genügen könnte, jeden, der nicht mehr als trotzig
und verstockt ist, zur Anerkennung alles übrigen zu bewegen". Denn
alle jene verwickelten Erscheinungen der Rückläufe und Stillstände,
der seltsam schleifenförmigen Bildungen der Planetenbahnen — das
große Problem aller Astronomie — erklärt sich durch die jährliche
Bewegung der Erde. „Nichts braucht an der dreißig jähi'igen Be-
wegung des Saturn, an der zwölfjährigen des Jupiter, der zweijährigen
des Mars, der neunmonathchen der Venus und der etwa achtzig-
tägigen des Merkur geändert zu werden, um durch diese eine Bewegung
der Erde zwischen den Bahnen des Mars und der Venus, das heißt:
durch die jährliche Bewegung des ii'dischen Beobachters die schein-
baren Ungleichheiten in den Bewegungen aller fünf Planeten hervor-
zurufen. Je ferner und langsamer der Planet, um so häufiger holt
ihn die Erde ein, um so öfter muß der Schein des Rücklaufs sich
wiederholen, also häufiger behn Saturn als beim Jupiter, häufiger
beim Jupiter als beün Mars — genau so nimmt in Wirklichkeit die
Zahl der Rückläufe und Stillstände mit der Entfernung von der
Erde zu."
So treten an die Stelle aller Ver\\icklungen und Ungenauigkeiten
in den scheinbaren Bahnen der fünf Planeten gleichförmige und
regelmäßige Bewegungen, wenn man die jährliche Bewegung der
Erde zu Hilfe nimmt.
Es ist der eigentliche Kern der copernicanischen Lehre, der
Hauptinhalt des großen Werks „Über die Bewegungen der Hmimels-
— 109 —
körper", den Galilei hier in der Kürze und klar verbildlicht zur Dar-
stellung bringt.
Ein weiteres Zeugnis für die Bewegung der Erde hat ihm selbst
die Sonne enthüllt. Galilei hatte seinen früheren Beobachtungen
der Sonnenflecken^ die Vorstellung entnommen, daß die Achse der
Sonnenrotation senkrecht zur Ekliptik stehe, daß demnach die Be-
wegung der Flecken, soweit sie durch diese Drehung bedingt war,
dem irdischen Beobachter jederzeit als eine geradlinige erscheinen
müsse; alle Abweichungen schrieb er auf Rechnung der unregel-
mäßigen Bewegungen, die den Flecken eigentümlich waren.
Galilei erzählt^, er habe diese Forschungen als abgeschlossen
betrachtet — da habe bei einem Sommeraufenthalt in Salviatis Villa
deUe Selve der Wunsch des Freundes zu neuen Beobachtungen die
Veranlassung gegeben. Ein ungewöhnlicher, großer Sonnenfleck
wurde auf seiner ganzen Bahn verfolgt, täglich, wenn die Sonne im
Meridian stand, sein Ort verzeichnet; man erkannte, daß die Bahn
nicht geradlinig, sondern etwas gekiiimmt war — weitere Beob-
achtungen bestätigten die Vermutung, die sich alsbald an diese erste
wichtige Wahrnehmung knüpfte: die Achse der Sonnenrotation steht
nicht senki-echt zur Ekliptik, sondern ist gegen diese Senkrechte
geneigt. Entsprach die Bewegung der Sonne der ursprünglichen
Annahme, so war ein Einfluß der jährlichen Erdbewegung auf die
Erscheinungen an der Sonnenoberfläche nicht zu erwarten; war
dagegen die Achse der Sonnenrotation gegen die Achse der Ekhptik
geneigt, so ergab sich aus der jährlichen Bewegung ein regelmäßiger
Wechsel der Erscheinungen, nur an zwei Tagen des Jahres, in einem
Abstand von je sechs Monaten, konnten die Bahnen der Flecken
als gerade Linien erscheinen; dies mußte eintreten, wenn die Achse
der Sonnenrotation in die Ebene des Kreises fiel, der für den Beob-
achter die sichtbare Sonnenhälfte begrenzte; alsdann mußten aber
auch die Flecken das eine Mal von der Linken zur Rechten aufsteigen,
sechs Monate später von der Linken zur Rechten absteigen. Der
Kreis aber, der die sichtbare Sonnenhälfte begrenzt, wird infolge der
jährlichen Bewegung der Erde mit jedem Tage ein anderer; hat also
die Rotationsachse eine unveränderliche Lage, so muß ihre Lage zu
1 Vergl. Bd. I, Kap. 13, S. 438£f.
- Ed. Naz. VII p. 374 f.
— 110 —
diesem begrenzenden Kreis sich mit jedem Tage ändern. Drei Monate
nach jener ersten Stellung fällt die Achse in eine Ebene senkrecht
zum begrenzenden Ki'eis, also in den Meridian des Beobachters;
auch diese Stellung wiederholt sich nach je sechs Monaten, aber das
eine Mal ist der Nordpol, das andre Mal der Südpol der Achse dem
Beobachter zugewandt, und da die Kreise, in denen die Flecke sich
bewegen, immer senkrecht gegen diese Achse sind, so erscheinen in
beiden Fällen die Bahnen der Flecken gekrümmt, der Punkt des
Erscheinens und der des Versch^vdndens liegen in gleicher Höhe,
dagegen muß die Erscheinung in beiden Fällen insofern verschieden
sein, als die Krümmung im ersten nach unten, im andern nach oben
gerichtet erscheint. Bei allen zwischenliegenden Stellungen der Achse
sind die Bahnen der Flecken gekrümmt und die Punkte des Er-
scheinens und Verschwindens liegen nicht in gleicher Höhe: in der
einen Hälfte des Jahres ist der erste, in der zweiten der andere der
höherliegende. Die Krümmung nüimit zu, wenn die Achse von der
Ebene des begrenzenden Kreises aus sich der Ebene des Meridians
nähert und erreicht in dieser ihr Maximum, um dann wieder abzu-
nehmen; dagegen nimmt von dieser Stellung aus der Unterschied in
der Höhe der beiden Endpunkte zu, um sein Maximum zu erreichen,
wenn die Achse der Rotation "bieder in die Ebene des begrenzenden
Kreises fällt.
Alle diese Erscheinungen, wde sie wahrgenommen werden müssen,
wenn die Erde sich um die Sonne bewegt und die Achse der Sonnen-
di-ehung gegen die Erdbahn geneigt ist, sind in Wirklichkeit bei
länger fortgesetzter Beobachtung der Sonnenflecken wahrgenommen.
Diese Entdeckung eines regelmäßigen Verlaufs der Erscheinungen,
der sich in allen Einzelheiten als notwendige Folge der Erdbewegung
voraussehen ließ, mußte für Galilei die Bedeutung eines starken
Beweises für die Tatsache der Erdbewegung gewinnen. „Die Sonne
selbst", sagt er, ,,hat bei der Bestätigung des großen Schlusses nicht
fehlen, vielmehr als Zeugnis über allen Widerspruch erhaben, dafür mit
eintreten wollen." Schwieriger als selbst die Deutung der Ungleich-
heit der Planetenbewegungen scheint ihm der Knoten zu lösen zu
sein, mit dem dies neue hohe Wunder den menschlichen Verstand
nötigt, die jährliche Bewegung der Erde zu übertragen. Galilei über-
sah dabei eine naheliegende Entgegnung nicht. Auch wenn die Sonne
sich bewegte, die Erde ruhte, waren diese Erscheinungen zu erklären.
— 111 —
man hatte nur der Sonne zu den übrigen Bewegungen eine weitere
zu geben; so hatte Scheiner, der sorgfältigste Beobachter der Sonnen-
flecken, der dieselben Tatsachen verfolgt und aufs genaueste ver-
zeichnet hatte, den jährlichen Wechsel der Erscheinungen durch eine
jährliche Bewegung der Rotationsachse um die Achse der Ekliptik
gedeutet. Galilei führte im Sinne der Gegner dieselbe Erklärungs-
weise aus. Freilich mußten diese Gegner dabei anerkennen, was sie
zumeist als Einwurf gegen die copernicanische Lehre benutzten:
daß demselben Körper gleichzeitig mehrere Bewegungen zukommen
konnten; um die di-ei Bewegungen des Copernicus zu beseitigen,
nmßten sie nun der Sonne deren vier zuteilen. Allerdings hatte
Galilei schon in früheren Werken gezeigt, daß, was Copernicus die
dritte Bewegung der Erde genannt hatte, in Wirklichkeit keine
Bewegung sei, er hatte gezeigt, daß ein im Kreis gedrehter Körper
während der Umdrehung die Richtung seiner Achse bewahrt, die
deshalb immer anderen Punkten zugewandt erscheint und auf diese
Weise den Schein einer eigenen Bewegung hervorruft. Dieselbe
Erläuterung mußte er für die Sonne gelten lassen; auch hier war die
eigene Bewegung der Achse um die Achse der Ekliptik auf eine Er-
haltung der Achsenstellung zurückzuführen. Aber aus dieser Auf-
fassung gehen für die Sonne nur um so größere Schwierigkeiten
hervor.^ Denn für die Gegner des Copernicus hat die Sonne nicht
nur in der Zeit eines Jahres die Ekliptik zu durchlaufen, sondern
überdies in je 24 Stunden sich in Ej-eisen und Spiralwindungen
parallel dem Äquator zu bewegen; bleibt nun bei der Bewegung
der Sonne die Achsenstellung unverändert, so ist kein Grund zu
erkennen, weshalb die Periode der daraus hervorgehenden schein-
baren Drehung der Achse eher in Abhängigkeit von der Bewegung
in der Ekliptik ein Jahr umfassen sollte, als bedingt durch die vier-
undzwanzigstündige Bewegung parallel dem Äquator einen Tag.
So müssen auf der einen Seite die Anhänger der alten Lehre
eine vierfache Bewegung der Sonne anerkennen, bei klarerer physi-
kalischer Anschauung ein ungelöstes Rätsel; auf der andern ver-
schwindet für den Anhänger des Copernicus alle Verwicklung der
Erscheinungen, wenn man, ohne das geringste an den anderweitig
^ Ich glaube, daß meine Ausführungen treffen, was Galilei durch seine,
wie er selbst sagt, etwas dunkeln Andeutungen ausdrücken will. Vergl.
Scheiner, Riccioli, Delambre.
— 112 —
geforderten Bewegungen der Erde zu ändern, der Sonne nur die eine,
überaus einfache zuweist: die Drehung um eine unveränderlich gegen
die Erdbahn geneigte Achse.
Aber dem außerordentlichen Gewinn an Einfachheit und Klar-
heit der Vorstellungen stand ein Bedenken gegenüber, das für be-
schränkte Geister leicht den Aufschhiß über die Ungleichheit der
Planeten und die vierfache Sonnenbewegung aufwog. Es war die
Vorstellung einer unermeßlichen Entfernung des Fixsternhinimels,
einer nie geahnten Größe der Welt, die als unvermeidliche Konse-
quenz der copernicanischen Lehre für viele ihre Unmöglichkeit klar
zu erweisen schien. Zwar hatte als Gegenstand des philosophischen
Streits die Frage, ob die Welt endlich oder unendlich sei, die Denker
alter und neuer Zeit beschäftigt, aber die wahrnehmbaren Himmels-
körper dachte man sich allgemein in verhältnismäßig geringen Ab-
ständen und in symmetrischer Verteilung die Erde umgebend, wenn-
gleich, soweit bestimmte Messungen versucht waren, man Zahlen
gefunden hatte, die bei aller Abweichung von den wirklichen Ent-
fernungen als faßbare Größen nicht bezeichnet werden konnten.
Vor allem dachte man sich die Sphären der Planeten in symme-
trischer Folge die Erde umgebend, über der Sphäre des Saturn die
Sphäre der Fixsterne, und diese von ersterer etwa so weit entfernt,
wie nach innen die Sphäre des Jupiter.
Eine solche Symmetrie war in dem System des Copernicus nicht
zu erkennen. Mit der Entfernung der Planeten sah man die schein-
baren Veränderungen in ihrer Bewegung, die von der Bewegung der
Erde herrühren, wie diese Annahme forderte, kleiner und kleiner
werden; bei den Fixsternen waren solche Veränderungen nicht mehr
wahrzunehmen; der ganze jährliche Umlauf der Erde und der dadurch
bedingte außerordentliche Wechsel in dem Abstand des ü'dischen
Beobachters von den Sternen war durch keinerlei Änderung in den
Abständen der Fixsterne zu erkennen; zwar dachte man sich den
Halbmesser dieser jährlichen Bahn beträchthch geringer, als er in
Wirklichkeit ist; man berechnete den Abstand der Erde von der
Sonne nach den älteren Messungen zu 3' (Aristarch) und selbst nach
den besten Bestimmungen nur zu 2' 50" (Ptolemäus). Aber die
Forderung, eine Bahn von solchem Halbmesser für die Entfernung
der Sterne als verschwindend, als Punkt zu denken, schien darum
nicht weniger unerhört, die unfaßbare Höhe der Fixsternsphäre über
— 113 —
der Sphäre dej^ Saturn, die sich daraus ergab, vernichtete die ver-
meintliche Symmetrie des Weltbaus,
Jene gleichen Abstände der Planetensphären hatte man dem
Bedürfnis der Planetenbewegung entsprechend gedacht — die Mög-
lichkeit, solche Zwecke zu erdenken, hatte dazu geführt, sie überall
vorauszusetzen und selbst die Anerkennung der Tatsachen davon
abhängig zu machen, ob man imstande war, ihren Zweck zu erdenken.
So redete man von dem ungeheuren Raum zwischen den Sphären
des Saturn und des Fixsternhinmiels als von einer Absurdität, da
sich kein Zweck eines solchen x\bstandes erfinden lasse.
An die Vorstellung von der Erde und dem Menschen im Mittel-
punkt der Welt knüpften sich dann weitergehend die Ansichten über
die Beziehungen der Hinmieiskörper zm* Erde. Der ?sutzen des
Menschen erschien als Zweck und Ausgangspunkt für alle räumliche
Anordnung des Weltalls. Von diesem Standpunkte aus war man
nur konsequent, wenn man die Copernicaner fragte: was die unermeß-
liche Lücke bezwecken, was die Sterne in solcher Höhe für die Erde
bedeuten, wie sie zu \virken imstande sein sollten.
Galilei sucht zunächst die Vorstellungen über die Größe dieser
Entfernungen auf das nötige Maß zurückzuf ühi-en. ^ Tycho Brahe
hatte die Zweifelnden durch die Berechnung erschreckt, daß nach
der Annahme des Copernicus der körperliche Inhalt mancher Fix-
sterne größer sein müßte, als die Sphäre der Erdbahn, bei andern
sogar größer als die Sphäre der Saturnsbahn. Galilei zeigt den Ur-
sprung seines Irrtums. Er hatte bei der Bestimmung der scheinbaren
Größe der Sterne keine Rücksicht auf die Vergrößerung durch
Irradiation genommen und so außerordentlich übertriebene Zahlen
erhalten. Galilei zeigt, wie man auch ohne Hilfe des Fernrohrs dazu
gelangen kann, diese durch die ?satur des menschüchen Sehens
bedingte Vergrößerung zu beseitigen; auf diese Weise hat er den
Durchmesser eines Sterns erster Größe zu fünf Bogensekunden
bestinunt. Dem Stern sechster Größe gibt er einen Durchmesser von
Ve Sekunden; dann braucht er seine \\irkliche Größe nur der der
Sonne gleichzusetzen, um (auf Grund der damaligen Bestunmungen
von Größen und Entfernungen) zu berechnen, daß in einem Abstand
von 2160 Halbmessern der großen Erdbahn der Stern erscheinen
1 Ed. Naz. ^^I p. 386 f.
Wohlwill, Galilei. Bd. II.
— 114 —
müßte, wie er in Wirklichkeit erscheint. In dieser Entfernung aber
würde für den Fixstern der Durchmesser der großen Erdbahn nicht
mehr bedeuten, als ein Abstand gleich dem Halbmesser der Erde für
die Entfernung der Sonne.
Aber Galilei sieht kein Hindernis darin, noch ungleich größere
Entfernungen für die Fixsterne anzunehmen. Er geißelt die ^Mischung
von Beschränktheit und Vermessenheit, die dazu fühlt, Entfernungen
und Größen als allzugroß und undenklich zu verwerfen. „Ich frage
dich, törichter Mensch", ruft er aus^, „begreifst du in deiner Ein-
bildungskraft die Größe des Weltalls, die du zu groß nennst? Wenn
du sie begreifst — glaubst du, daß deine Fassungskraft weiter
reicht als die göttliche Macht? Willst du behaupten, daß du
Größeres denkst, als Gott zu erschaffen vermag? Aber wenn du sie
nicht begreifst, wie wiUst du über Dinge urteilen, die du nicht gefaßt
hast?" — Den Irrtum dieser Urteilsweise fülirt Galilei darauf zurück,
daß man die Ausdrücke absolut gebrauche, die nur relativ zu nehmen
sind; nichts kann groß oder klein genannt werden, als im Vergleich
mit etwas anderen derselben Gattung, so sei die Sphäre der Fix-
sterne etwa mit der des Mondes, des Jupiter oder Saturn zu ver-
gleichen; wolle man sie in diesem Sinne zu groß nennen und darum
ihre Existenz in dieser Größe leugnen, so müsse man ebenso zu groß
nennen und verleugnen, was in ähnlichem Verhältnis Dinge der
eigenen Gattung an Größe übertrifft, es müßten danach Elefanten
und Walfische als Geburten der Phantasie betrachtet werden^ wenn
man sie mit Ameisen und Stichlingen vergleicht. Beobachtet man
andrerseits, wie große Teile des Weltraums kleinen Teilen, wie den
Planeten, zum Behälter und Aufenthaltsort angewiesen sind, und
denkt man, daß jedem Stern nach gleichem Verhältnis seine. Sphäre
zukäme, so müßte man für jene unzählige Menge von Fixsternen
eine Sphäre abmessen, die viele und viele tausendmal an Umfang
die übertreffen würde, die für den Bedarf des copernicanischen
Systems genügt. ^
Auf die Frage nach dem Zw-eck der ungeheuren Leere über dem
Saturn und auf die andern geistesverwandten Zweifel antwortet
Galilei mit einer Abfertigung der ganzen kleingeistigen Denkweise,
1 Ed. Naz. VII p. 394.
- Ed. Naz. VII p. 396.
~ 115 —
die uns den großen Mann auf der Höhe der copernicanischen Welt-
anschauung zeigt.
„Allzu anmaßend", sagt er^, „scheint mir die Ansicht, daß nur
die Sorge für uns das zugemessene Werk und die Grenze sei, über
die hinaus die göttliche Weisheit und Macht nichts anderes tut und
anordnet; aber ich möchte nicht, daß wir den Arm Gottes so ver-
kürzen; geben wir uns vielmehr mit dem sicheren Bewußtsein zu-
frieden, daß Gott und Xatur sich derart um die Lenkung mensch-
licher Dinge bekümmern, daß keine größere Fürsorge walten könnte,
auch wenn für nichts anderes zu sorgen wäre als für das Menschen-
geschlecht allein. Ich glaube das mit einem sehr geeigneten und
erhabenen Beispiel belegen zu können : es handelt sich um das Wirken
des Sonneiüichtes, welches hier wässerige Dünste anzieht oder da
eine Pflanze erwärmt, und zwar so jene anzieht, so diese erwärmt,
als hätte es sonst nichts zu tun. Ja wenn eine Traube oder auch
nur eine einzige Beere zur Reife gebracht werden soll, so macht es
sich daran, wie es mit größerem Erfolge nicht möglich wäre, wenn
das Endziel alles seines Tuns bloß die Reifung dieser Beere wäre.
Da nun diese Beere von der Sonne alles empfängt, was sie empfangen
kann, da ihr nicht das ^Mindeste davon entzogen mrd, weil die Sonne
gleichzeitig tausend und abertausend andere Wirkungen ausübt, so
müßte man jene des Neides und der Torheit zeihen, wenn sie glaubte
oder verlangte, daß das Wirken der Sonnenstrahlen bloß um ihr
Wohl sich bekümmern solle. Ich bin überzeugt, daß die göttliche
Vorsehung bei der Lenkung der Menschengeschicke das, was man
von ihr erwarten kann, nicht ungetan läßt. Daß aber darum nicht
noch andere Ausflüsse ihrer unendlichen Weisheit im Weltall vor-
handen sein könnten, möchte ich nach den Eingebungen meiner
Veniunft mich nicht bequemen zu glauben; sollte jedoch die Sache
in Wirklichkeit sich anders verhalten, so würde ich mich nicht
sträuben, an die Gründe zu glauben, welche mir von höherer Einsicht
entgegengehalten würden.
Muß es darum als Verwegenheit erscheinen, wenn man unnütz
und zwecklos die ganze Welt nennen wollte, sofern sie uns nicht
nützt, so scheint es größere Torheit noch, als überflüssig und darum
nicht vorhanden die Dinge zu bezeichnen, deren Xutzen uns unbekannt
1 Ed. Naz. VII p. 394 f.
— 116 _
ist? Wissen wir doch den Zweck der nächstliegenden Dinge, der
Teile des eigenen Körpers nicht, nnd wollen Jnpiter oder Saturn aus
der Katiir verbannen, weil \\ir nicht wissen, wozu sie uns dienen?
Und wissen vdr denn nur, daß jener ungeheure Raum, dessen
Leere man zwecklos findet, in Wirklichkeit keine andern Weltkörper
enthält? Etwa weil wir sie nicht sehen? So sind also die vier medi-
ceischen Planeten und die Genossen des Saturn erst in den Himmel
gekommen, als wir anfingen sie zu sehen? Und waren die andern
zaMlosen Fixsterne nicht da, ehe wir sie durch das Fernrohr erkannten ?
0! über die anmaßende, verwegene Unwissenheit der Menschen!"
Der Gegenstand führt liier den Denker weit über die Grenzen
der astronomischen Betrachtung hinaus; er enthüllt die niedere
Stufe der Anschauungen, an die der Mensch in den Grenzen der alten
Weltansicht gebannt war; er läßt den Leser erkennen, daß mit der
Veränderung des Standpunkts im Weltall, wie sie Copernicus fordert,
nur der Schein einer höheren Stellung gefallen, in Wirklichkeit aber
die Befreiung der Gedanken von unwürdigen Schranken gewonnen ist.
Galilei ist der erste Copernicaner, der diese, schon vonBruno^
mehr intuitiv erkannten, Konsequenzen der neuen Lehre in voller
Klarheit begriffen und ausgesprochen hat, so daß ihm, wie Bruno,
die Fixsterne Sonnen hießen, und er in dem Sonnensystem, dem die
Erde angehört, nur eine von zahllosen Welten sah.
So wenig ihm von diesem Standpunkt aus eine unmeßbare Ent-
fernung der Fixsterne bedenldich erscheinen konnte, so spricht er
doch in zuversichtlichen Worten die Überzeugung aus, daß Copernicus
in dieser Beziehung mehr zugestehe, als er ge^iißt hat. Daß die An-
näherung und Entfernung der Erde um den Durchmesser der jähr-
lichen Bahn eine Verschiedenheit in der Stellung der Sterne nicht
hervorrufe, betrachtet er als keineswegs festgestellt, ja, er hält es
für gewiß, daß der Versuch, solche Verschiedenheiten nachzuweisen,
bisher von niemand unternommen sei; und es sei das nicht zu ver-
wundern, da man Grund zum Zweifel habe, ob die meisten Beobachter
wissen, in welcher Weise dergleichen zu erwarten und wahrzunehmen sei.
Er zeigt nun, in welcher Weise man hoffen dürfe, das Gesuchte
zu finden. Bei einzelnen Sternen, die in der Ebene der Erdbahn
liegen, würde die Annäherung und Entfernung der Erde eine Zu-
1 S. Bd. I, S. 23f. und S. 363.
— 117 —
und Abnahme der scheinbaren Größe i)ewirken, während für die
Höhe im Meridian eine Änderung durch die jährliche Bewegung nicht
zu erwarten wäre. Dagegen ist ein Erfolg von der Beobachtung
zweier einander sehr naheliegender Sterne zu erwarten. Galilei
glaubte nicht, daß die Sterne auf einer Kugelschale liegen, er hielt
vielmehr für durchaus wahrscheinlich, daß ihre Entfernungen außer-
ordentlich verschieden sind, daß die einen uns zwei und dreimal
ferner liegen als die andern. Fände sich nun durchs Fernrohr ein sehr
kleiner Stern in der Nähe eines größeren, und der kleine stände in
beträchtlich größerer Entfernung, so wäre es denkbar, daß eine
Änderung in der Stellung der beiden infolge der jährlichen Bewegung
sich beobachten ließe, in ähnlicher Weise, wie eine Änderung im Ort
der oberen Planeten am festen Hintergrund des Fixsternhimmels
wahrgenommen wird. Anders bei den Sternen außerhalb der Ebene
der Ekliptik. Hier würde auch der einzelne Stern, sofern seine Ent-
fernung nicht unendlich groß ist, von zwei um den Durchmesser der
Erdbahn entfernten Punkten aus gesehen, eine verschiedene Meridian-
höhe haben; und der Unterschied der beiden Beobachtungen würde,
wie er in der Ebene der Ekliptik verschwindet, so mit der Annäherung
an den Pol der Ekliptik zunehmen, in diesem Pol am beträchtlichsten
sein.
Beide Ai-ten von Veränderungen würden um so eher in die Wahr-
nehmung treten, je näher der Stern dem Beobachter läge. Galilei
wundert sich nicht, daß Beobachtungen der einen, wie der andern
Art bisher nicht gemacht sind. Die Änderungen der scheinbaren Größe
werden so geringfügig sein, daß sie sich der Wahrnehmung entziehen,
schon die des Saturn sind kaum zu erkennen. Auch Änderungen in
der Meridianhöhe können ausbleiben, wo sie erwartet werden, wenn die
Entfernungen zu groß und jene deshalb für die Mittel des Beobachters
unmerklich sind. Mit den bisher angewandten Mitteln sind noch
Ungenauigkeiten der Messung im Umfang von mehreren Minuten
möglich; denn um so viel weichen die Angaben verschiedener Beob-
achter für dieselben Fixsterne von einander ab. Auch bei den besten
Instrumenten zur Messung der Winkel sind die Schenkel zu klein
und dadurch die Änderung ihres Abstands für sehr kleine Winkel
verschwindend; Galilei fordert Instrumente, deren Schenkel 4, 6, ja
20—50 (italienische) Meilen Länge haben, so daß der Abstand für
den Grad eine Meile, für die Minute 50 Ellen beträgt, und solche
— 118 —
Instrumente sollen bei höchster Genauigkeit mit geringsten Kosten
herzustellen sein. Er zeigt, wie der Lichtstrahl selbst, der auf dem
Wege zum Auge einen festen Punkt in größerer Entfernung trifft,
den Schenkel von beliebiger Größe gibt; wie dann weiter mit Hilfe
des befestigten Fernrohrs, das auf solche AVeise durch Luftlinien
verlängert zu denken wäre, ein einfaches Beobachtungsverfahren
dazu führen müßte, die geringsten Änderungen in der Meridianhöhe
passend gewählter Fixsterne zu entdecken. Würde es auf diesem
Wege gelingen, eine jährliche Parallaxe solcher Fixsterne nach-
zuweisen, so wäre damit nicht allein ein unwidersprcchlicher Beweis
für die Wahrheit der copernicanischen Lehre gegeben, sondern zu-
gleich die Entfernung der Sterne gemessen.
Die Zuversicht auf nahes, entscheidendes Gelingen spricht aus
Galileis klarer Auseinandersetzung.
jN'och zwei Jahrhunderte hindurch mußte bei stetig zunehmender
Vervollkommnung der Beobachtungsmittel der hingebende Eifer der
Astronomen ohne Erfolg dem gleichen Ziele nachstreben, immer
kleiner wurden die meßbaren Veränderungen, in immer weitere Ent-
fernungen rückten die Fixsterne, aber als die niemals aufgegebene
Hoffnung sich endlich verwirklichte, da waren es die beiden Wege,
die Gahlei der Aufmerksamkeit der Astronomen zuerst empfohlen
hatte, auf denen die Forscher des 19. Jahrhunderts das Ziel erreichten.
Den Beweisen für die jährliche Bewegung schließt sich im dritten
Dialog eine anschauliche Darstellung der copernicanischen Lehre von
der Entstehung der Jahreszeiten an.i Die ursprüngliche copernicanische
Erklärung hat hier, wie bei Kepler, wesentlich an Einfachheit und
Klarheit gewonnen durch die Erkenntnis, daß es für diesen Zweck
nicht einer dritten Bewegung der Achse in Jahresfrist bedarf, daß
dieser Schein der Bewegung in bezug auf nahegelegene Punkte viel-
mehr durch ein Kühen, eine unveränderliche Richtung der Erdachse
während des jährlichen Umlaufs hervorgerufen wird.
Galilei verdeutlicht diese Erhaltung der Achsenstellung durch
den Versuch, den er schon vor längeren Jahren in Rom den Freunden
zum gleichen Zwecke vorgeführt und im Saggiatore beschrieben hatte.
Zugleich gedenkt er dabei der Ansicht Gilberts^, der die bestimmte
1 Ed. Naz. VII p. 416 f.
2 Ed. Naz. VII p. 426 f.
— 119 —
unveränderliche Kiditung wesentlich durch die magnetische iN'atur
der Erde bedingt glaubt. Kr freut sich der Veranlassung, von den
Forschungen des großen Mannes, den er bewundert und beneidet,
in einer Kpisode über den p]rdmagnetisnuis umständlich zu reden.
Nur will er nicht folgen, wenn Gilbert eine selbstäiulige Magnet-
kugel rotieren läßt.
D. Ebbe und Flut.
Der vierte Tag der Dialoge^ enthält die Beweise, die den Er-
scheinungen an der Erdoberfläche zu entnehmen sind; insbesondere
die Lehre von Ebbe und Flut. Galileis Ansichten waren seit dem
Jahre 1616 dieselben geblieben; der größere Teil jener kurzen Skizze,
die er damals für den Kardinal Orsini^ niedergeschrieben hatte,
findet sich wörthch in den Dialogen wieder; zuversichtlich wie damals,
stellt er an die Spitze seiner Ausfühmngen die beiden Sätze: ist die
Erdkugel unbeweglich, so kann Flut und Ebbe des Meeres nicht auf
natürlichem Wege entstehen; gibt man der Erde die Bewegungen,
die Copernicus ihr zuerteilt, so muß notwendigerweise das Meer der
Flut und Ebbe unterliegen, genau so, wie diese Erscheinungen in
der Wirklichkeit wahrgenommen werden. Einzelne tatsächliche
Irrtümer des Entwurfs sind in den Dialogen beseitigt; zwar das
rote Meer läßt Galilei auch jetzt noch der Flut entbehren, dagegen
spricht er nicht mehr von einem zwölfstündigen Wechsel der Er-
scheinungen in Lissabon und anderen Häfen des atlantischen Ozeans;
ohne Zweifel hatte er inzwischen in Erfahrung gebracht, daß die
Periode des atlantischen Meeres von der des mittelländischen nicht
abweiche; seine Ansicht, daß die Periode wesentlich durch die Tiefe
und Länge des Meeresbeckens bedingt sei, verlor damit den schein-
baren Anhaltspunkt in der Erfahrung, aber er gibt darum die Ansicht
nicht auf; er wiederholt sogar die Äußerung dos Entwurfs, daß der
sechsstündige Wechsel nicht der vorzugsweise naturgemäße, sondern
nur der meist beobachtete sei, weil er dem mittelländischen Meere
eigentümlich sei. Xur wenn man tlie ähnlich lautenden Sätze in der
Skizze und in der Ausführung genau vergleicht, nimmt man eine
Milderung im Ausdruck wahr, die der früheren Sicherheit gegenüber
1 Ed. Naz. VII p. 442—489.
- Vergl. Bd. I, Kap. 18, S. 587 ff.
— 120 —
•wie der Anfang des Zweifels Idingt (Hinzufügung eines „vielleicht"-
u. dgl. m.). Aber wenn ihm ein Zweifel vielleicht gegen die Voll-
ständigkeit der früher genannten mitwirkenden Ursachen aufstieg —
die ursprüngliche Ursache berührte er nicht. Deutlicher als in dem
ersten Entwurf tritt in den Dialogen der Ursprung des Irrtums zutage.
Es ist dieselbe ängstliche Abneigung gegen dunkle Begriffe, die alle
seine mechanischen Untersuchungen kennzeichnet, die ihn nun auch
bei den Fluterscheinungen eine direkte Einwu'kung des Mondes von
vornherein zu den Absurditäten einer überwimdenen Wissenschaft
zählen läßt; sein Widerwille gegen alle derartigen Versuche war
so stark, daß er ihn gegen die Bedeutung der Tatsachen verblendete,
die so unwiderstehlich denkende, wie phantasierende Beobachter
aller Zeiten auf den Mond verwiesen hatten. In der Tat hatte die
Lehre von der Wirkung des Mondes auf das Meer der Erde in jener
Zeit noch keineswegs die Form angenommen, in der sie den Schöpfer
einer neuen Mechanik befriedigen konnte, ja, eine befriedigende
Theorie war bei dem Mangel klarer Begriffe über die Natur der
Anziehungswirkungen kaum möglich. William Gilbert sah hier wie
überall eine magnetische Wirkung, er ließ den magnetischen Mond
den magnetischen Erdkern, mit ihm den Boden des Meeres heben
und so die Flut aus dem verengten Gefäß sich ergießen. Dagegen
trug Kepler kein Bedenken, eine Anziehungskraft des Mondes un-
mittelbar auf die Gewässer des Meeres wirken zu lassen, derart, daß,
wenn die Erde aufhörte, ihre Gewässer anzuziehen, diese zum Mond
aufsteigen würden. ^
Wie diese Anziehungski'aft eine Erhebung des Wassers auch auf
der Seite der Erde bewirken körnie, die dem Mond abgewandt war,
versuchte er nicht zu erklären.
Eine ähnliche Deutung gab in Italien der Erzbischof von Spalatro
de Dominis.- Er ging einen Schritt weiter und übertrug die Wirkung
dem Kreise, über dem auf der einen Seite der Mond stand; so war
dann ohne besondere Mühe auch die Wükimg auf der Gegenseite erklärte
1 Vergl. Keplers Bemerkungen zu Plutarclis „De facie in orbe Lunae"
(Johannis Kepler! Opera ed. Frisch, Vol. 8 p. 118, Note 90), ferner seineu
Brief an Herwart vom 2. Januar 1607 (a.a.O. Vol. 3 p. 455); ausfuhrfich.
berichtet über diese Lehren Keplers S. Günther, J. Kepler u. der tellur.-
kosm. Magnetismus p. 56 ff.
- Euripus sive sententia de fluxu et refluxu maris (Romae 1624).
— 121 —
AVenn Kepler liiiizulügte, die Wirkung sei unmerklich in kleinen
Gewässern, so entsprach das zwar den allbekannten Tatsachen, aber
als notwendige Folge einer direkten Anziehungskraft des Mondes
konnte es nicht einleuchten.
Galilei konnte in allen derartigen Erklärungen nur die niedere
Stufe der Forschung erkennen, auf der dies Zusammentreffen der
Erscheinungen unbedenklich zum Verhältnis von Ursache und Wirkung
umgedeutet wird; daß in Wirklichkeit Sonne und Mond bei diesen
Erscheinungen eine unmittelbare Wirkung ausüben, w^ar seinem
Verstände durchaus widerstrebend; er fand es undenkbar, diese
Bewegungen ungeheurer Wassermassen dem Licht, der Wärme, der
Macht verborgener Qualitäten und ähnlichen leeren Phantasien zu-
zuschreiben, dergleichen könne so wenig als die Ursache der Flut
gelten, daß man vielmehr umgekehrt annehmen müsse, es sei die
Flut, die derartige Vorstellungen in Köpfen verursache, die mehr
zum Wortemachen und zur Prahlerei taugen als zum Denken und
zum Erforschen der geheimsten Werke der Natur, die, ehe sie sich
herbeilassen, das kluge, offene und bescheidene Wort: ,,ich weiß
es nicht" — auszusprechen oder niederzuschreiben, lieber das Un-
geheuerlichste zutage fördern.
Am meisten AAnmdert sich Galilei ^ über Kepler, daß er, der ihm
als Mann von freiem und scharfem Geist bekannt ist, dem überdies
die Bewegungen der Erde zu Gebote standen, einer Gewalt des Mondes
über das Wasser, verborgenen Eigenschaften und dergleichen
Kindereien habe zustimmen können. Er empfand offenbar intensiv
das Bedenkliche, das darin liegt, für eine unverstandene Wirkung
direkt die Kraft zu schaffen, die danach eingerichtet, wirken zu
können, wie man sie braucht. Daß Kepler später seine Ansicht auf-
gab, beweist, daß diese keineswegs jene zwängende Gewalt hatte.
Je sicherer Galilei in dieser Verurteilung der gegenüberstehenden
Ansichten war, je zuversichtlicher er als Täuschung und Irrtum ober-
flächlich Denkender die Bemühungen verwarf, denen die Ahnung
des wahren Zusammenhangs zugrunde lag, um so mehr bestärkte
er sich in der Überzeugung, daß nur auf seinem Wege Licht zu
finden sei.
In der Skizze von 1616 war die monatliche und die jährliche
1 Ed. Naz. VII p. 486 f.
— 122 —
Periode der Fluterscheinungen niclit erwähnt; es scheint, daß Galilei
damals noch nicht imstande war, die Veränderungen, die im Laufe
des Mondmonats und dann wieder mit dem Wechsel der Jahreszeiten
eintreten, mit seiner Theorie in Einklang zu bringen. Die Lösung
dieser weiteren Aufgabe war, wie Salviati erzählt ^, das Ergebnis müh-
samer, langwieriger Überlegungen, oft habe er dabei, am Erfolg ver-
zweifelnd, sich mit der Täuschung des unglücklichen Orlando zu
beruhigen versucht: es könne nicht wahr sein, was doch das Zeugnis
so vieler glaubwürdiger Männer verbürgte.
Aber auch hier gewährte tieferes Eindiingen in die Natur der
Erdbewegung glücklichen Aufschluß. Der Abschnitt des vierten
Dialogs, in dem diese weitere Entdeckung mitgeteilt wird, ist einer
der merkwürdigsten des ganzen Buchs.
Galilei benutzt die Gelegenheit, um nochmals aufs ent-
schiedenste eine unmittelbare Einwirkung der beiden Himmelskörper
abzuweisen, mit deren wechselnder Stellung zur Erde der Wechsel
in diesen Erscheinungen unzweifelhaft zusammenhängt, isicht anders
kann dieser Wechsel der Stellungen wirken, als durch eine Steigerung
und Schwächung der ursprünglichen Ursache der Fluten; denn nur
in einer Steigerung und Schwächung der Wii'kung liegt das Wesen
dieser periodischen Veränderungen. Die Ursache der Fluten liegt
nach Galileis Deutung in der Ungleichförmigkeit der Bewegung, die
aus der Veränderung der jährlichen Bewegung durch die tägliche
hervorgeht. Diese Ungleichförmigkeit muß also (infolge einer ver-
änderten Stellung der drei Körper) einer periodischen Änderung
unterliegen. Man sieht leicht, daß dies in dreifacher Weise geschehen
kann, entweder die jährliche Geschwindigkeit nimmt periodisch ab
oder zu, während die Beschleunigung und Verzögerung durch die
hinzukommende tägliche unverändert bleibt, oder die jährliche
Geschwindigkeit bleibt unverändert, während die Beschleunigung und
Verzögerung durch die tägliche Umdi'ehung periodisch verändert
wird, oder endlich beide Änderungen finden gleichzeitig statt.
Nach Galileis Ansicht ist eine regelmäßige Veränderung der
Gesch'SNindigkeit in der jährlichen Bahn die Ursache der monat-
lichen Periode, Offenbar muß die scheinbare jährliche Bewegung
der Sonne und des Mondes davon Kunde geben. Daß dies nach den
1 Ed. Xaz. VII p. 472.
(I
— 123 —
bisherigen Beobachtungen nicht der Fall ist, kann Galilei nicht als
ein Hindernis für seine Anschauung betrachten. Die Astronomie
steht noch auf einer Stufe, bei der unzählige Dinge unentschieden
und vielleicht noch viele andere völlig unbekannt sind. Die Ge-
schwindigkeitsänderungen, die hier in Betracht kommen, sind
jedenfalls nur gering, und was das Wichtigste ist: man hat sie nicht
wahrgenommen, weil man nicht gesucht hat. Man wird sie wahr-
nehmen, sobald man sich davon überzeugt hat, daß sie notwendig
stattfinden müssen. Daß dies der Fall ist, beweist Galilei durch eine
überraschende Vergleichung irdischer Erscheinungen mit den Vor-
gängen am Himmel. Es ist seine Forschung über die Pendel-
schwingungen, auf der die Deutung der monathchen Periode beruht.
Er hat gezeigt, daß die Dauer der Pendelschwingungen nicht von der
Weite der Schwingungen, sondern nur von der Länge des Pendels
abhängt, je geringer der Abstand zwischen dem Aufhängepunkt und
dem schwingenden schweren Körper, um so gi'ößer ist die GeschAvindig-
keit, um so kürzer die Dauer der Schwingung.
Galilei verallgemeinert diese Beobachtung: er betrachtet es als
wahr, natürlich, ja notwendig, daß derselbe bewegKche Körper, von
derselben bewegenden Ki'aft in kreisförmiger Bahn getrieben, in
längerer Zeit einen größeren als einen kleineren Kreis durchläuft.
Daß diese Wahrnehmung in der Tat auch auf die Himmelskörper
Anwendung findet, dafür sieht er den Beweis in den Bewegungen der
Planeten, bei denen die Dauer des Umlaufs mit der Entfernung von
der Sonne zunimmt; aufs beste läßt sich das Wirken derselben Kegel
der kurzen Umlaufszeiten wegen bei den vier Jupiterstrabanten wahr-
nehmen. So hält es Galilei für sicher und gewiß, daß die Umlaufszeit
des Mondes kürzer und kürzer werden müßte, wenn ohne Veränderung
der bewegenden Ej-aft der Halbmesser seiner Bahn sich mehr und
mehr verkürzte und demnach seine Bewegung in immer kleineren
Kreisen stattfinden müßte ^. Was hier als Annahme gesetzt ist,
geschieht in der Tat; der Mond ist nach der Lehre des Copernicus
mit der Erde untrennbar verbunden, er teilt demnach ihre jährliche
Bewegung in der großen Bahn, in derselben Zeit aber legt er beinahe
13 Umläufe um die Erde zurück, er muß dabei der Sonne bald näher,
bald ferner stehen, und, wenn die Regel Geltung hat, w^nn in Wirklich-
Ed.Naz. VII p.477f.
— 124 —
keit die Kraft, die den Mond bewegt, bei seinem Umlauf dieselbe
bleibt, so folgt daraus, daß der Mond notwendig in der Sonnennähe
größere Geschwindigkeit haben muß, als wenn die Erde zwischen
ihm und der Sonne steht, aber dieselbe Änderung der Geschwindigkeit
trifft auch die Erde in ihrer jährlichen Bewegung. Galilei erläutert
seine Ansicht durch den Hinweis auf ein bekanntes Mittel, in den
Räderuhren die Geschwindigkeit zu regulieren i; am Ende eines
horizontal schwingenden Stabes befestigen die Uhrmacher zwei Blei-
gewichte; geht die Uhr zu langsam, so nähern sie die Gewichte der
befestigten Mitte des Stabes. Alsbald werden die Schwingungen
rascher. Wollen sie den Gang verlangsamen, so schieben sie die
Ge^vichte mehr dem Ende zu. Zöge man dementsprechend eine
gerade Linie von dem Zentrum der Sonne durch das Erdzentrum
bis zur Mondbahn, so wäre das der Halbmesser des großen Ki-eises,
den die Erde gleichförmig durchlaufen würde, wenn sie allein wäre;
brächten wir aber auf demselben Halbmesser einen zweiten Körper
an, der bald zwischen Erde und Sonne, bald jenseits der Erde stände,
so müßte je nach diesen Veränderungen die Geschwindigkeit in der
gemeinsamen Bewegung beider bald zu- bald abnehmen. Der heutige
Leser wird in diesem Vergleich trotz der fremdartigen Ausdi'ucksweise
die Ahnung des großen Gedankens einer Himmelsmechanik nicht
überhören, der Glaube an die Allgemeingültigkeit der Bewegungs-
gesetze kann nicht bestimmter ausgedi'ückt werden, als es durch
diese einfache Übertragung der Pendelgesetze auf die Bewegung der
Erde geschieht. So wenig zweifelt Gahlei, ob er der Analogie der
bekannten Erscheinungen vertrauen darf, daß er aus ihr allein Be-
wegungen herleitet, die niemand beobachtet hat. Es steht ihm fest,
daß unter dem Einfluß des Mondes die jährliche Bewegung der Erde
in periodischem Wechsel ihre Geschwindigkeit ändern muß; bleibt
nun die tägliche Bewegung gleichförmig, so muß die Ungleichförmig-
keit der Bewegung, die im Zusammenwirken beider entsteht, mit
den Mondphasen in regelmäßigen Perioden ab- und zunehmen; es
ist also die Ursache und darum die Erscheinung der Fluten selbst
einem regelmäßigen monatlichen Wechsel unterworfen.
Eine zweite Veränderung dieser Ursache ergibt sich ohne weiteres
aus der Lehre des Copernicus, nach der während der jährlichen
1 Ed. Naz. VII p. 474f.
— 125 —
Bewegung die Neigung der Flrdachse, also auch der Winkel, den die
Ebene des Äquators mit der Erdbahn bildet, unverändert bleibt.
Es genügt eine einfache Zeichnung, die die Erde in ihren verschiedenen
Stellungen zur jährlichen Bahn erkennen läßt, um zu verdeuthchen,
daß die täghche und die jährliche Bewegung sich an diesen ver-
schiedenen Punkten in verschiedener Weise zusammensetzen, daß
die Vermehrung und Verminderung durch die tägliche beispielsweise
an den Solstitialpunkten am größten, an den Äquinoktialpunkten
am kleinsten ist. Allerdings werden infolge der täglichen Umdi'ehung
die Punkte der einen Erdhälfte inmier eine verzögerte, die der andern
eine beschleunigte Bewegung haben, aber der Erddurchmesser, durch
den z. B. die beschleunigte und die verzögerte Hälfte des Äquators
abgeschnitten werden, fällt nur an den Solstitialpunkten, wo er
zugleich Tangente der Erdbahn ist, in die Ebene dieser Bahn; denkt
man an andern Stellen der Erde Tangenten an die große Bahn gelegt,
so fällt der betreffende Durchmesser überall in eine senki-echt zur
Erdbahn gelegte Ebene und bildet mit dieser Tangente Winkel, die
bis zu den Äquinoktialpunkten an Größe zunehmen; je größer aber
dieser Winkel, also die Abweichung von der Ebene der Erdbahn,
um so kleiner wird der Teil der täglichen Bewegung, den man an den
verschiedenen Punkten der jährlichen hinzufügen oder von ihr in
Abzug zu bringen hat. In den Solstitialpunkten ist die Länge des
Erddurchmessers das Maß der Beschleunigung auf der einen und der
Verzögerung auf der andern Seite, an jeder andern Stelle wird dies
Maß durch die Projektion des Durchmessers auf die Ebene der Erd-
bahn gegeben sein, diese ist offenbar in den Äquinoktialpunkten
am kleinsten.
So ist denn auf der ersten Grundlage ein vollständiges System
der Flutbewegungen aufgebaut; wie das Widerstreben gegen eine
unmittelbare Wirkung des Mondes auf das Meer die Veranlassung
zur Aufstellung der neuen Theorie gegeben, so liegt auch für Galilei
ein besonderer Triumph darin, daß er es möglich gefunden hat, eine
Änderung der Erscheinungen unter dem Einfluß der Mondphasen
und der Jahreszeiten zu erklären, ohne darum dem Mond und der
Sonne einen Einfluß auf das Wasser zuzugestehen, der für ihn ins
Reich der Fabel gehört. Während niemand vor ihm eine Erklärung
gegeben hatte, die nicht mit völlig unbekannten, unbegreiflichen
Kräften rechnete, glaubte er, das ganze Gebiet der Erscheinungen
— 126 —
auf die einfachen Sätze seiner Bewegungslehre zurückgeführt zu
haben. Selbst in der einfachen Übertragung der Pendelgesetze auf
die Bewegung der Himmelskörper schien ihm keine Hypothese zu
liegen, die der Rechtfertigung bedürfe. Je weiter er auf dem ein-
geschlagenen Wege fortschritt, um so mehr schienen die Erfolge den
AVeg zu rechtfertigen, um so sicherer verhüllten sie ihm den Fehler
in der Grundlage, der das ganze Gebäude zur luftigen Schöpfung der
Phantasie gestaltete. Daß ein System der Flutbewegungen mit Not-
wendigkeit aus der Bewegung der Erde sich ergeben müsse, galt ihm
zm* Evidenz ermesen; die siegesgewisse Überzeugung macht ihn
taub gegen jeden Einwurf aus der Erfahrung. In der Tat hat es
Galilei nicht übersehen können, daß die monatliche wie die jährhche
Periode, die er folgerte, mit den wklichen Perioden der Flut-
erscheinungen durchaus nicht zu vereinen waren. Nach seiner Lehre
hätten die Fluten zur Zeit des Neumonds die höchste, zur Zeit des
Vollmonds die geringste Höhe erreichen müssen; in Wirklichkeit
fallen die höchsten Fluten gleichmäßig auf Voll- und Neumond
und die niedrigsten in die Zeit des ersten und letzten Viertels. Ebenso-
wenig entspricht die jährliche Periode, die sich ihm als einfache
Konsequenz der copernicanischen Lehre ergibt, dem AAirklichen Ein-
fluß der Jahreszeiten. Nach Galileis Lehre müßte in den Solstitial-
punkten eine Steigerung stattfinden, aber die Erfahrungen wissen
von einer solchen Steigerung nichts; sie lassen viehnehr die höchsten
Fluten eintreten, wenn Voll- und Neumond in die Zeit der Tag- und
Nachtgleiche fallen, also in einer Zeit, wo für Galilei die Ursache der
Fluten am schwächsten wken muß. Gahlei schweigt von diesen
Widersprüchen; er redet ebensowenig von der wichtigen Tatsache,
die am meisten auf eine Abhängigkeit der Flut vom Monde hinweist:
von der tägHchen Verspätung der Flutzeit um etwa 48 Minuten gegen
die des vorhergehenden Tages, also dieselbe Zeit, um die der Eintritt
des Mondes in den Meridian sich von einem Tag zum andern ver-
spätet.
Die übliche Kritik geht mit Bedauern an dieser VerÜTung des
großen Mannes vorüber, man scheut sich nicht, sein Schweigen über
jene ernsten Schwierigkeiten als bewußte Unwahrheit zu deuten.
Ich glaube, daß eine solche Beurteilungsweise einem großen Forscher
gegenüber von wissenschaftlicher Auffassung ebenso weit entfernt ist
wie die älteren Fluttheorien, die in der feuchten Natur des Mondes
— 127 —
oder in ähnlichen Formen der Sympathie die Ursache der Meeres-
bewegungen suchen.
Es war in der Tat ein seltsames Zusammentreffen, daß Galilei
in dem großen Kampf für die copernicanische Lehre seine besten
Hoffnungen auf ein Trugbild setzte; aber es heißt nicht erklären,
sondern auf Erklärung verzichten, wenn man, um alles Befremdende
zu beseitigen, anninmit, er selbst habe seine Lehre als Täuschung
erkannt oder doch an ihrer Möglichkeit gezweifelt, bei vollständiger
Beherrschung der Einzelheiten aus ihr die ganze Mannigfaltigkeit
der wirklichen Erscheinungen abzuleiten. Galilei hatte vor allen
Dingen eine völlig klare Vorstellung von der fortschreitenden Wissen-
schaft; er wußte, daß seine Arbeit nur ein Anfang, ein Versuch zur
Erforschung der Wahrheit sei, daß die Vollendung den kommenden
Generationen zufalle; wer so denkt, kann darum nicht minder ver-
meinen, im Irrtum die volle, fertige Wahrheit zu besitzen, aber nie
wü'd er fähig sein, der künftigen Forschung als Grundlage und
Ausgangspunkt aller weiteren Erkenntnis darzubieten, was er als
unzureichend selbst erkannt hat, was er selbst vor dem ersten scharfen
Forscherblick in Trug zerinnen sieht.
Nichts rechtfertigt den Verdacht, daß Galilei, als er die Dialoge
schrieb, über den Grundfehler seiner Fluttheorie nicht mehr im Un-
klaren gewesen wäre ; mit derselben Siegesgewißheit, ^^ie in der Skizze
von 1616, setzt er in den Dialogen auseinander, ^ne aus der Zu-
sammensetzung der gleichförmigen täglichen und der gleichförmigen
jährlichen Bewegimg als L^rsache der Fluten die ungleichförmige
Bewegung der einzelnen Punkte der Erde hervorgeht. Salviati
spricht seine Ver^^'lmderung darüber aus, daß einzelne Forscher,
die einsichtsvoll genug waren, die Bewegung der Erde zu Hilfe zu
nehmen, in ihrer Erklärung völlig gescheitert seien, weil sie über-
sahen, daß für ihren Zweck eine gleichförmige Bewegung, wie die
tägliche der Erde, unbrauchbar sei, daß es vor allem darauf ankomme,
eine Ungleichförmigkeit nachzuweisen.
So lange kein Zweifel die Grundlage dieser Theorie berührte,
mußte sie ihm als notwendige Wahrheit erscheinen. Er hatte bewiesen,
daß eine Flut entstehen müsse, wenn die Erde sich bewegt; daß nun
in Wirklichkeit die Meere fluten und ebben, schien ihm himeichend
zu bestätigen, daß er richtig gefolgert; wenn er dann in der wirklichen
Welt statt der Fluterscheinungen, die er forderte, andere fand, die
— 128 —
in hervorragenden Einzelheiten seiner Lehre nicht entsprachen —
so waren diese Einzelheiten doch nimmermehr ansreichend, die
Richtigkeit der ersten Folgerung zweifelhaft zu machen, vielmehr
war — wo so Großes bereits gewonnen schien — die Zuversicht
gerechtfertigt, daß die Widersprüche sich lösen, die Tatsachen der
Theorie sich fügen würden, wenn nur erst die Theorie in alle ihre
Konsequenzen verfolgt wäre, das tatsächliche Material zuverlässiger
und vollständiger vorläge.
Aber auf diesem Wege lag hart neben dem Zweifel an den Tat-
sachen der Überlieferung die Vernachlässigung der Tatsachen der
wirklichen Welt; die Selbsttäuschung, die dem einen wie dem andern
zugrunde lag, war vermutlich die Ursache, wenn er sich damit begnügt,
eine monatliche und eine jährliche Periode auch aus seiner Theorie
zu folgern, und kein Wort darüber verliert, daß diese Perioden denen
nicht entsprechen, von denen die Küstenbewohner reden. Je weniger
die bekannten Einzelheiten sich seiner Deutung fügten, um so mehr
verloren fiur Galilei die Einzelheiten der Erfahrung an GcAncht;
die Theorie, deren ursprüngHche Aufgabe die Deutung der Tatsachen
war, wurde ihm mehr und mehr eine Wahrheit, die bis zu einem
gewissen Grade von dem Zeugnis der Erfahrung unabhängig war.
Wenigstens überredete er sich, daß es für ihn genug getan sei, der
Welt nach so viel Verirrungen den einzigen richtigen Weg der Lösung
gezeigt zu haben; ausdiiicklich verzichtet er in den Dialogen auf die
Erklärung der einzelnen Erscheinungen. Er gefällt sich in dem Gegen-
satze, daß die andern Untersucher mit vielen Details eine unmögliche
Deutung verbinden, während er zunächst eine rationelle Deutung ge-
winnt und vorsichtig die Deutung des Einzelnen der Zukunft überläßt.
So kennzeichnet die ganze Abhandlung eine überraschende
Ai'mut an Erfahrungstatsachen; von den wenigen, die er erwähnt,
gehört die größere Zahl den Erscheinungen des IVIittelländischen
Meeres an. Wenn es noch einer weiteren Erklärung für die Ent-
stehung und dauernde Befestigung seines Irrtums bedürfte, würde
man sie vielleicht in dieser lokalen Beschi'änkung finden, an die
seine eigenen Beobachtungen gebunden sind. Selbst in Venedig, wo
die Fluten am bedeutendsten sind, erreichen sie nicht die Großartig-
keit wie auf dem Ozean.
Galileis Flutlehre ist eins der merkwürdigsten Beispiele einer
Erscheinung, die in der Geschichte der AVissenschaft zu allen Zeiten
— 129 —
sich wiederholt, vorzugsweise aber in den Perioden lebhafter wissen-
schaftlicher Entwicklung und in dem AVirken bahnbrechender Geister
eine Rolle spielt.
In solchen Perioden und bei solchen Männern ist das Verlangen,
Licht zu schaffen, wo bis dahin Dunkelheit war, ein gesteigertes,
leicht genug täuscht es über die Möglichkeit. Der neue Gedanke,
der Licht zu geben scheint, verführt dann leicht genug, geleistet zu
sehen, was zu leisten ist; eine Lösung, die im einzelnen genügt, muß
dann die allgemeine Lösung sein; alle Lehren über die Ausschließung
einer Deutung, die nicht überall genügt, alle Warnungen, sich auf
ein übersehbares Gebiet zu beschränken, die Erfahrung zur Richterin
zu nehmen, sind verloren, wenn über die Phantasie die Aussicht
Macht gewinnt, eine neue geistige Welt zu erobern.
Der ängstliche Forscher im kleinen, der feinste Beobachter legt
dann seine Vorsicht ab, tut der Natur Zwang an, ist unwahr gegen
sich selbst und andere, ohne es zu wissen oder zu gestehen, will nicht
sehen und hören, was ihn widerlegt.
Je mehr Raum dann durch scheinbare oder wirkliche Erfolge
die falsche Vorstellung gewinnt, um so fester wurzelt sie; die Dauer
ist allein eine Ursache weiterer Befestigung; wenn dann die wider-
sprechenden Tatsachen zudringlicher sich geltend machen, dann
kommt es dazu, daß man sie leugnet, nicht sehen, lesen, hören will,
und Forscher niederen Ranges können dann dem großen Manne mit
Recht vorwerfen, daß er den Tatsachen Zwang antut, seine Worte
gewinnen den Anschein, als ob er täuschen wolle, da er doch nur in
Selbsttäuschung befangen ist.^
Der Lehre von Ebbe und Flut fügt Galilei auch hier ^vie in der
Skizze von 1616^ eine Erörterung über die Passatwinde hinzu; die
Erklärung ist wieder fast wörtlich dem früheren Entwurf entnommen,
so gelten ihm auch hier die Passatwinde als reine Ost\\ände und
^ Alberi irrt, wenn er in der Abhandlung gegen Arago meint, daß die
Briefe von 1638 Rückkehr zum Monde bedeuten, im Gegenteil bestätigen
diese Briefe, daß er seiner Theorie treu bleibt; er spricht nur von Neu- und
Vollmond und scheint hier allerdings nach einer Bestätigung seiner Theorie
durch die Erfahrung zu verlangen, die nach bekannten Tatsachen nicht
stattfindet. Keinesfalls denkt er an Wirkung des Mondes in Keplerschem
Sinne.
2 s. Bd. I, Kap. 18, S. 604 ff.
Wohlwill Galilei. Bd. II. 9
— 130 -
darum als unmittelbare Wirkung der Erdbewegung. Die Luft über
den großen Meeren nimmt an dieser Bewegung nicht oder doch nur
in unvollkommener Weise Teil, und ihre Ruhe wird von den Beob-
achtern und Seefahrern der Erde als Wind empfunden.
Die Tatsachen, auf die Galilei bei seiner Erläuterung Bezug
nimmt, beschränken sich auf das spärliche Material der früheren
Sckrift. Auch hier war seine Vorstellung abgeschlossen. Von anderer
Seite gab es kaum einen Versuch der Deutung. Die Schulgelehrten
freilich, die durch nichts in Verlegenheit zu setzen waren, ließen über
den großen Meeren den allgemeinen 24 stündigen Wirbel des Primum
mobile zur Erde hinabreichen und die Luft mit fortreißen. Dem-
gegenüber schien Galileis Lehre eine so klare mechanische Anschauung
zu gewähren, wie die tägUche Bewegung, die Copernicus lehrte, im
Vergleich mit dem 24 stündigen ITmschwung des Sternenhimmels.
Aber Galilei überhörte auch hier, in der Sicherheit des Erfolgs be-
fangen, den Widerspruch der Erfahrung. Er selbst hatte von
Buonamici nähere Auskunft über diese Gegenstände erbeten, er
hatte hinzugefügt: Erfahrungen sind die Grundlage der Wissenschaft,
und Buonamici^ berichtet ihm, daß in den Tropen die Seefahrer
zuweilen unter der Linie von völliger Windstille überrascht werden,
so daß die Schiffe unbeweglich fest liegen; dies sei im Jahre 1625
Don Federigo von Toledo begegnet, als er mit der königlichen Armada
nach Bahia (de Todos Santos) in Brasilien gesegelt sei, um die Hol-
länder, die es in Besitz genommen hatten, zu vertreiben; er habe
südwärts fahren wollen, um die Höhe des Cap Augustin zu erreichen,
sei dabei aber mehrere Tage wie festgepflanzt auf der Linie liegen
geblieben. Durch eine ähnliche Veranlassung sei einmal eine portu-
giesische Flotte zugrunde gegangen, da die Windstillen (calme) so
lange dauerten, daß die Lebensmittel ausgingen und die Mannschaft
Hungers starb. Man sei deshalb jetzt, um die Gefahr zu vermeiden,
auf die Erfindung von Fahrzeugen bedacht, die, wenngleich hoch-
bordig, auch ohne Hilfe des Windes sich bewegen lassen. Buonamici
fügt verständig hinzu, daß diese Tatsachen die Erklärung durch das
Primum mobile als nichtig erscheinen lassen, denn in diesem habe
man eine beständige und unveränderiiche Ursache, die demnach, was
sie gestern bewkt habe, heute und morgen und immer bewirken raüsse^
1 Ed. Naz. XIV p. 73—76.
— 131 —
Salviati benutzt genau dasselbe Arj^ument, um den Simplicio
zu widerlegen, der die Fluterscheinungen durch das Primum mobile
erklären möchte; auf diese Weise, meint er, lieJ3e sich nur eine
beständig westwärts gerichtete Bewegung der Flut begreifen; eine
solche müßte dann beispielsweise ein Meer wie das Mittelländische
längst trocken gelegt haben.
Daß aber die Erscheinung der Windstillen unter den Tropen
in gleicher Weise die neue Deutung der Passat^^inde unmöglich
macht, sieht oder sagt Galilei nicht, die merkwürdige Tatsache, von
der ihm Buonamici nach dem spanischen Schriftsteller Cespedes und
den Erzählungen erfahrener Männer berichtet, findet in den Dialogen
keine Erwähnung.
Dagegen führt auch dieses Mal Sagredo ^ die Erfahrung der vene-
tianischen Kaufleute an, nach der die Seefahrt im ^Mittelländischen
Meer durchschnittlich von kürzerer Dauer sei, wenn sie westwärts,
als wenn sie ostwärts gerichtet sei, und Salviati ^ sieht diese Tatsache
als „eine nicht geringe Bestätigung der Erdbewegung" an; allerdings,
meint er, könne man sagen, die ganze Wassermasse des Mittehneers
habe eine westliche Strömung, um ins Weltmeer zu entladen, was
ihm die großen Ströme zuführen; er glaubt jedoch nicht, daß dieser
Zufluß eine Strömung erzeugen könnte, die für sich allein genügte,
einen Geschwindigkeitsunterschied von 25% bei Hin- und Rückfahrt
zu erklären; auch sieht man in der Meerenge von Messina das Wasser
ebensowohl ost- als westwärts fluten.
So bieten sich von allen Seiten her dem aufmerksamen Forscher
Erscheinungen, die auf die Bewegung der Erde zum mindesten hin-
deuten; Galilei unterscheidet sie wohl von den entscheidenden Be-
weisen ; als solche hebt Sagredo ^ schließlich nur die drei hervor : die
Rückgänge und Stillstände der Planeten in Verbindung mit der
Änderung ihres Abstands von der Erde, die scheinbare Veränderung
in der Bewegung der Sonnenflecken und die Flut und Ebbe des
Meeres. „Vielleicht", fügt Salviati hinzu*, „wird sich den dreien in
der Kürze der vierte anschließen, wenn es nämlich bei einer genaueren
Beobachtung der Fixsterne geläuge, jene überaus geringe Änderung
1 Ed. Naz. VII p. 466.
2 Ed. Naz. VII p. 466 f.
3 Ed. Xaz. VII p. 487.
* Ed. Xaz. VII p. 487.
— 132 —
der Stellungen zu erkennen, die Copernicus für unwahrnehmbar
gehalten hat.^
„Ganz kürzlich", fährt Salviati fort, „ist dann eine Entdeckung
bekannt geworden, die vielleicht als fünfter Beweis für die Bewegung
der Erde gelten kann. Es macht nämlich der Herr Caesar aus dem
edlen Haus der Marsili in einer gelehrten Schrift^ die Mitteilung,
daß er eine beständige, weimgleich überaus langsame Veränderung
der Meridianlinie beobachtet hat." GaUlei benutzt die Gelegenheit,
um den Freund als wahren Beschützer der Wissenschaft zu ehren,
von dem sich nur Vortreffliches erwarten lasse.
1 Vergl. oben Galileis Vorstellungen über die Entfernung und die Art
dieser Beobachtungen.
» Ed. Naz, XIV p. 225—226.
Fünftes Kapitel.
Zum viertenmal in ßom.
Das Buch war geschrieben, von neuem durchgesehen und ab-
geschrieben, nun konnte Gahlei die Stunde nicht erwarten, es nach
Rom zu bringen. In Rom mußte sich entscheiden, ob es leben und
wirken sollte, nur in Rom konnte es gedruckt werden. Dieses Mal
hatte er nicht, wie vor sechs Jahren, den eigentlichen Zweck seiner
Reise verschwiegen; nicht nur die gleichgesinnten Freunde, auch der
Großherzog und der Hof wußten von dem Buche und sahen mit
S])annung seiner Aufnahme bei den römischen Autoritäten entgegen.
So durfte auch Galileis Auftreten in Rom der sichtbare Schutz seines
Fürsten nicht fehlen. Eine großherzogliche Sänfte erwartete ihn
vor dem Kloster, in dem er sich von seinen Töchtern verabschiedete.
Wie in den Jahren 1611 und 1615 wurde ihm der Palast des großherzog-
lichen Gesandten zur Wohnung angewiesen. Am 3, Mai 1630 traf er
in Trinitä de Monti ein. Als Gesandter war hier seit 1621 jenem
übelwollenden Guicciardini Francesco Niccolini gefolgt. Anders als
in den schweren Tagen von 1616 gestaltete sich in den Wochen seines
Aufenthalts das Verhältnis des berühmten Gastes zu seinen Wirten
in der Villa Medici. Man empfindet den Zauber seiner Persönlichkeit
in den Worten, mit denen Xiccolini dem Florentiner Minister ant-
wortet, als dieser gemeint, daß Galilei ihm unerw^ünscht gekommen
sei: „Wir alle in diesem Hause", schreibt er, „haben größte Freude
an seiner geistreichen und überaus liebenswwdigen Unterhaltung,
und sehr merkwürdig wird es uns vorkommen, wTun er uns wieder
verläßt, um nach Florenz zurückzukehren." Zu wahren Freunden
wurden Galilei in diesen Wochen der Gesandte und seine feinsinnige
Gattin. Es bedurfte kaum noch der Weisungen aus Florenz, um
— 134 —
beide zu eifrigem Bemühen um die Förderung der Angelegenheit,
die ihn nach Rom geführt hatte, anzuregen.
Xur dürftige Mitteihmgen sind uns über den Verlauf der
Verhandlungen erhalten, durch die im Mai und Juni 1630 eine
vorläufige Erledigung erzielt wurde. Von den Briefen, die Galilei
in jenen Tagen in die Heimat gesandt hat, ist keiner erhalten, von
den übrigen nur zwei Ivurze Zuschriften an Michelangelo Buonarotti
in Rom, von denen nur der eine zwar nicht das Buch „über Ebbe
und Flut", aber Verleumdungen betrifft, durch die man den Papst
und den Kardinal-Nepoten zuungunsten des Verfassers zu beein-
flussen versucht hatte. Es hatten nämlich in jenen Tagen eifrige
Astrologen in den Sternen gelesen, daß der Tod des regierenden Papstes
noch im Jahre 1630 zu erwarten sei; von anderer Seite war die Deutung
bestritten; zum ^Mißbehagen des Papstes und seiner Angehörigen
bildete bald die Prophezeiung und der Widerspruch, zu dem sie Ver-
anlassung gab, den Gegenstand der öffentlichen Gespräche; je nach-
dem man der spanischen oder der französischen Partei am römischen
Hofe angehörte, knüpfte man hier Hoffnungen, dort Befürchtungen
an die Berechnungen der Astrologen. Zu dem namhaftesten unter
diesen, dem Abt Orazio Morandi^, stand Galilei in persönlichen
Beziehungen. War es die Kunde von diesem Verhältnis, die zu Ver-
dächtigungen Anlaß gab, war es Galileis astronomischer Beruf, der
immer auf der Lauer liegenden Feinden genügte, gewiß ist, daß sie
das ihre taten, ihn als beteiligt an den bedenklichen Prophezeiungen
erscheinen zu lassen. So konnte am 18. Mai Antonio Badelli nach
Modena berichten ^r der berühmte Mathematiker und Astrolog Galilei
sei in Rom eingetroffen, er beabsichtige, ein Buch drucken zu lassen,
in dem er viele von den Jesuiten vertretene Meinungen bekämpft.
Auch habe er sich vernehmen lassen, daß Frau Anna, die Gattin
des Herrn Thadeo Barberini einen Knaben gebären werde, daß zu
Ende Juni in Italien der Friede hergestellt sein und bald darauf der
Herr Thadeo Barberini und der Papst sterben werden.
Das also verbreitete man in jenen Tagen in Rom. Die Intrigue,
die aus den Worten hervorleuchtet, erwies sich als unwirksam. Als
Michelangelo Buonarotti die Gelegenheit einer Unterredung mit dem
1 Ed. Naz. XIV p. 107, 134, 135.
2 Ed. Naz. XIV p. 103, XV p. 115. 16A. 168, 173.
— 135 —
Kardinal Francesco Barberini walu-nahni, um von den verleumderisch
verbreiteten Erzählungen zu sprechen, ließ ihn der Kardinal nicht
ausreden: es sei jemand bei ihm gewesen, sagte er, der in solcher
verdächtigenden Weise von Galilei gesprochen habe; er aber habe
ihm das Wort abgeschnitten und ihm gesagt, Galilei habe keinen
größeren Freund als ihn und den Papst selbst, er wisse, wer er sei,
und wisse, daß er solche Dinge nicht im Kopfe habe, worauf dann
der Denunziant beschämt verstummt sei. Als Buonarotti sich dann
über die Nichtswürdigkeit solcher elender Zuträger äußerte, ließ der
Kardinal keinen Zweifel, daß er die Intrigue vollständig durchschaue.
Nicht für Galilei, sagt er, sei ein solches Vorgehen beleidigend, sondern
für ihn selbst, wenn man boshaften Sinnes darauf rechnete, daß er
den Schluß ziehen würde: da ist ein großer Mathematiker nach Rom
gekommen, folglich ist's ein großer Astrolog, und so auf ihn die
Konstruktion seiner Fabel basierte. Er wolle den Böswilligen zeigen,
fügte er hinzu, daß er solchen Dingen keinen Glauben schenke, er
habe gerade deshalb die Absicht gehabt, Galilei zum Mittagessen
einzuladen, was verschiedener Umstände halber noch nicht ge-
schehen sei.
Mit Befriedigung las Galilei, was ihm der Freund über seine
Unterredung berichtete. „Euer Brief", erwiderte er, „gibt mii* die
Gewißheit, daß mein Glück nicht aus der Art schlägt, denn es ist
immer so gewesen, daß mir Nutzen und Ehre aus den Verleumdungen
böswilliger Gegner hervorging."
In diesen siegesgewissen Worten klingt zugleich die Genug-
tuung über die Aussichten auf einen vollen Erfolg, den ihm die Ver-
handlungen über die Veröffentlichung seines Buches eröffnet hatten.
Über die Natur dieser entscheidenden Verhandlungen sind viel-
fach irrtümliche und unklare Darstellungen verbreitet. Verbürgt ist
durch unzweideutige Äußerungen in Galileis Korrespondenz, daß er
den größten Wert darauf gelegt hat, sich im voraus einer günstigen
Stimmung des Mannes zu versichern, dem kraft seines Amtes die
Beurteilung der „Dialoge" zufallen mußte, und daß in gleicher Rich-
tung die Freunde in Rom, wie die Gönner in Florenz ihren Einfluß
zu üben bemüht gewesen sind. Trotzdem diese Bemühungen im
ferneren Verlauf der Verhandlungen über den Druck des Buches
eine große Rolle spielen und auch in des Zensors eigenem späteren
Bericht Erwähnung finden, darf man doch nicht glauben, daß es auf
— 136 —
den guten "Willen zu wohlwollender Handhabung des Richteramts
in Galileis Fall in erster Linie angekommen wäre. AVcder Galilei noch
seine Freunde sind darüber im Zweifel gewesen, daß der Beurteilung
des Zensors die Entscheidung eines Höheren darüber vorhergehen
mußte, ob eine Verteitigung der copernicanischen Lehi-e in der
eigentümlichen Fassung, wie Galilei sie zu geben wagte, gestattet
sein sollte. Ohne Zw^eifel lag in seinem Bemühen, außer Frage zu
stellen, daß die als falsch gekennzeichnete Lehre als ,,wahr in der
Philosophie" betrachtet werden dürfe, ein Versuch, die Grundlagen
der Index-Kongregation zu erschüttern, der dem Ungehorsam gegen
dieses Dekret außerordenthch nahe kam. A'ur der Papst in Person
komite eine solche — wenn auch verhüllte — Abweichung von den
Entscheidungen seines Vorgängers für zulässig erklären, nur er die
Bedingungen bezeichnen, an die in solchem Falle die Zustimmung
des Zensors gebunden sein sollte.
Dementsprechend sagt auch Riccardis später erstatteter Bericht,
daß er, als Galilei mit seinem Buch nach Rom gekommen, um das-
selbe re\ädieren zu lassen, zunächst dem Papst davon Mitteilung
gemacht und dessen Befehle empfangen habe.^ Eine Weisung des
Papstes ist also für seine Handhabung der Zensur maßgebend gew^esen.
Der Weisung aber w^ar die Unterredung Urbans mit Galilei voraus-
gegangen, in der dieser zum erstenmal Gelegenheit hatte, den Papst
über den Plan seines Buches aufzuklären.
Den Hauptpunkt dieses Planes bildete der Gedanke, der an der
Spitze des Briefs an Monsignor Ingoli steht, die Einführung der
Beweise für die copernicanische Lehre nicht als solcher, sondern als
Inbegriff dessen, was man in Rom bei der Verdammung dieser Lehre
über ihren wissenschaftlichen Wert gewußt habe, also die Verwertung
dieser Beweise zur Verteidigung der Kongregationen gegen die Be-
schuldigung, verurteilt zu haben, was sie nicht kannten.
Mußte Galilei nach den Erfahrungen des Jahres 1624 darauf
verzichten, als guter Katholik in unverhüllter Darstellung von
Copernicus zu reden, wie er dachte, so durfte er doch hoffen, einen
''■ An der betreffenden Stelle wird weder der Papst noch der Maestro
di Sacro Palazzo genannt. Es heißt nur: Communicato il negotio et havuto
ordine (vergl. v. Gebier, Die Acten des Galilei' sehen Processes, Stuttgart 1877,
S. 54). Es kann aber ein Zweifel darüber, wer hier einen Befehl erteilt, ganz,
ebensowenig Raum finden, wie über die Person des Mitteilenden,
— 137 —
Papst, der gegen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit nicht gleich-
gültig war, für eine Vermittlung zu gewinnen, die das Ansehen der
kirchlichen Entscheidungen unangetastet ließ. ])aß Urban in der
langen ersten Audienz, die er Galilei am 18. Mai 1630 gewährte,
seinem Plan im wesentlichen, wenn auch unter Bedingungen und
Vorbehalten, seine Zustimmung erteilt hat, lassen lebhafte Äußerungen
der Befriedigung, zu denen Galileis Bericht den Florentiner Freunden
Veranlassung gab, als höchst wahrscheinlich ansehen; in unzwei-
deutigen Worten zeugt für ein solches Ergebnis ein amtliches Schreiben
des Palastmeisters Riccardi, das in Abschrift unter den Akten des
Galileischen Prozesses erhalten ist und in gleichlautendem Original
im Archiv der Florentiner Inquisition bewahrt wird. ..Es ist der
Wille unseres Herrn", so schreibt am 21. Mai 1631 P. Riccardi an den
Inquisitor von Florenz^, „daß als Titel und Gegenstand (des Buches)
nicht angegeben werde: ,,von Flut und Ebbe", sondern durchaus
„von der mathematischen Betrachtung der copernicanischen An-
nahme über die Bewegung der Erde", ausgeführt in der Absicht zu
beweisen, daß, wenn nicht Rücksicht genommen wird auf die Offen-
barung Gottes und die heilige Lehre — die Erscheinungen bei dieser
Annahme erklärt werden könnten, unter Widerlegung aller entgegen-
stehenden Argumente, die aus der Erfahrung und der peripatetischen
Philosophie sich vorbringen ließen, so daß niemals die absolute
Wahrheit dieser Meinung zugestanden wd, sondern nur die hypo-
thetische und ohne Rücksicht auf die Schriften, Es soll auch darauf
hingewiesen werden, daß der alleinige Zweck dieser Arbeit sei, zu
beweisen, daß man alle Gründe wisse, die für diese Ansicht sich an-
führen lassen, und daß nicht, weil man sie nicht weiß, in Rom dieses
Urteil erlassen worden ist."
Eben diese Absicht des Buches sollte in der Vorrede zur Sprache
gebracht, auf sie auch in der Schlußbetrachtung zurückgekommen
werden, in der letzteren hätte überdies Galilei die ihm vom Papst
namhaft gemachten Gründe von der göttlichen Allmacht hinzu-
zufügen, „die den Verstand beruhigen müssen, wenn man auch sich
den pythagoreischen Argumenten nicht entziehen könnte".
Wie immer im einzelnen Urbans Weisungen gelautet haben
mögen, ihr Inhalt ist durch diese Instruktion, in der Riccardi dem
' Ed. Naz. XIX p. .327.
— 138 —
Florentiner Inquisitor zu \^issen gibt, was ihm selbst zur Pflicht
gemacht war, in ausreichender Weise angegeben. Vor allem war
Galilei seinem Vorschlage gemäß gestattet, zu beweisen, daß man
in Rom „alle Gründe füi* die copernicanische Lehre kenne."
Alle Gründe — das konnte für ihn nichts anderes bedeuten,
als alles, was er selbst als Beweis für die Überlegenheit und Wahr-
heit der copernicanischen Lehre erkannt hatte, mit Einschluß auch
des eigentümlichen Beweises, der Urban ein Dorn im Auge war, der
Folgerung, daß die Erde sich bewegen muß, weil nur durch die Be-
wegung die Fluterscheinungen begreiflich werden, denn daß auch
dieser unter den Gründen, die man in Rom gekannt, genannt und
ausgeführt werden sollte, darf der Anordnung über die Einfügung
des päpstlichen Arguments entnommen werden. Die Forderung,
daß im Schlußwort Urbans Widerlegung zur gebührenden Geltung
gebracht werde, hatte zur Voraussetzung, daß im vorhergehenden
der Beweis, gegen den die Widerlegung sich richtete, in ausreichender
Weise zu Worte gekommen war.
Dem Zugeständnis aber, das dem Denker und Forscher weitesten
Spielraum zu gewähren schien, standen zwei Beorderungen gegenüber,
die ihm Schranken auferlegten. Von geringerer Bedeutung war, daß
durch die Anordnung über den Titel des Buches, die der Abneigung
des Papstes gegen den Flutbeweis scharfen Ausdruck gab, Galileis
Absicht durchkreuzt wurde. Was im Titel und in der Einführung der
Dialoge zurücktreten mußte, blieb darum nicht weniger im Buche
bedeutsam und nach Galileis Vorstellung uuAviderstehlich- über-
zeugend.
Ernsteres forderte die Vorschrift, die den Vortrag der coperni-
canischen Lehre in den Grenzen der mathematischen Hypothese
gehalten, ihre Verwendung zur Erklärung der Erscheinungen ge-
stattet, aber jede Verteidigung ihrer absoluten Wahrheit aus-
geschlossen A\'issen wollte. Das war die Forderung der Dela-ete von
1616 und 1620, die Beschränkung, in der auch Bellarmin die Be-
nutzung der copernicanischen Lehre für erlaubt gehalten hatte. Es
war derselbe Anspruch, in dem Galilei schon damals eine unerträg-
liche Belastung des Gewissens für den wissenschaftlich Denkenden
gesehen, und dem er dennoch, nachdem die Entscheidung gefallen
war, in nie ganz unterdi'ücktem Widerstreben sich unterworfen hatte.
Also wäre kein L^nt erschied für den gewissenhaft nach Wahrheit
— 139 —
Strebenden gewesen zwischen dem wissenschaftsfeindlichen Regiment
eines Paul V. und dem des mit Jubel begrüßten Beschützers der
Wissenschaft, des Mannes, der Galileis Entdeckungen besungen, an
jedem seiner Werke sich erfreut, und der gesagt hatte, daß mit seinem
AVillen jene Dekrete nicht erlassen worden wären? Es schien so,
aber doch nur nach dem Klang der Worte, denn der Sinn der Forderung
mußte ein anderer sein, nachdem der Papst seine Zustimmung dazu
gegeben hatte, daß Galileis Buch in voller Ausführung zur Sprache
bringe, was man zugunsten der copernicanischen Lehre zu sagen
\dsse. Er sollte beweisen dürfen, daß — wenn nicht die Worte der
Schrift und die übliche Weise, sie auszulegen — im Wege ständen,
nichts Stichhaltiges gegen die Annahme einer Bewegung der Erde
spreche, sollte also alle Schwierigkeiten, die sie dem Verständnis
der Zeitgenossen boten, in klarer Darstellung und mit Hilfe all seiner
neuen Erkenntnis aus dem Wege räumen dürfen, sollte in jeder seiner
vergleichenden Ausführungen die ungeheure Überlegenheit der neuen
Weltanschauung hervorleuchten lassen und von der Planetennatur
der Erde und von der Erdnatur der Planeten reden dürfen, wie er
dachte und wie es sein Xuncius Sidereus dargestellt hatte. Dem-
gegenüber würde die Forderung der Beschränkung auf hypothetische
Darstellung nur dann Unerträgliches bedeutet haben, wenn sie in
Wahi'heit auch jetzt noch im Sinne Pauls V. und Bellarmins erhoben
wäre, wenn sie meiir enthalten hätte, als die Anweisung, in Form
und Ausdrucksweise zu vermeiden, was den Delvi'eten widersprach:
in den Ausführungen das abschließende Wort zu unterdrücken, durch
das die Auflehnung gegen die kirchliche Entscheidung faßbar wurde.
In der hier angedeuteten Weise hat Galilei die Pflicht der Selbst-
beschränkung aufgefaßt und geglaubt, so der zwiefachen Aufgabe
genügen zu können, der Anerkennung der copernicanischen Lehre
durch die Kirche die AVege zu bahnen, ohne den noch in Kraft stehen-
den kirchlichen Entscheidungen zu widersprechen. Dürfen wii- an-
nehmen, daß in dem Buche, das er im Mai 1630 dem römischen
Zensor übergab, die Anordnung der Zutaten und Einschaltungen,
durch die er den äußeren Bedingungen der Veröffentlichung Rechnung
tnig, im wesentlichen eben die gewesen ist, die wir in den ,, Dialogen
über die beiden Hauptweltsysteme" kennen, so war es die Vorrede, in
der er seiner unbedingten Futerwerfung unter die Entscheidung der
Kongregation Ausdruck gab, in bestimmten Worten anerkannte, daß
— 140 —
dieselbe durch die Rücksicht auf die Heihge Schrift bedingt und
gerechtfertigt gewesen sei, und als Zweck des Buches hinstellt, zu
zeigen, daß man in Eom im Jahre 1G16 gewußt habe, was zugunsten
der copernicanischen Lehre spreche.
Dem Zensor, dem von Urban der Maßstab der Beurteilung
gegeben war, blieb es überlassen, zu ermessen, ob mit solcher Ein-
führung und der vorsichtigen Zurückhaltung in der Verwertung der
wissenschaftlichen Begründung den gestellten Forderungen in Wahr-
heit entsprochen sei; ihm lag es ob, sofern ihm in den Darlegungen
die Hinneigung zum Glauben an die absolute Wahrheit des Erwiesenen
zu st^rk hervorzutreten schien, dem Verfasser hypothetische Ab-
schwächung aufzuerlegen, für den Fall, daß ihm auf diesem Wege
nicht erreichbar schien, was das Interesse der Kirche forderte, dem
Buche die Erlaubnis zum Druck zu versagen und in diesem Sinne
dem Papste Bericht zu erstatten.
Sich in letzterer Richtung zu entscheiden, hätte ohne Zweifel
demjenigen als die nächstliegende Lösung seiner Aufgabe erscheinen
müssen, der bei genügender Befähigung, Galilei zu folgen und die
Macht seiner Beweisführung zu empfinden, begriffen hätte, daß mit
allen Beschränkungen der Form das Buch eine Verteidigung der
copernicanischen Lehre bleiben mußte, und der dieser Erkenntnis
gegenüber eine andere Rücksicht als die auf strenge Aufrechterhaltung
des Ansehens der kirchlichen Dekrete nicht gekannt hätte. Nun
hatte aber kein geringerer als der Papst jeden Zweifel darüber, daß
mit dieser Rücksicht die klare Darlegung der wissenschaftlichen
Beweise vereinbar sei und sein müsse, durch seine Weisungen aus-
geschlossen. Schon durch die Willensäußerung des Papstes also war
der Meister vom heiligen Palast darauf angewiesen, seine Forderungen
in derselben Richtung zu halten, in der Galilei selbst sich die
Schranken gezogen hatte; es ist außer Frage, daß er auch in dieser
Richtung gewaltet hat. Als naher Freund der Freunde des Ver-
fassers, unter dem starken Einfluß seiner Gönner und nicht zuletzt
als aufrichtiger Verehrer Gahleis hat Mccolö Riecardi sich der Be-
urteilung der ..Dialoge über Ebbe und Flut" unterzogen. Er hatte,
so berichtet er später, alsbald erkannt, daß Galileis Buch der Forde-
rung strenger hypothetischer Beschränkung nicht entspreche, daß es
vielmehr die Beweise für und wider den Copernicus vorbringe, ohne
eine Entscheidung zu treffen. Nichts deutet an, daß er versucht
— 141 —
oder Galilei zu dem Versuch veranlaßt habe, eine Umgestaltung^
des Buches oder einzelner Teile vorzunehmen, durch die wenigstens
im sprachüchen Ausdruck die Absicht, sich hypothetisch zu be-
schränken, besser erkennbar geworden wäre.
Die eigentliche Revision des Buches wurde von liiccardi seinem
Ordensgenossen und Gehilfen, dem P. Rafaello Visconti übertragen,
der als Mathematiker für seine Aufgabe die Kenntnisse mitbrachte,
die dem P. Maestro fehlten. Es wurde nicht versäumt, auch ihn
mit den Mitteln von erprobter Wiiksamkeit zu beeinflussen. Auf
GaUleis Ersuchen richtete man von Florenz aus an den P. Visconti
die Aufforderung, sich die leichte und schnelle Erledigung der Prüfung
angelegen sein zu lassen; er werde dadurch, durfte der Schreiber
hinzufügen, auch den Prinzen Johann Karl von Medici sich zum
Dank verpflichten, Galilei selbst fand bei einem Mittagessen, zu dem
ihn P. Orazio Morandi^ einlud, die erwünschte Gelegenheit, seinem
Zensor persönlich näher zu treten.^
Leicht und schnell entledigte sich P. Visconti seiner Aufgabe.
Kur Kleinigkeiten (coselle) waren es, die er unter Galileis Zustimmung
veränderte. Auch P. Riccardi bezeichnete dann noch geringfügige
Verbesserungen als wiinschenswert, erklärte sich im übrigen für
befriedigt und gab dann dem Buche sein Imprimatur. In münd-
licher Verabredung blieb dabei die Änderung des Titels und aller
derjenigen Teile des Buches vorbehalten, die mit der beseitigten
ursprünglichen Bezeichnung seines Hauptgegenstandes im Zusammen-
hang standen. Insofern war also die erteilte Erlaubnis nur eine
bedingte. Es klingt nicht unwahrscheinlich, wenn später Riccardi
behauptet, daß er sie zunächst nur gew^ährt habe, um Galilei Freiheit
für die Verhandlungen mit dem Drucker zu geben, dabei aber auf
eine zweite Revision gerechnet habe. Nicht ohne weiteres war voraus-
zusehen, inwieweit durch die Umgestaltung der „Dialoge über Ebbe
^ Die entgegenstehende Auffassung, die sich an den späteren Bericht
Riccardis knüpft, wird widerlegt durch den Text der ,, Dialoge über die beiden
Hauptweltsysteme", für den genau zutrifft, was Riccardi von der ihm zur
Zensxir übergebenen Handschrift sagt.
- Derselbe, der bald darauf in den Astrologenprozeß verwickelt wurde
und schon am 30. Oktober 1630 im Gefängnis der Inquisition sein Ende fand
(Ed. Naz. XIV p. 135).
3 Ed. Naz. XIV p. 107.
— 142 —
inul Flut" zu den ..Dialogen über die beiden Hauptweltsysteme"
für Eingriffe des Zensors neue Veranlassungen entstehen könnten,
Galilei sah zunächst keinen Grund, von dieser Seite her neue
Schwierigkeiten zu erwarten. Er wußte, daß auch nach der geforderten
Umgestaltung sein Buch geblieben sein würde, was es gewesen war,
als es im Prinzip die Billigung des Papstes, für die Einzelheiten der
Ausführung die Zustininuing beider Zensoren gefunden hatte. Er
rechnete darauf, in Rom drucken zu lassen, wo es unter den Augen
seiner nächsten Freunde, Ciampolis und des Fürsten Cesi geschehen
würde, deren Einfluß ihn des Schutzes gegen jede mögliche Wirkung
minder günstiger Stimnmngen versicherte. So verließ er Rom, wie
Kiccolini dem Minister berichtete, in voller Befriedigung und nach
vollständiger Erledigung seiner kitzlichen Angelegenheit. Der Papst,
fügte der Gesandte hinzu, hat ihn gern gesehen, hat ihm Freundlich-
keiten in reichstem Maße erwiesen, wie auch der Kardinal Barberini,
der ihn auch zum Mittagessen bei sich aufgenommen hat, und vom
ganzen Hofe ist er geschätzt und geehrt worden, wie es sich geziemte.^
In dem erhebenden Gedanken, daß das Werk seines Lebens
geborgen sei, daß nunmehr vielleicht schon in wenigen Monaten die
Welt durch ihn erfahren werde, was kein anderer so wußte, so zu
lehren wußte, wie er, war Galilei nach Florenz zurückgekehrt. Aber
schon nach wenigen AVochen sah er am Horizont seiner Hoffnungen
von neuem dunkle Wolken aufsteigen. Am 1. August starb in Rom
Fürst Cesi. Die Bedeutung seiner Persönlichkeit für die Bestrebungen,
denen er sein Leben hingegeben hatte, kann nicht besser veranschau-
licht werden, als durch die Tatsache, daß mit seinem Leben sein
W^erk zugrunde ging; nur ein Scheinleben führte nach seinem Tode
die Akademie der Lyncei. Was insbesondere Galilei an dem immer
hilfreichen, immer klug beratenden Freunde verlor, wd ihm nach-
empfinden, wer in den zwanzig Jahren ihres einträchtigen Zusammen-
wirkens in Cesis Worten und Taten das Wirken einer völlig selbst-
losen Freundesseele verfolgt. Unschätzbar war für Galilei die hin-
gebende Sorgfalt gewesen, mit der sich Cesi des Drucks und der
Herausgabe erst der Briefe über die Sonnenflecke, dann des Saggiatore
angenommen hatte; auf die gleiche treue Fülfe hatte er für seine
Dialoge gerechnet; wenn hier noch Hindernisse auf dem scheinbar
1 Ed. Naz. XIV p. 121.
«
— 143 —
geebneten Wege sich hätten erhel)en können — wer hätte besser
als Fürst Cesi in seiner milden, versöhnlichen Weise, mit seinem
weitreichenden persönlichen Einfluß der Hebung der Schwierigkeiten,,
dem Ausgleich der Gegensätze dienen können! So war es schon auf
die Nachricht von seiner schweren ?>krankung Galilei zweifelhaft
geworden, oi) nunmehr Rom noch der geeignete Ort für die Ver-
öffentlichung sei. So richtet er schon am 5. August an den Genuesen
Baliani die Frage, ob etwa in Genua die geeignete Druckerei sich
finden werde. ^
Endgültig auf den Druck in Jioiii zu verzichten, veranlaßten
ihn nicht lange darauf die Nachrichten aus Rom. „Aus vielen
beachtenswerten Gründen", schreibt ihm am 24. August Castelli^
..die ich zur Zeit dem Papier nicht anvertrauen will, abgesehen davon,
daß Fürst Cesi glorreichen Angedenkens aus diesem Leben geschieden
ist, möchte ich glauben, daß es wohlgetan wäre, wenn Ihr, sehr ver-
ehrter Herr, Euer Buch dort in Florenz drucken ließet, und zwar so
bald als möglich."
Was war geschehen, was so plötzlich dem sorgsamen Freunde
geraten erscheinen ließ, die vor kaum zwei Monaten getroffene Abrede
i-ückgängig zu machen und auch den Vorteil, den er sich von einer
\>röffentlichung in Florenz versprach, mit tunlichster Beschleunigung-
wahrzunehmen ? Kein späterer Bericht gibt darüber Aufschluß,
aber es bedarf nicht der Kenntnis bestimmter Vorgänge, um zu
begreifen, daß in Rom schon Avenige Wochen nach Galileis Abreise
eine minder günstige Stimmung für seine „Dialoge" Raum gewann.
Der eigenen Neigung wie dem Drängen der Freunde folgend, hatte
P. Riccardi sich über die Bedenken hinweggesetzt, zu denen das
Buch dem Konsultor der römischen Inquisition Veranlassung geben
konnte; aber diese Bedenken waren nur besch\Aichtigt, zurück-
gedrängt, nicht durch ausreichende Gründe als unberechtigt erwiesen;
es kann nicht überraschen, daß sie alsbald von neuem sich in den
Vordergrund der Überlegungen drängten, nachdem das Wort geschrieben
war, das für den Drucker genügte; daß sie um so mehr beunruhigend
auf das Gemüt des Palastmeisters wirkten, als nach Galileis Scheiden
das starke Gegengewicht seines persönlichen Einflusses weggefallen
1 Ed. Naz. XIV p. 127—130.
- Ed. Naz. XIV p. 135f.
— 144 —
war. So wenig nach Galileis Eindruck Riccardi imstande war, sich
in eine wissenschaftliche Untersuchung über die Stellung der Erde
im Universum zu vertiefen, so mußte er doch aus jedem Wort, das
er verstand, entnehmen, daß dies Buch, dem er das Imprimatur
erteilt hatte, ein Buch zugunsten der copernicanischen Lehre war,
ungewiß zum mindesten nmßte ihm erscheinen, ob er in der Deutung
der Willensäußerung des Papstes nicht über Urbans wahre Absichten
hinausgegangen war, und — wenn diese Absichten in jenen Tagen
einer größeren Freiheit der Wissenschaft günstig gewesen wären —
ob sie nicht dem Wandel unterliegen würden, wenn sich zeigen sollte,
daß das gedruckte Buch in der Verwertung der gewährten Freiheit
erheblich weiter gehe, als gestattet werden dürfe, und insbesondere
dann, wenn Gegner aller Ai't, Gegner der Lehre \ne der Person des
Verfassers und seiner Freunde mit geschickter Berechnung verständen,
den Papst darüber aufzuklären, daß durch ihn oder wider ihn gestattet
worden sei, was dem Interesse der Kirche zu'^iderlaufe. Mit der
Erwägung solcher Möglichkeit war aber alsbald auch die Vorstellung
von den ernsten Folgen hervorgerufen, zu denen früher oder später
Riccardis Willfährigkeit bei der Ausübung seines Amtes führen
konnte, von Gefahren für Galilei, aber vor allem auch für ihn selbst.
Den von ehrgeizigen Hoffnungen erfüllten Mann mußte die Vor-
stellung, daß er Urbans Gunst verscherzen könnte, aufs äußerste
beunruhigen.^ Überdies fehlte es jener Zeit in den Vorgängen des
römischen Lebens nicht an Eindrücken, die geeignet waren, die
Stimmung des P. Maestro in gleicher Richtung und in verstärktem
Maße zu beeinflussen. Es war insbesondere das Strafgericht, das
damals, fast unmittelbar nach Galileis Abreise, über die römischen
Astrologen hereinbrach, bei dem auch den Unbeteilgten zum Bewußt-
sein kommen konnte, was ein Zornesausbruch Urbans VIII. für die-
jenigen bedeutete, die seinem Selbstgefühl zu nahe traten oder in
der Ausführung seines Willens eigenen Meinungen und Wünschen
Raum gaben. Mit großer Wahrscheinlichkeit darf man annehmen,
daß zur selben Zeit von seiten der jesuitischen Gegner gegen Galilei
und sein Buch intriffuiert wurde. Vom Streit mit Horatio Grassi her
^ Vergl. den Brief des Kardinals Magalotti an Guiducci vom 7. August
1632, wo es heißt: E perche questo buon Padre si trova assai imbarcato e
ingolfato nelle speranze, temedi quäl si voglia ostacolo, non che di questo,
che e grandissimo (Ed. Naz. XIV p. 370).
I
— 145 —
war die Stimmung der Jesuiten gegen ihn gereizt geblieben. Aber
neben Grassi lebte damals in Rom Christoph Seh ein er. Auf dem
Titelblatte seiner Rosa ürsina liest man, daß der Druck dieses seines
Hauptwerks in Rom am 15. Juni 1630, also in einem Zeitpunkt
beendigt wurde, in dem Galilei nach der Genehmigung seiner Dialoge
noch in Rom verweilte. Wer im ersten Buche der Rosa Ursina den
Spuren einer erbittert feindseligen Gesinnung nachgegangen ist, von
der seit den Angriffen des Saggiatore Scheiners Gemüt erfüllt war,
wer überdies einen Blick in sein späteres, fast ausschließlich gegen
Galilei gerichtetes Buch geworfen hat, der weiß, was es bedeutet,
daß Scheiner blieb, als Galilei ging.i Wenn etwa der Maestro del
Sacro Palazzo über die wahre Bedeutung des Werkes, dem er sein
Imprimatur gegeben, nicht ki-aft eigenen Nachdenkens zur Klarheit
gekommen sein sollte — dieser Scheiner war der Mann, ihn aufzu-
klären, auch ehe er das Buch in Händen gehabt hatte, von dem
schon bei Galileis Ankunft gesagt worden war, daß es gegen die
Lehre der Jesuiten streite.
So gab es der Gründe genug, die dem P. Riccardi wünschenswert
machen komiten, bei einer zweiten Revision der Dialoge nachholen
zu dürfen, was bei der ersten versäumt war, nötigenfalls noch jetzt
den Druck zu verhindern. Aber ebenso gab es für den Freund, der
in Rom Gelegenheit hatte, die Menschen und ihre Gesinnungen zu
beobachten, die Einflüsse und Wirkungen wahrzunehmen, vom Spiel
der Intriguen Kenntnis zu erlangen, Gründe genug für die Überzeugung,
daß es unter allen Umständen geboten sei, den Druck in Rom zu
vermeiden, auch, was in Florenz geschehen könne, rasch geschehen
zu lassen, um zu verhindern, daß auch hier die Widerstände sich
bemerklich machten, die in Rom schon jetzt gewirkt hatten.
Nicht unwahrscheinlich ist, daß als entscheidende Veranlassung
für C'astellis Mahnung zu dessen eigenen Eindrücken noch eine Mit-
teilung über bestimmte Vorgänge von wohlunterrichteter Seite
gekommen ist. Darauf deutet die Bemerkung, die er seinem Rat
hinzufügt-: er habe mit dem P.Visconti darüber gesprochen, ob die
Drucklegung in Florenz zu Sch\\ierigkeiten Veranlassung geben
^ Scheiner war 1624 nach Rom gekommen und blieb bis zum April 1633.
Der Druck der Rosa Ursina fällt in die Jahre 1626—30.
• Ed. Naz. XIV p. 135.
Wohlwill, Galilei. II. 10
— 146 —
könnte, dieser habe erwidert: in keiner Weise, und habe dabei den
lebhaften Wunsch geäußert, daß das Werk ans Licht kommen möge,
Gahlei beeilt sich, den Kat des Freundes zu befolgen, der Floren-
tiner Inquisitor scheint kein Bedenken getragen zu haben, einem
Buche die Erlaubnis für Florenz zu erteilen, das schon mit dem
Imprimatur des Maestro del Sacro Palazzo versehen war; schon am
11. September setzte der Generalvikar von Florenz sein Imprimatur
Florentiae unter das des römischen Zensors, und seiner Zustinmiung
schlössen sich zunächst am selben Tage der Generalinquisitor
P. Clemens Egidii, dann im Kamen der staathchen Zensur am
12. September Niccolö delT Altella an.
Darüber aber, ob nunmehr in Florenz gedruckt werden könne, was
zu drucken erlaubt war, blieb der römischen Autorität die Entschei-
dung vorbehalten. Wii* begreifen, daß P. Kiccardi sich nicht beeilte,
eine Befugnis aus Händen zu geben, die ihm die Möghchkeit gewährte,
zu modifizieren und vielleicht zurückzunehmen, was er mit halbem
Herzen zugestanden hatte. Fast neun Monate vergingen, bis er sich
entschloß, dem Florentiner Inquisitor seine Bedingungen mitzuteilen.
Auf eine erste Mitteilung Galileis über seine veränderten Ab-
sichten er\Niderte Riccardi schroff abweisend, so bestimmt erklärt
er, auf der verabredeten \viederholten Revision und deshalb auf
Übersendung des Manuskripts oder einer Kopie bestehen zu müssen,
daß Castelli, der noch vor kurzem auf beschleunigte Veröffentlichung
in Florenz gedi'ungen, der Mitteilung nur hinzufügen konnte: er habe
den Eindruck, daß diese Übersendung sich durchaus nicht vermeiden
lassen werde. Galileis Widerstreben gegen eine nochmalige AusHeferung
seines Buches fand eine wu-ksame Unterstützung in der in jene Tage
fallenden unheimlichen Ausbreitung der Pest und den strengen
Sicherheitsmaßregeln, die an den Grenzen des Kirchenstaats gegen
die Einschleppung der Seuche getroffen wurden. Galilei konnte nach
Rom berichten: auf seine Frage, ob ein so umfangreiches Werk mit
Sicherheit versandt werden könne, sei ihm von den Beamten und
Ministern des Staats verneinende Antwort erteilt worden; kaum
einfache Briefe wären mit Sicherheit ihrer Bestimmung zuzufühi'en,
Schädigung oder Zerstörung durch Wasser oder Feuer müsse befüi'chtet
werden. Gahlei bat in seinem Schreiben an den P. Riccardi, es möge
gestattet werden, nur die Einleitung und den Schluß des Buches
nach Rom zu senden, an diesen möge man dann nach Belieben in
— 147 —
Sinn und Worten ändern, was man fiu- nötig halte. Es bedurfte der
Beredsamkeit und des freundsciiaftliehen Eifers einer Frau, der
Gattin des Gesandten ]*viccolini, einer nahen Verwandten des
P. Maestro, um diesen zu bewegen, mit Rücksicht auf die geschilderten
Hindernisse auf Galileis Vorschlag einzugehen, unter der Bedingung
jedoch, daß das Buch selbst in Florenz von einem Theologen des
J)ominikanerordens revidiert werde, der in der Prüfung von Büchern
die nötige Praxis habe. Riccardi schlug dafür den P. jS^ente vor^,
erklärte sich aber nach einiger Zeit, als Galilei statt des P. Nente
den P. Hyacinto Stefani zu beauftragen bat, auch mit der Wahl
dieses Ordensgenossen einverstanden, der als Konsultor der Floren-
tiner Inquisition die nötige Garantie zu bieten schien. ^
So konnte am 17. November die Gesandtin Galilei benachrich-
tigen, daß, sobald er seine Einleitung und seinen Schluß übersandt
hätte, Riccardi dem P. Stefani den Auftrag zur Revision erteilen
und eine kiu'ze Instruktion über die Ausführung zugehen lassen würde.
Einleitung und Schlußbetrachtung wurden alsbald überreicht, aber
wieder vergingen Monate, ohne daß von Rom aus der Auftrag für den
P. Stefani eingetroffen wäre, geschweige daß die beiden wesentlichen
Bestandteile zurückgesandt wurden.^ In Wahrheit war, wie später
1 Ed. Naz. XIV p. 157, 224.
' Ed. Naz. XIV p. 167 u. öfter.
^ Galileis Aussagen sowohl in seinem Brief vom 7. März 1631 an den
Minister Cioli wie im Verhör der Inquisition vom Aprü 1633 rufen die Vor-
stellung hervor, daß die vor dem 7. 3Iärz 1631 durch den P. Stefani ausgeführte
Revision infolge eines formellen Auftrags des P. Maestro stattgefunden habe.
Dem widerspricht jedoch nicht nur, daß die beiden Aktensammlungen kein
Schreiben dieses Inhalts umfassen, sondern mehr noch, daß Riccardis späteres
Schreiben vom 24. Mai 1631 ersichtlich das erste in der Angelegenheit der
Dialoge an den Florentiner Inquisitor gerichtete ist, sowie daß in der Antwort
auf diesen Brief der Inquisitor schreibt : er habe mit der Revision den P. Stefani
beauftragt, ohne irgendwie zu erwähnen, daß dies in Übereinstimmung mit
einer früher erhaltenen Weisung geschehe. In dem hierher gehörigen Brief-
wechsel wird P. Stefani nur ein einziges Mal von P. Riccardi genannt, und
zwar in dem Brief an Niccolini vom 25. Aprü 1631, wo er ausdrücklich sagt:
P. Stefani könne eme ihm genügende Approbation nicht geben, da er die
Ansichten des Papstes nicht kenne. Auch diese Äußerung beweist, daß Ric-
cardi bis dahin keine Weisung wegen einer Revision in Florenz dorthin gesandt
hatte, denn die ,,poca instruzione", durch die er seinen Auftrag zu ergänzen
versprochen, hätte, wie sein späteres Schreiben beweist, notwendig eine Mit-
teilung über die Ansicht des Papstes enthalten müssen.
10*
— 148 —
der Gesandte Mceolini berichtet, der P. Stefani, in dem Galileis
Freunde den Revisor nach ihrem Sinne gefunden zu haben meinten,
dem P. Riccardi keineswegs genehm. Es entsprach seinem schwanken-
den Wesen, Galileis Wünschen nicht zu widersprechen und doch
durch Zurückhaltung des Auftrags seine Zustinmmng unwirksam zu
machen.
In Florenz fand man die vorläufige Nachricht der Frau Niccolini,
daß der P. Maestro sich einverstanden erklärt habe, ausreichend,
um den P. Stefani mit der Revision zu betrauen. P. Stefani ent-
sprach den Erwartungen, die Galileis Freunde in ihn gesetzt hatten.
Wie zuvor P. Visconti in Rom, las er die Dialoge ohne feindliehe
Voreingenommenheit, ja zu Gahleis Gunsten beeinflußt, nicht nur
durch Florentiner Beziehungen, sondern ohne Zweifel auch durch
die Weisung, die für ihn in dem Imprimatur der römischen Autorität
gegeben war, also unter dem bestimmten Eindruck, daß man in Rom
gegen die Tendenz des Buches nichts einzuwenden finde. So konnten
es nur völlig bedeutungslose Änderungen einzelner Ausdrücke sein,
durch die er seinem Auftrag zu genügen sich bemühte; er setzte
„Universum", wo Galilei „Natura" geschrieben hatte, „titolo" statt
attributo, „ingegno sublime" statt „divino" und bat Galilei, diese
Korrekturen zu entschuldigen, durch die er zu bewirken hoffte, daß
auch der böseste Feind keinen Angriffspunkt finde. Bis zu Tränen
rührte den frommen Mann die Demut und verehrungsvolle Unter-
werfung unter die Autorität der Oberen, die ihm an mehr als einer
Stelle des Buches entgegentrat; bitten hätte man den Verfasser
müssen, sagte er, ein solches Werk zu veröffentlichen, statt ihm
Hindernisse zu bereiten. ^
So befriedigend das alles für Galilei klingen mochte — auch
die Revision des P. Stefani war bedeutungslos für den Florentiner
Drucker, solange nicht in Rom das entscheidende Wort gesprochen
war; aber der P, Maestro verharrte im Schweigen.
In peinlichem Warten waren Galilei die langen Wintermonate
vergangen; da entschloß er sich, die Hilfe des Großherzogs und seines
Ministers in Anspruch zu nehmen, nicht etwa in dem Gedanken,
daß diese den Florentiner Drucker autorisieren sollten, nun endlich
^ Vergl. die Briefe C4alileis an den Minister Cioli vom 7. III. 1631 u.
3. V. 1631 (Ed. Naz. XIV p. 21off. u. 258ff).
1
— 149 —
seine Presse füi- ein Werk zur Verfügung zu stellen, das in Rom und
Florenz gebilligt worden war, sondern mit dem bescheidenen Wunsche,
daß der P. Maestro in Rom durch den Florentiner Gesandten ver-
anlaßt werden möge, nicht mehr zu hindern, was er zu fördern ver-
sprochen hatte. In erregter Darstellung berichtet er in einem an den
Minister Andrea doli gerichteten Schreiben vom 7. März^ über die
Folge der Vorgänge, die sieh an seine letzte römische Reise geknüpft
hatten, und wie nun der P. Maestro trotz aller seiner Versprechungen,
die Vorrede und die Schlußbetrachtung zu bearbeiten und dann
zurückzuschicken, sie weder geschickt noch überhaupt ein Wort
darüber habe verlauten lassen. „So steht nun das Werk im Winkel",
ruft er aus, „mein Leben geht dahin, und ich verbringe es in beständiger
Pein."
Er richtet an den Minister die Bitte, zu veranlassen, daß im
Namen des Großherzogs der Gesandte beauftragt werde, sich mit
dem P. Maestro in Verbindung zu setzen und ihm den W^unsch
Sr. Hoheit kundzugeben, daß mit dieser Sache ein Ende gemacht
werde; nicht unangemessen schien ihm, als Grund für das Interesse
des Großherzogs anzuführen, daß er wissen wollte, welche Ai't
Menschen er in seinen Diensten halte; aber besser als er selbst, meint
Galilei, werde der Minister die geeigneten Mittel wissen, seine An-
gelegenheit zur Entscheidung zu bringen, so daß er noch bei Lebzeiten
von einem Ergebnis seiner schweren und langen Bemühungen etwas
erfahre.
Der jugendliche Großherzog Ferdinand war von Galileis Be-
kümmernis aufs lebhafteste ergriffen. Er befahl, daß eine Abschrift
des Briefes an den ^linister dem Gesandten zugestellt und ihm die
Anweisung erteilt werde, so bald als möglich und in wirksamer Weise
bei dem P. Maestro del Sacro Palazzo Galileis W^ünsche zur Sprache
zu bringen, auch keinen Zweifel darüber zu lassen, daß der Groß-
herzog selbst es sei, der auf Abhilfe dringe, da er in W^ahrheit
wünsche, daß das bedeutende Werk gedruckt werde, und an der
Aufregung, in die Galilei durch das Hinausschieben sich versetzt
sehe, vollen Anteil nehme.
NiccoUni versicherte, daß ihm und seiner Gattin Galileis Inter-
essen jederzeit am Herzen gelegen, daß seine Gattin noch vor kurzem
1 Ed. Naz. XIV p. 215ff.
— 150 —
mit dem P. Maestro seinetwcg:en verhandelt habe, und daß sie beide
sich in der gewünschten Weise so wirksam als mös:lieh weiter bemühen
werden.
Riccardi versuchte es auch dorn (Iroßherzog uiul (Umumi fiegen-
ül)er, die in seinem Auftrag ihn bedrängten, mit guten Worten. Auch
jetzt noch war er nicht gewillt, auf die j\Iöglichkoit Verzicht zu leisten,
die gegebene Zustimmung unwirksam zu nuichen, und doch fehlte
ihm der Mut, um der möglichen Gefahr willen von der Macht, die
ihm gegeben war, Gebrauch zu machen, in der entscheidenden Stunde
durch entschlossene Zurücknahme seines Imprimatur die Veröffent-
lichung eines Buches zu verhindern, das mit allen Mitteln der Zensur
nicht mit den kirchlichen Dekreten in Einklang zu bringen war. So
kam er im Gespräch mit C'astelli nochmals darauf zurück, man möge
ihm das Buch zurückgeben, dann werde er unter Mitwirkung des
Msgr, Ciampoli leicht bessern können, was der Besserung bedürfe,
und konnte doch, als er so redete, weder glauben, daß auf diesem
Wege wirksame Hilfe zu schaffen sei, noch hoffen, daß man ihm in
Florenz willfahren werde.
Allwöchentlich wurden nun in Florenz die Berichte des Gesandten
mit Spannung erwartet; immer von neuem vertrösteten sie auf eine
bevorstehende entscheidende Unterredung, und immer wieder hatte
in der Erwiderung der Minister von den Wünschen und dem Willen
des Großherzogs zu reden, der Galileis Sache ganz und gar zur eigenen
zu machen schien; langsam nur begann das unablässig erneute Dringen
und Drängen des Gesandten und seiner beredten Gattin auf den
P. Riccardi zu wirken, schon glaubten sie, in vereintem stürmischen
Angriff in einer langen Sitzung vom 14. April seinen Widerstand
besiegt zu haben: er hatte sich bereit erklärt, die Vorschriften auf-
zusetzen, nach denen der Druck in Florenz erfolgen könnte, und zur
Sicherung auf den Wunsch des Gesandten versprochen, in einem
an ihn gerichteten Schreiben die getroffenen Verabredungen Wort
für Wort zu Papier zu bringen — da empfing Xiccolini einen vom
25. April datierten Brief, der trotz scheinbaren Entgegenkommens die
Aussicht auf erneute Verzögerungen eröffnete.
„Der P. Stefani", schreibt Riccardi\ „wird das Buch in verständiger
Weise durchgesehen haben, da er aber die Meinungen unseres Herrn
1 Ed. Naz. XIV p. 254 f.
— 151 —
nicht könnt, kann er keine Approbation «oben, die mir genügt, um
sie meinerseits zu geben, so daß das Buch gedruckt werden könnte
ohne Gefahr, daß daraus Unannehmlichkeit für ihn und mich ent-
stände, wenn die gegnerisch Gesinnten etwas darin fänden, was den
Vorschriften widerspricht. Ich habe keinen größeren Wunsch, als
Sr, Hoheit dem Großherzog, meinem Herrn, zu Diensten zu sein,
aber ich möchte es in einer Weise tun, daß eine Person, die von einem
so großen Herrn beschützt wird, in keiner Weise Gefahr läuft, Schaden
an seinem guten Ruf zu leiden; und das kann ich nicht dadurch
bewirken, daß ich schlechthin die Erlaubnis zum Druck gebe, die
in Florenz nicht meine Sache ist, sondern nur, indem ich sicherstelle,
daß sie der Regel entspricht, die ihm als Befehl von Sr. Hoheit gegeben
ist, indem ich sehe, ob er sie befolgt hat. AVenn die Vorrede, die am
Anfang stehen soll, und das Ende des Buches kommt, so werde ich
leicht sehen, was mir genügt, und werde alsdann bezeugen, daß ich
das Werk approbiert habe; kann davon^ auch nicht einmal eine
Abschrift kommen, so werde ich einen Brief an den Inquisitor schreiben,
in dem ich ihm angebe, worauf er in dem Buche zu achten hat, indem
ich ihm auseinandersetze, was mir befohlen worden ist, damit, wenn
er sieht, daß es Beachtung gefunden hat, er es frei seinen Weg gehen
und drucken lassen kann, oder es mag ein anderer Weg gefunden
werden, wenn nur nicht meine Unterschrift allein dem Herrn Galilei
helfen soll und mir für mein Entgegenkommen Schaden bringt; denn
der geringste Wink so hoher Herrschaften genügt, daß ich tue, was
sich irgend tun läßt."
., Unter allen Umständen", schließt das Schreiben, „möge man
in Florenz versichert sein, daß kein Lebender mir von dieser An-
gelegenheit gesprochen hat, weder von den Oberen noch von den
Unteren, noch auch von Gleichstehenden, außer meinen und Galileis
gemeinsamen Freunden, auch nicht denken, daß gegnerisch Gesinnte
die Hand im Spiel haben, denn das ist in Wahrheit nicht der Fall."
Mit Entrüstung sah Galilei aus diesem Schreiben vor allem,
daß der P. jNIaestro, wie er es bis dahin fast ein Jahr hindurch mit
ihm getan hatte, nunmehr sich anschickte, in gleicher Weise mit
1 Reusch [Der Prozeß Galileis und die Jesuiten (Bonn 1879), S. 205]
setzt in Klammer: des ganzen Buches. Diese Deutung scheint mir den un-
mittelbar vorhergehenden Worten zu widersprechen.
— 152 —
nichtssagenden Worten auch den Großherzog hinzuhalten. Statt,
wie längst versprochen, die Vorrede und das Ende, die er seit Monaten
in Händen hatte, zurückzuschicken, um den Druck zu ermöglichen,
sprach er von der Notwendigkeit, diese Teile zu sehen, um ein Urteil
zu gewinnen, als ob er sie zu erwarten hätte; statt in klaren Worten
zu sagen, worin die Forderungen des Papstes bestehen, damit man in
Florenz erkennen könne, ob sie befolgt seien, deutet er nur geheimnis-
voll an, daß nur, wer den Willen des Papstes kenne, beurteilen könne,
ob Galileis Buch freizugeben sei. Während also Niccolini nach der
gegebenen Zusage in Aussicht gestellt hatte, daß der Brief des Paters
den Befehl, zu drucken, enthalten und angeben werde, was dabei zu
beachten sei, enthielt das eingesandte Schriftstück weder das eine
noch das andere. ,, Nicht leicht zu ertragen", nennt Gaülei in einer
neuen Eingabe an den JMinister ein derartiges Verhalten. Riccardis
Schreiben gibt ihm das Gefühl, als ob er in einem Ozean segele, in
dem es weder Ufer noch Hafen gibt. Er sinnt und grübelt, ^^^e da
zu helfen sei. In allen seinen Plänen ist es die Autorität des Groß-
herzogs, von der er die erhoffte, entscheidende Wendung ausgehen
sieht. Darum nniß dieser vor allem überzeugt werden, daß keines-
wegs, ^^'ie der hartnäckige Widerstand des P. Maestro glauben
machen könnte, ernstere, das Interesse der Kirche berührende
Meinungsverschiedenheiten vorliegen, um derentwillen man mit Recht
das Erscheinen seines Buches verhindern könnte. Er schlägt deshalb
vor, daß sobald als möglich der Inquisitor von Florenz und der
P. Stefani vom Großherzog eingeladen werden, vor Sr. Hoheit,- dem
Minister Cioli, dem Grafen Orso d'Elci und sonstigen dem Groß-
herzog genehm erscheinenden Gutachtern bei Hofe zu erscheinen;
dann werde er, Galilei, sich einfinden und das Werk mitbringen mit
allen den Zensuren, die darin vom Padi-e Maestro del Palazzo selbst,
von seinem Genossen, P. Visconti und vom P. Stefani angebracht
worden sind, wobei dann der P. Inquisitor alsbald erkennen Jiönnte,
wie geringfügige Dinge es seien, die man getadelt und die man ver-
bessert habe; wenn er dann überdies sähe, vde unterwürfig und ver-
ehrungsvoll der Verfasser sich bereit finden lasse, als Träume, Chimäxen,
Zweideutigkeiten, Trugschlüsse und leere Behauptungen alle Gründe
und Argumente zu bezeichnen, die Meinungen beizupflichten scheinen
könnten, die die Oberen nicht für erlaubt halten, so würden er und
die Anwesenden erkennen, wie wahr ist, was er behauptet: daß er
— 153 —
in (liosei* Aniiclofrenhcit iiiomals ciiio andere Meinung und Absicht
gehabt habe ah die lu'iligsten und ehrwürdigsten Väter und Lehrer
der Kirche. Diese Art, den Inquisitor aufzuklären, meint Galilei,
werde um so mehr am Platze sein, als P. Eiccardi schreibe, er werde
dem Inquisitor angeben, was in dem Buche beachtet werden müsse,
so daß, wenn er es beachtet fände, er die Freigabe des Buches für den
Druck gestatten könnte. Und ebenso würde, wenn der Minister, wie
er bittet, den Großherzog zum Eingehen auf seinen Vorschlag ver-
anlaßte, Seine Hoheit wie alle übrigen erkennen, wie schlecht unter-
richtet diejenigen sind, die — wie kürzlich der Gesandte ]Mccolini —
sagen können, daß ., seine Meinungen nicht gefallen", ,,denn die
Meinungen, die nicht gefallen, sind nicht die meinigen, und die meinen
sind die, zu denen St. Augustin, St, Thomas und all die übrigen
heiligen Väter sich bekennen."
So durchaus hatte Galilei in jenen Tagen sich in die künstliche
Verhüllung seiner Überzeugung hineingedacht, daß er hier kaum
noch zu verstehen scheint, wenn man von dem Glauben an die Be-
wegung der Erde wie von einer ihn interessierenden Meinung spricht.
Es hängt damit zusammen, daß er in dem ängstlichen Zaudern und
Schwanken des P. Riccardi immer nur die Wirkung gegen seine
Person gerichteter feindseliger Bestrebungen und Intrigen spürt, daß
der Gedanke an die Möglichkeit einer ernsteren, ihn selbst bedrohen-
den Gefahr ihm nicht nahetritt.
Den erhaltenen Briefen ist nicht zu entnehmen, ob eine Zusammen-
kunft nach Galileis Wunsche stattgefunden hat, doch erkennt man die
AVirkung seines Schreibens vom 3. Mai auf den Großherzog an Mc-
colinis von neuem verstärkten Bemühungen, den P, Riccardi zur
Nachgiebigkeit zu bewegen. Um nichts zu versäumen, wurden ihm
die Vorrede und die Schlußbetrachtung nochmals überreicht, zugleich
aber mit allem Nachdruck die Autorität des Großherzogs zur Geltung
gebracht; Niccolini ließ den Pater nicht darüber im Zweifel, daß
sein Fürst eine an der Veröffentlichung des ihm gewidmeten Buches
persönlich interessierte Partei sei und als solche geachtet werden
wolle. Dem energischen Fordern fehlte dieses Mal der Erfolg nicht.
In den letzten Tagen des Mai empfing der Inquisitor von Florenz
riemente Egidii. die vor mehr als Monatsfrist in Aussicht gestellte
Mitteilung über die Bedingungen, unter denen der Druck des Buches
in Florenz zu gestatten sei. Es waren nach Riccardis Angabe im
— 154 —
wesentlichen die Forderungen des Papstes, die an früherer Stelle
bereits zur Sprache gekommen sind. Unter Beobachtung dieser
Vorschriften sollte der Inquisitor von seiner Autorität Gebrauch
machen und das Buch freigeben oder nicht, ohne sich dabei durch die
vorhergehende Revision des P. Maestro beschränkt zu fühlen. Wären
die Weisungen befolgt, so würde dann das Buch auch in Rom keinerlei
Behinderung erfahren. Der Inquisitor könne also den Wünschen des
Verfassers entsprechen und dem Größherzog, der in dieser Angelegen-
heit so großen Eifer zeige, zu Diensten sein.
Der entscheidende Brief \^1^•de zur Kenntnisnahme für Galilei
und den Großherzog dem Minister Cioli übersandt und durch diesen
dem Inquisitor zugestellt. Der Inquisitor beeilte sich, sorgfältigste
Befolgung der erteilten Weisung zuzusagen. ,,Sr. Hoheit", fügt er
hinzu, ..liegt der Druck dieses Werkes besonders am Herzen, und
der Herr Galilei zeigt die größte Bereitwilligkeit, gehorsamst jede
Verbesserung anzunehmen." Wenn er dann weiter mitteilt, daß er
das Werk dem P. Stefani vom Dominikanerorden, ,, einem Priester
von großer Tüchtigkeit und Konsultor des Florentiner heiligen
Offiziums" zur Revision übergeben habe, so darf dahingestellt bleiben,
ob er — wie die Worte anzunehmen gestatten — auf die schon aus-
geführte Zensur Bezug nimmt oder nochmalige Prüfung auf Grund
der nun erst empfangenen bestimmten Weisungen veranlaßt hat.
Es konnte Galilei nicht schwer fallen, den Pater zu überzeugen, daß
sein Werk den Weisungen entsprach. Die von Urban geforderte
Änderung des Titels war ausgeführt. Aus den Dialogen über Ebbe
und Flut waren „Dialoge über die beiden Hauptweltsysteme" geworden.
Gexsiß ist, daß die Prüfung in Florenz eine irgend erhebliche weitere
Verzögerung des Drucks nicht mehr be\drkt hat. In den letzten
Tagen des Mai war das Schreiben des P. Maestro eingegangen; schon
am 20. Juni weiß Castelli in Rom aus Galileis Briefen, daß das Buch
gedruckt wird.^ Auf Niccolinis Frage, ob Galilei nunmehr befriedigt
sei, konnte der Minister erwidern: vollkommen befriedigt! Aber
auch jetzt noch war ihm nicht vergönnt, in Ruhe das Schicksal seines
Buches zu erwarten, noch einmal verging ein Monat und fast noch
ein zweiter, bis auch die adjustierte Vorrede in Florenz eintraf. Im
aussichtslosen Bemühen, noch in letzter Stunde zu hindern, was er
1 Ed. Naz. XIV p. 277.
— 155 —
mit Widorstroben hatte trestatten niüssoii, hielt Riccardi noch immer
das wichtige Schriftstück zurück, mit dem das Werk in Einklang
gebracht werden sollte, das also auch der Florentiner Zensor ver-
glichen haben mußte, um sicher zu sein, daß er den päpstlichen
Forderungen genügte; noch einmal bedurfte es der energischen Vor-
stellungen des Gesandten, um den letzten Widerstand des P. Maestro
zu brechen. „Nach unendlicher Mühe", schreibt am 10. Juli Niccolini
an Galilei, ..habe ich endlich die Korrektur der Einleitung zu Eurem
vortrefflichen Werk erhalten, wie Ihr, verehrter Herr, aus dem bei-
liegenden, an Pater Inquisitor adressierten Päckchen ersehen werdet.
In der Tat verdient der Pater Palastmeister bemitleidet zu werden,
denn gerade in diesen Tagen, in denen er von mir bedrängt und
beunruhigt wurde, hat er sehr große Unannehmlichkeiten und
Kränkungen in Veranlassung einiger anderer, vor kurzem veröffent-
lichter Werke erfahren, so wie er auch zu anderen Zeiten Wider-
wärtigkeiten erlitten haben muß, „Nur bei den Haaren gezogen",
wie man zu sagen pflegt, hat er jetzt nachgegeben, und das nur aus
Verehrung für den durchlauchtigsten Namen Sr. Hoheit und für sein
durchlauchtigstes Haus."
In dem Begleitschreiben an den Florentiner Inquisitor, mit dem
Riccardi die Vorrede übersandte, wird ausdrücklich gesagt, daß die
Forderung, sie als Einleitung an die Spitze des Buches zu stellen,
^\ie die zuvor übermittelten Vorschriften in Ausführung des päpst-
lichen Befehls gestellt werde. Dabei möge dem Verfasser die Freiheit
bleiben, unter Festhaltung des Wesentlichen des Inhalts an den
Worten Änderungen und Ausschmückungen vorzunehmen.
Etwas eingehender bestimmt eine Anweisung auf der Rückseite
des letzten zur Vorrede gehörigen Blattes, daß die Schlußbetrachtung
des ganzen Werks mit der Vorrede übereinstimmen soll, wobei der
Herr Galilei die ihm von Sr. Heiligkeit namhaft gemachten, der
göttlichen Allmacht entnommenen Gründe hinzuzufügen hat, die
den Verstand beruhigen sollen, wenn man auch den Pythagoreischen
Gründen sich nicht zu entziehen vermag.^
^ Mit großer Wahrscheinlichkeit hat man anzunehmen, daß, wie der
Gesamttext der Vorrede, so auch diese Anweisung für den Inhalt der Schluß-
betrachtung von Galilei selbst herrührt. Nach dem Brief der Caterina Ric-
cardi vom 19. Okt. 1630 hatte der Pater Maestro sich bereit erklärt, auf die
Lbersendung des Buches zu verzichten, wenn ihm ,,die Vorrede und das Ende"
— 156 —
"Wir kennen die Jntriguen nicht, die im Hintergrund der lang-
hingeschleppten Verhandlungen über den Druck der Dialoge wirkten;
mir eine wenig verbürgte Krzählung spricht von einer bitteren Feind-
schaft des Kommissars der Inquisition P. Fiorenzuola gegen den
Padre Maestro Riccardi; wir wissen nichts davon, aber als zuverlässig
dürfen wir annehmen, daß die feindseligste Gesinnung, das harte
,.Nein" eines unerbittlichen Zensors der Inquisition für Gahlei eine
Wohltat gewesen wäre gegenüber der Marter ohne Ende, mit der ihn
die wohlwollende Schwäche des Freundes und Schülers heimsuchte,
daß ein solches barbarisches, "Wissenschaft und Vernunft verbannen-
des Nein ilim zugleich für die Zukunft sichereren Schutz gewährt
hätte, als diese bei den Haaren herangezogene Elrlaubnis, die unter
dem Scheine der Bestimmtheit Raum für jede künftig wünschenswerte
Deutung ließ. Das Nein hätte ihn überzeugt, daß er das Unmögliche
wollte, wenn er unter dem Schutze der Kirche und, soweit als tun-
lich, ohne Schädigung ihrer Würde darzutun versuchte, daß die Kirche
sich mit der Vermmft und der "Wissenschaft in AViderspruch setze,
wenn sie das Verbot des Copernicus aufrechterhalte. Der P. Maestro
war schwerlich ein Philosoph und vielleicht überhaupt nicht einmal
ein Gelelirter, aber diesen Gedanken mußte er, sei es als Absicht,
sei es als naheliegende Konsequenz in der Darstellungsweise der
Dialoge entdecken. ^Nichts deutet an, daß er Galilei über das Gefähr-
liche einer solchen Berechnung aufzuklären versucht oder ihni die
Möglichkeit dargelegt hätte, daß die kirchliche Macht die Maske
sich gefallen lasse, solange dies bequem schien, um dann, wenn der
Wind sich wandte, den strafbaren Kern dem Inquisitor zu überreichen ;
vielmehr nnißten die bedeutungslosen, die Hauptsache nicht be-
rührenden Änderungen und Forderungen ihn in der Überzeugung
bestärken, daß er den richtigen Weg gewählt habe, um zugleich der
Kirche und der Wissenschaft zu genügen. Bei allem Zögern und Aus-
weichen war niemals von einer Änderung im Wesentlichen die Rede
gesandt werden, nach dem Brief derselben Caterina Riccardi vom 17. Nov.
ist ,,il proemio ed il fine" von Galilei gesandt worden; auch die wiederholte
Sendung nach Riccardis Brief vom 25. April 1631 hat nach Niccolinis Bericht
(vom 17. Mai 1631) wiederum aus proemio und fine bestanden. Galilei hat
also ohne Zweifel eine Angabe über den Inhalt der Schlußbetrachtung nach
Rom gesandt; es liegt kein Grund vor, sich diese verschieden von der hier vor-
liegenden zu denken.
!l
— 157 —
gcwoson, und dio Instruktion für den Florentiner Inquisitor seinen
vollends zu bestätifien, daß eine wesentliche Verschiedenheit der
Auffassun«: nicht hestand. Tin so mehr mußte Galih'i den Grund
der unerhürten und unauf<i;eklärten Verzögeruno;en in perHÖnlichen
Motiven suchen; so waren sie ihm keine Mahnuni,^ zur Vorsicht,
sondern nur eine Aufforderun«^, die krät'tii^sten Mittel in Anwendunfj
zu bringen, um zum Ziele zu f^elangen; und so mußte er es als Erlösung
begrüßen, als dieses Ziel erreicht schien. Nun endlich waren dem Werk
seines Lehens die We2;e gebahnt.
Sechstes Kapitel.
Aufnalime der Dialoge.
Die Veröffentlichung des lange erwarteten Buchs wurde von den
Anhängern der neuen Wissenschaft in ganz ItaHen mit Jubel begrüßt.
Es sind vorzugsweise Freundesstimmen, die uns von dem mächtigen
Eindruck Kunde geben, aber unter den denkenden Freunden und
Schülern finden sich neben hochstehenden Laien von auserlesener
Bildung sachkundige Gelehrte ersten Ranges. Es war Galilei gelungen
— das bezeugen die ersteren — wie er gewollt hatte, für alle Denken-
den die copernicanische Weltansicht als die einfachere und die wahre
erscheinen zu lassen^, aber auch den Eingeweihten hatte er neue
Beweise, neue Anschauungen und vor allem neue Probleme im Über-
flusse geboten — das bekunden die Briefe der l'astelli und Cavaheri,
Gassendi und Torricelli. Die Zuschriften dieser Männer strömen von
Bewimderung über— fesselnd, wie nur der Orlando furioso, daß man
kein Ende findet, wo immer man zu lesen anfängt, so dünkt dies
Buch den P. Cavalieri^, einen der ersten Mathematiker der Zeit.
IVIit unbeschreiblichem Staunen und Vergnügen hat Castelli es von
Anfang bis zu Ende gelesen und alsbald von neuem angefangen,
es den Freunden Magiotti und Toricelli vorzulesen, und immer mehr
erfreut es ihn, immer mehr setzt es ihn in Erstaunen, und immer
mehr fühlt er sich bereichert. Das bischen Leben, das ihm übrig
bleibt, will er darauf verwenden, nur dieses Buch zu studieren, von
^ Was für hervorragende Laien auch außerhalb des Freundeskreises
die Dialoge bedeuteten, das beweist unter anderem das Urteil des Hugo
Grotius. „Es ist so reich an Aufschlüssen über verborgene Dinge", schreibt
er, ,,daß ich kein Werk unsres Jahrhunderts ihm zu vergleichen wage, vielen
der Alten es vorziehe."
2 Ed. Naz. XIV p. 336—337.
— 159 —
ihm allein hofft er die Erhebung und den Trost, den die Betrachtung
der Wunder Gottes im Himmel und auf Erden gewähren kann.
Bewundernswert erschien den Lesern der Dialoge der Inhalt wie die
Sprache, die Kraft der Beweise, wie die Klarheit der Erörterung.
Für den Xichtastronomen namentlich schien Galileis Begründung
„um vieles der des Copernicus überlegen", „Um die Wahrheit zu
sagen", schrieb aus Venedig Fulgentio Micanzio^ „was hat das
copernicanische System in Italien gegolten? Ihr aber habt ihm Flügel
<j;egeben und den Busen der Natur entschleiert."
Mit besonderer Genugtuung sah Thomas Campanella, der mutige
Verteidiger vom Jahr 1616, zur Ausführung gebracht, was er Galilei
schon zwanzig Jahre früher als seine wichtigste Aufgabe ans Herz
gelegt hatte. Er vermißte zwar in den Dialogen die ersehnten Auf-
schlüsse über die schwierigen Probleme der Planetenbahnen und die
andern, von Copernicus nicht gelösten Eätsel, die seines Erachtens
niemand lösen wiü'de, wenn Galilei sch\\iege; aber er sah, Avie er
gehofft und gefordert, ..das wahre Weltsystem gesichert". Cam-
panella begriff das W^erk und seinen großen Inhalt im Zusammen-
hange mit der „großen Erneuerung" der Philosophie und der gesamten
Wissenschaft, der auch er sein Leben und Denken gewicbnet hatte.
„Ich wage zu sagen", schreibt er im Gefühl dieser Gemeinschaft der
Bestrebungen an Galilei, „daß, wenn wir miteinander ein Jahr auf dem
Lande verbrächten, große Dinge zustande kommen würden, und
wenngleich Ihr dazu ausreicht, so weiß ich doch, daß ich Euch ein
nützlicher Verbündeter wäre und viele Bedenken nicht peripatetischer
und nicht laienhafter Art über die Prinzipien der Philosophie zur
Sprache bringen würde. Gott ^Yill es nicht; er sei gelobt! Diese
Erneuerung aller Wahrheiten von neuen Welten, neuen Sternen,
neuen Systemen, ist der Anfang eines neuen Zeitalters. Das Übrige
wird der tun, der das Ganze leitet. Wir, nach dem geringen Teil,
der uns zufällt, woUen ihm helfen. Amen!"^
Wie das Werk als Ganzes, so hatten auch die Einzelheiten in
den Kreisen der Sachkundigen sich wärmster Zustimmung zu er-
freuen. Vor allem nahmen die AAichtigen Sätze aus Galileis neuer
Bewegungslehre, die hier zum erstenmal veröffentlicht wurden, das.
^ Ed. Naz XIV p. 364.
- Ed. Naz. XIV p. 366— 3ö7.
— 160 —
lebhafteste Interesse in Anfipnich. Von allen Seiten drang man in
den Verfasser, die verheißenen weiteren Dialoge, die diese An-
dentungen ausführen sollten, nicht länger den Wißbegierigen vor-
zuenthalten.
Den gleichen Beifall fand die neue Lehre von Ebbe und Flut.
Die Sätze der Bewegungslehre, aus denen Galilei seine überraschende
Erklärung ableitete, konnten, so einfach sie erscheinen mußten, doch
nicht sofort in ihrer ganzen Tragweite übersehen werden, so ist es
nicht zu verwundern, daß geraume Zeit verging, bis man aus den-
selben Prinzipien die Widerlegung der in allem Irrtum so scharf-
sinnigen Ableitung hervorgehen sah. Als völlig unangreifbaren Beweis
für die Bewegung der Erde verherrlichte der französische Philosoph
Gassendi diese Flutlehre. Was das ganze Altertum an Gründen und
Hypothesen zur Erklärung der Fluterscheinungen ersonnen, dünkte
ihn Geschwätz und leere Träume dieser Entdeckung gegenüber.
Zu wiederholten Malen, erzählt er, sei es ihm begegnet, daß, wenn
er Unbefangenen Galileis x\nsicht auseinandersetzte, ihre Wahr-
scheinlichkeit die Gemüter der Hörer in einem Maße ergriff, daß
sie der zwiefachen Bewegung der Erde die gleiche AVahrscheinlichkeit
zuerkennen mußten, weil es genügte, sie vorauszusetzen, um eine
so einfache Erklärung zu gewinnen. In ähnlicher Weise urteilten die
kundigsten unter den Gelehrten Italiens (Castelli, Borelli, selbst
Baliani). Sie konnten um so mehr der verführerischen Theorie sich
hingeben, je weniger für die meisten die Tatsachen, denen .sie die
Deutung schuldig bheb, der Beobachtung zugängüch waren. Ein
Bedenken von dieser Seite her erhob in jenen Tagen nur der Genuese
Baüani^ derselbe, der auch gegen Galileis Kometenlehre zuerst
gewichtige Zweifel geäußert hatte; auch Baliani fand den ganzen
vierten Dialog, der Ebbe und Flut behandelt, bewundernswürdig,
alle Zweifel bis auf einen, schienen ihm beseitigt, um so mehr über-
raschte es ihn, daß dieser eine, dessen Bedeutung sich nicht unter-
schätzen ließ, von Galilei nicht erledigt und nicht eiimial erwähnt war.
Nach Galileis Theorie hätte die Flut Tag für Tag zur gleichen
Stunde eintreten müssen, im Widerspruch mit der allgemeinen An-
nahme, nach der sie täglich ungefähr Vö Stunden früher erscheint
und somit der Bewegung des Mondes folgt. Ich weiß, fügt Baliani
1 Ed. Naz. XIV p. 342—344.
— 161 —
höflich hinzu, nachdem er spanische und niederländische Autoritäten
für die Tatsaciien aniieführt hat, (hiß Ihr, Herr T'ialik'i, das Entgegen-
gesetzte beobachtet haben müßt, und namentlich in Venedig, und
daß Ihr deshalb im Dialog nicht davon redet. ^
So ergeht sich die Besprechung der Freunde und Gesinnungs-
genossen nach allen Richtungen über den Inhalt der Dialoge, aber
vergebens sucht man nach Äußerungen über die frommen Vorbehalte
und Verwahrungen, über den Widerspruch der Form mit der un-
verkennbaren Absicht des Buchs. Dieser Widerspruch in den
Worten und Gedanken konnte keine Schwierigkeit, geschweige eine
Veranlassung zum Tadel den Männern bieten, die unter der gleichen
Herrschaft kirchlicher Dekrete zu denken und zu reden gelernt
hatten. Campanella benutzte die kirchlichen Wendungen der Vor-
rede, um gegen jedermann die Behauptung zu vertreten, die Dialoge
seien zugunsten des Dekrets gegen die Bewegung der Erde ge-
schrieben. Er hoffte so zu hindern, schreibt er an Galilei, daß das
erste beste Literätchen dem Lauf dieser Lehre in den AVeg trete,
aber meine Schüler, fügt er hinzu, wissen um das Geheimnis.^
Erst später, als von gegenerischer Seite Verdächtigungen gegen
das Buch erhoben waren, schrieb Fulgenzio ^licanzio aus dem freieren
Venedig: was können diese ^Niederträchtigen zu tadeln finden, wenn
sie nicht etwa die allzu große Bescheidenheit tadeln und, daß Ihr
die philosophischen Meinungen ohne die philosophische Freiheit vor-
getragen habt? Aber in diesem Sinne selbst einen Vorwurf erheben
zu wollen oder die Bedeutung der unfreien Zusätze zu überschätzen,
lag dem treuen Freunde fern.
Ebensowenig freilich fanden die vorsichtigen Wendungen im
feindlichen Lager Beachtung. Der Haupteinch'uck, daß in diesem
^ Baliani wußte auch dieses Mal mit seinem richtigen Einwurf nicht
viel anzufangen. Weit entfernt, die Fehler in Galileis mechanischer Ableitung
zu begreifen, scheint er sich vielmehr die Aufgabe gestellt zu haben, in Über-
einstimmung mit der Erklärungsweise Galileis die Fluterscheinungen auf die
Bewegungen des Wassers in einem bewegten Gefäß zurückzuführen, diese
Bewegungen aber so zu kombinieren, daß dabei auch die tägliche Verände-
rung der Flutzeiten ihre Erklärung fand. Auf diesem Wege ist Baliani später
zu der kühnsten aller Fluttheorien gelangt. Er glaubt, die Flut des Meeres
erklären zu können unter der Voraussetzung, daß die Erde sich um den Mond
bewegt (Riccioh, Almag. novura II 381).
- Ed. Naz. XIV p. 366—367.
Wohlwill, Galilei. II. 11
— 162 —
Buche alles, die Lehre, die Beweise, wie die Polemik in erster Linie
„gegen die Schule der Peripatetiker" geschrieben war, wurde nicht
abgeschwächt durch die unterwürfige Erklärung, daß die Nichtigkeit
sämtUcher Gegeugründe, die von dieser Seite vorgebracht waren,
eine Entscheidung zugunsten des Copernicus nicht rechtfertige. Wer
in verbissenem Grimme sich mit allen seinen Schwächen dem Ge-
lächter der A'euerer preisgegeben sah, konnte den Simplicio nicht,
darum verzeihlicher finden, weil ihm nach so vielen Niederlagen am-
Schlüsse ein Wort des Papstes in den Mund gelegt war, dem der Ver-
teidiger des Copernicus nicht zu widersprechen wagte.
Zahlreiche Entgegnungen, zum Teil unmittelbar nach dem Er-
scheinen der Dialoge veröffentlicht, zeugen von der unfreundlichen
Aufnahme der Dialoge bei den Schulgelehrten, geben aber auch zu-
gleich die Belege dafür, wie gut Simplicio getroffen war. Unter der
Fülle neuer Ai'gumente, die den Gegnern dargeboten waren, ver-
mochte nicht ein einziges ihnen auch nur bedingten Beifall abzu-
gewinnen; sie disputierten, wie zuvor, nicht, um die Wahrheit der
Natur zu ergründen, sondern um eine Reihe von überlieferten Sätzen
zu schützen. Da war nicht einer, der nicht den Simplicio einen
..einfältigen", ungeschickten Verteidiger genannt hätte, und doch
gleichen die neuen, besseren Gründe, die man an seiner Stelle benutzt
hatte, denen des Simplicio wie ein Ei dem andern, und auch das kam
in der Eile der Erwiderung vor, daß man aus dem Rüstzeug der
Schulweisheit die eine oder andere Waffe unwiderstehlich von neuem
ins Feld führte, die von Simphcio bereits nach Kräften geschwungen
und von Salviati nicht minder gründlich abgetan war, wie z. B. die
Frage nach dem Nutzen des großen Zwischenraumes.
Bedenklicher als diese literarischen Er^^^derungen lauteten von
vornherein die Äußerungen der Gegner, die sich durch die Dialoge
nicht allein mit den übrigen als Genossen der Schule, sondern über-
dies persönlich angegriffen sahen. Zwar Chiaramonti, der Philosoph
von Pisa, verhielt sich zunächst ruhig, erst nach der Verurteilung
Galileis (1633) Meß er seine Kritik des Dialogs „Difesa al suo Anti-
ticone e hbro delle tre nuove stelle" drucken.
Nicht so leicht war dem Collegium Romanum genug getan.
Noch war die Kränkung, die der Pater Grassi von Galilei erfahren,
ungerächt und unvergessen, nun endlich, nach neunjährigem Harren,
sah man den verhaßten Mann zuversichtlich einen Boden betreten.
— 163 —
auf dem es kein Entrinnen gab, wenn man rasch entschlossen die
Schlinge zusammenzog, in der sich seine Schritte verstrickten. Nun
hatte Galilei überdies in den Dialogen zum zweiten Male einen der
angesehensten Gelehrten des Ordens in seinem Philosophieren be-
mitleidenswert, in seinen angeblichen Entdeckungen als frechen
Plagiator erscheinen lassen und damit neue, schwerere Beleidigungen
zu den alten gefügt.
Der P. Scheiner war in Rom, als die Dialoge erschienen, er erfuhr
von den Angriffen gegen seine Schriften und seine Person, noch ehe
er des Buches habhaft werden konnte. Die Fortdauer der Pest in
Toskana und die Behinderung des Verkehrs, die daraus hervorging,
veranlaßte den Buchhändler, eine größere Sendung nach Rom zu
verzögern; so waren noch mehrere Monate nach der Veröffentlichung
imr ganz vereinzelte Exemplare in Rom zu finden. In dieser Zeit
begegnete es dem Pater, daß er in dem Laden eines Buchhändlers
hören nuißte, wie ein Olivetaner Mönch aus Siena sich in Lobes-
erhebungen über die Dialoge erging und kühnen Mutes aussprach,
es sei das größte Buch, das je das Licht der Welt erblickt. Der Buch-
händler sah zu seiner ÜbeiTaschung, wie bei diesen Worten der Pater
in Bewegung geriet, die Farbe wechselte und an Leib und Händen
aufs heftigste zitterte. „Er würde zehn Goldskudi für ein Exemplar
des Buches zahlen", sagte er ihm nachher, um sobald \de möglich
antworten zu können.
Die gelehrte Antwort, die der Pater Scheiner im Sinne hatte,
ließ noch jahrelang auf sich warten; aber bald genug sollte Galilei
erfahren, was es hieß: die Jesuiten beleidigen.
Im Juli wurden durch Filippo Magalotti acht Exemplare der
Dialoge von Florenz nach Rom gebracht. Im Xamen Galileis über-
reichte Magalotti das Werk außer dem P. Campanella und dem
toskanischen Gesandten auch dem Kardinal Francesco Barberini
und dem Pater Riccardi, dem Maestro del S. Palazzo ; von den übrigen
empfing das eine Mgr. Serristori, Beisitzer der Inquisition; ein zweites
der Jesuit Leon Santi.
Die Verteilung zeigt, wie wenig Galilei und seine Freunde in
jenen Tagen besorgten, der Inquisition mißfallen zu können. Aber
wenige Wochen darauf, noch vor Ablauf des Juli, empfing Galilei
die Nachricht, daß vom Papst und der Inquisition die Dialoge ge-
prüft würden; es handle sich darum, hieß es gerüchtweise, das Buch
11*
— 164 —
zu korrigieren oder zu suspendieren, vielleicht zu verbieten. Bald
folgte weiter die Kunde, daß der Pater Maestro del Sacro Palazzo be-
müht sei, die in Rom verbreiteten Exemplare in seine Hand zu
bringen, und daß in gleichem Sinne nach Florenz geschrieben sei.
Filippo MagalottiS durch seine Gesinnungen Galilei freund-
schaftlich verbunden, durch Familie und Stellung in nahen Bezie-
hungen zum Papst und den Hochgestellten der Kirche, unternahm
es, diese Beziehungen im Interesse des Freundes zu verwerten, ins-
besondere dem verborgenen Zusammenhang der überraschenden
Wendung nachzuspüren. Er erfuhr sehr bald, daß nach außen hin
eine Reihe von Vorwürfen erhoben wurden, hinter denen im Innern
eine mächtiere Triebfeder wirksam war.
1 Ed. Naz. XIV p. 368—370, 379—382, 382—383.
Siebentes Kapitel.
Der Prozeß vom Jahre 1633.^
Schon im Auo;iist 1632, einige Monate nach dem Erscheinen der
Dialoge, erhielten Galilei und der Drucker aus Rom den Befehl,
keine weiteren Exemplare zu verkaufen, die noch vorhandenen der
Inquisition auszuliefern. Auf Veranlassung Galileis üeß die groß-
herzogliche Regierung sofort in Rom ihr Befremden aussprechen, daß
man ein so gründlich geprüftes, mit allen Erlaubnissen ausgestattetes
Buch suspendiere. Aber man war in Rom nicht gewöhnt, auf der-
artige Vorstellungen besonderes Gewicht zu legen; die Gesandten
fanden es nicht angemessen, sie anders als in den bescheidensten
Formen zur Sprache zu bringen. Die einzige Rücksicht, die man dem
Großherzog bewies oder zu beweisen vorgab, bestand darin, daß man
nicht ohne weiteres die Inquisition, sondern eine spezielle Kongre-
gation mit der Prüfung der Dialoge beauftragte.
Das Ergebnis war die Einleitung des Inquisitions Verfahrens gegen
Galilei. Am 1. Oktober wurde Galilei vor den Florentinischen In-
quisitor gerufen und ihm in Gegenwart von jN'otar und Zeugen er-
öffnet, daß er im Laufe des Monats in Rom vor dem Kommissar der
Inquisition zu erscheinen habe. Galilei war aufs äußerste bestürzt;
er wandte sich an den Minister, an den Großherzog; er glaubte viel-
leicht einen Augenblick, daß man sich zum Widerspruch aufraffen,
Rom gegenüber die Selbständigkeit der Florentiner Regierung zur
Geltung bringen werde. Aber man dachte nicht daran, man riet
zur Fügsamkeit.
Nun suchte Galilei Hilfe bei seinen Gönnern in Rom; in einem
Brief an den Kardinal Barberini, den Verwandten des Papstes,
^ Dies Kapitel ist VorträL'cn des Verfassers entnommen (vgl. Vorrede).
Der Herausgeber.
— 166 —
stellte er in ergreifenden Worten seine Lage, seine Verzweiflung dar.
„Wenn ich bedenke", heißt es in diesem Schreiben, „daß die Frucht
all meiner Studien und Anstrengungen jetzt auf eine Vorladung vor
das Heilige Offizium hinausläuft, wie sie nur gegen die erlassen wird,
die schwerer Vergehen schuldig befunden werden, so ergreift es mich,
daß ich die Zeit verwünsche, die ich auf diese Studien verwandt,
durch die ich mich über den täglich betretenen Pfad der Wissenschaft
einigermaßen erheben zu können hoffte, so bereue ich, der Welt einen
Teil meiner Arbeiten mitgeteilt zu haben, und spüre Lust, was ich
noch unter den Händen habe, zu unterdrücken und den Flammen zu
übergeben und so ganz die Wünsche meiner Feinde zu erfüllen, denen
meine Gedanken so sehr zur Last sind."
Galilei bittet den Kardinal, aus Rücksicht auf seine 70 Jahre
und die körperlichen Leiden, zu denen seit den Nachrichten aus Rom
eine beständige Schlaflosigkeit gekommen war, seinen Einfluß dahin
geltend zu machen, daß ihm die Reise nach Rom erlassen werde,
eine Reise, die damals durch die immer noch wütende Pest und die
Nötigung zu langer Quarantäne in erhöhtem Grade beschwerlich,
für Galilei geradezu lebensgefährlich war; man möge ihm eine schrift-
liche Verteidigung auferlegen oder wenigstens die Untersuchung gegen
ihn in Florenz stattfinden lassen. Wenn man aber bei dem erlassenen
Befehl beharre, so werde er die Reise antreten, den Gehorsam höher
achtend denn das Leben.
Aber alles, was sich erreichen Heß, war ein Aufschub von wenigen
Wochen. Als Galilei zögerte, folgte ein neuer Befehl, bald darauf
ein dritter in ernsterem Tone. Vergebens sandte nun Galilei ein
Zeugnis di'eier angesehener Ärzte ein; sie bekundeten, daß sie den
Greis in einem Zustande gefunden, in dem die geringste äußere
Ursache ihm lebensgefährlich werden könne. Die Antwort des
Papstes, der damals schon die Leitung des Prozesses gegen Galilei
persönlich in die Hand genommen hatte, lautete: es möge dem In-
quisitor in Florenz geschrieben werden, daß seine Heiligkeit und die
Heiüge Kongregation derartige Ausflüchte in keiner Weise dulden
könne; um zu erkunden, ob Galileis Zustand in Wirklichkeit sei,
wie man ihn schildere, werde Seine Heiligkeit und die Heihgo Kon-
gregation einen Kommissar in Begleitung eines Arztes senden, um
seinen Zustand zu untersuchen. Finde man ihn so, daß er kommen
könne, so würde man ihn als Gefangenen und in Ketten nach Rom
— 167 —
bringen. Müsse aber um seiner Gesundheit und der Lebensgefahr
willen ein Aufschub stattfinden, so werde man ihn sofort nach der
Herstellung und Beseitigung der Lebensgefahr als Gefangenen und
in Ketten befördern; der Kommissar aber und die Ärzte sollten auf
seine Kosten befördert werden, weil er zur rechten Zeit und als es
ihm befohlen war, zu kommen verschmäht habe.
Man erzählt, daß der Großherzog, der ein schwaches Gefühl
seiner unwürdigen Stellung in dieser Angelegenheit hatte, über den
päpstlichen Befehl in lebhafte Aufregung geraten sei; aber zur selben
Zeit schrieb der Minister Cioli nach Rom: „Xie wird Seine Heilig-
keit Gnmd haben, sich über die Minister noch über deren Rat zu
beklagen". So erging denn auch jetzt an Galilei in sehr bestimmten
Ausdrücken die Aufforderung, sich dem Befehl des Papstes zu unter-
werfen.
Mittlerweile war es Winter geworden; am 26. Januar 1633 begab
sich Galilei auf den Weg. So kam diesmal Galilei nicht, wie bei seiner
letzten Reise nach Rom, als Freund und Schützling des Papstes,
sondern als Angeklagter, vor dem höchsten Gericht gegen Ketzerei sich
zu verantworten; er ging noch jetzt in dem Bewußtsein, unschuldig
verleumdet zu sein, nicht etwa weil er, in dem höheren Sinne ohne
Schuld, nach bestem Wissen die Wahrheit gelehrt, sondern weil er
in allem Eifer für die Wahrheit nie einen Augenblick den Gehorsam
gegen die Kirche verleugnet hatte.
In der Tat kann man durch die Vorladung, die Galilei empfing,
überrascht sein, wenn man daran denkt, wie das Werk, gegen das
die Anklage erhoben wurde, unter den Augen der Idrchlichen Gewalt
entstanden war, wie es von der römischen und florentinischen In-
quisition geändert und verbessert und schließlich gebilligt w^ar, und
wenn man an Galileis Bereitwilligkeit denkt, jede weitere Um-
gestaltung einzugehen, und wie in der langen Verhandlung über den
Druck nicht mit einem Wort von Weigerung, immer nur von williger
Unterwerfung die Rede war. So waren denn Galilei selbst wie seine
Freunde aufs äußerste überrascht. Sie begriffen nicht, was man in
Rom zu tadeln, was gar anzuklagen finde.
Es ist heute nicht mehr zweifelhaft, daß dem Verfahren gegen
Galilei wohl angelegte persönliche Intrigen zugrunde lagen. Für
— 168 —
tückische Feinde waren allerdings die Dialoge nicht berechnet; für
die, die auf der Lauer lagen, alte Kränkungen zu rächen, konnte
kein Fang erwünschter sein. Wie leicht war zu erweisen, daß mit
allen frommen und unterwürfigen Zusätzen das Buch ein rein coperni-
canisches geblieben war; und wie empfindlich ließ sich die Lächerlich-
keit einer Zensur zum Bewußtsein bringen, die mit dem trügerischen
Paß der frommen Vorrede die verbotene Lehre abzuschwächen ver-
meint und ihr in "Wirklichkeit die freieste Verbreitung gewährt, die
sich genug geschehen wähnt, w'enn dem vernichtenden Beweis gegen
die alte Lehre die gläubige Formel angehängt wird, daß zu solcher
Entscheidung zwar die menschliche Wissenschaft führe, die w-ahre und
endgültige Entscheidung aber von höherem Wissen zu erwarten sei.
Wie leicht war zu zeigen, daß man mit all dem in schlimmster Weise
zum Besten gehalten und überlistet war!
Es fehlte in Rom nicht an den rechten Leuten, um diese Auf-
fassung am rechten Orte laut werden zu lassen. War doch in den
Dialogen selbst dafür gesorgt, daß der alte Groll der eingefleischten
Schulgelehrten, die Galilei nie geschont hatten, von neuem in
Flammen schlug. Ein jeder von ihnen konnte im Simplicio sich selbst
gezeichnet und verhöhnt finden; denn sicher hatte ein jeder einmal
in der Weise des Simplicio disputiert, mit Auslegungen der alten
Texte auf neue Entdeckungen geantwortet oder, wie dieser, wenn ihm
die Gründe ausgingen, nach Hause geschickt, um die Bücher holen
zu lassen. Dazu kam vor allem, unversöhnlich und nie versöhnt,
das Kollegium der Jesuiten.
Die klugen Männer, denen die Vernichtung des alten Gegners
am Herzen lag, werden nicht großer Mühe bedurft haben, um den
Papst über die wahre Bedeutung der Dialoge aufzuklären, ihm dar-
zulegen, daß seine geheiligte Person durch die Teilnahme an dem
Werk der Zensur nun selbst kompromittiert sei. Sie wußten geschickt
das Vergehen der Täuschung dadurch in ein schlimmeres Licht zu
rücken, daß sie die Lehren der Dialoge in ihren weiteren gefährlichen
Konsequenzen schilderten. Jetzt zum ersten Mal hören wir, daß diese
Lehren die allerverwerfhchsten seien, die sich erdenken lassen, daß
alle Ketzereien eines Luther und Calvin ihnen gegenüber geringfügig
erscheinen.
Aber auch das schien nicht genügend, dem Verhaßten sicheres
Verderben zu bereiten. So kam man auf den teuflischen Gedanken,
I
— 169 —
den Papst glauben zu machen, daß in der Person des Simplicio
niemand anders als seine Heiligkeit selbst dem Gelächter preisgegeben
sei. So wahnsinnig eine solche Absicht erscheinen muß, wenn \m sie
im Geiste des Galilei auch nur einen Augenblick voraussetzen, so
klug war sie als Erfindung seiner Feinde ersonnen. Urban gehörte
in seinem Denken, in seiner Gelehrsamkeit der aristotelischen Schule
an; er hatte mit Galilei lange und wiederholt über die Lehre des
Copernicus disputiert — so mußte auch er notwendig in den Gründen
des Simplicio gegen die Erdbewegung seine eigenen wiederfinden;
und blieb ein Zweifel möglich, wenn Simplicio den Beweis aus Ebbe
und Flut nicht nur mit den Worten des Papstes widerlegt, sondern
selbst für alle Welt verständlich hinzufügt, daß er diesen Gegenbeweis
von einer eminentissima persona gehört habe? Es bedurfte nur der
Hinweisung auf das Zitat, um auch das Schlimmste glaublich
erscheinen zu lassen.
Das Gift war wirksam; als der Florentinische Gesandte auf Ver-
anlassung seines Ministers im September 1632 zum ersten Male dem
Papst von Galilei und seinen Dialogen zu reden versuchte, fand er
statt des alten Wohlwollens die leidenschaftlichste Erbitterung. Was
Xiccolini nach dieser ersten Unterredung befürchten mußte, sollte
sich in vollstem Maße verwirklichen: der Papst machte aus der Ver-
folgung Galileis seine eigene Sache. Die Akten der Inquisition
beweisen, daß in den entscheidenden Momenten des Prozesses jedesmal
der Papst in Person in die Schranken tritt, daß der Papst befiehlt,
wo Galilei und die Welt mit ihm die Richter des Heiligen Offiziums
prüfen und erkennen sieht.
Aber auch der zornige Wille des Herrschers war an Formen des
Rechts gebunden; der Form nach wenigstens war Galilei durch die
Zensur der römischen und florentinischen Inquisition gerechtfertigt.
Wenn sich nachträglich die einmal gewährte Erlaubnis als gefährlich
für die Interessen der Religion erwies, so konnte man nicht ohne
weiteres den Mann verantwortlich machen, der sein Werk dem Willen
des Zensors bedingungslos überliefert hatte. Man konnte das Buch
einer neuen Zensur unterwerfen, man konnte es verbieten; aber um
gegen den Verfasser überdies ein Urteil der Inquisition zu erwirken,
bedurfte es einer anderen Schuld, einer besser begründeten Anklage.
Einfach genug ergab sich diese ernstere Schuld nach der gewöhn-
lichen Erzählung, wie sie in allen Büchern wiederkehrt: Das Ver-
— 170 —
gehen, das die Inquisition zu ricliton hatte, war luieh diesen Berichten
die offenkundige Veiiotzuni; eines geheimen Befehls, der
Galilei im Februar UUG erteilt war. , .Unter Androhung des Inqui-
sitionsprozesses'', heißt es, ..war ihm damals im Xamen des Papstes
und der Heiligen Inquisition auferlegt, die Meinung des Copernicus
fernerhin in keiner Weise in Worten oder Schriften zu lehren. So
genügte die Abfassung der Dialoge, um einen strafbaren Ungehorsam
zu beweisen. Der Fall, den man im Jahre IGLG mit Strafe bedroht
hatte, war eingetreten."
Unvollständige, willkürlich zusammengestellte Auszüge aus den
Akten der römischen Inquisition sind die Quelle dieser Auffassung,
wie aller früheren Kenntnis über Galileis Prozeß. In einer kaum
erklärlichen Weise ist es gelungen, den inneren Zusammenhang der
Vorgänge, die zu Galileis Verurteilung führten, zu verdunkeln; und
doch haben nicht wenige urteilsfähige Männer das Manuskript in
Händen gehabt und benutzt, in dem, wenn nicht alle, so doch die
wichtigsten Aktenstücke zum Prozeß von 1633 erhalten sind. Auf
Befehl Napoleons wurde die denkwürdige Handschrift im Jahre 1812
den römischen Archiven entnommen und nach Paris gebracht;
35 Jahre lang ist sie dort aufbew'ahrt worden; aber merkwäirdiger-
weise haben die französischen Gelehrten, denen sie zu Gebote stand,
nur das mit einiger Ausführlichkeit in die Öffentlichkeit gebracht,
was einer geringschätzigen Auffassung von Galileis Wirken und Denken
entsprach. Im Jahre 1847 wurde das Manuskript dem Papst Pius IX.
ausgeliefert und von neuem den römischen Archiven einverleibt.
Wenige Jahre darauf veröffentlichte Mar in i, Sekretär des Papstes
und Vorsteher des päpstlichen Archivs, Auszüge und Mitteilungen
aus den x\kten, wie man erzählt, um ein Versprechen zu lösen, gegen
das die französische Regierung sich zur Rückgabe entschlossen hatte.
Die Schrift Marinis ^ , die lange Zeit die Hauptquelle für die Geschichte
des Prozesses geblieben ist, mußte von vornherein als unvollständig
und überaus parteiisch erscheinen. Wir wissen jetzt, daß sie durch
geschickte Anordnung und Auslassung den ursprünglichen Zusammen-
hang so verändert hat, daß ein Unterschied zwischen diesem Verfahren
und eigentlicher Geschichtsfälschung schwer zu entdecken ist.
^ Marino Marini, Galileo e Tlnquisizione, Memorie storico-critiche,
Roma 1850.
II
— 171 —
Seit dem Jahre 1867 ist der flößte Teil des rüniischen Manu-
t;krij)ts der Öffentlichkeit üherweben. Henri de rKpinois hatte
die iM'laiibnis zur Vciaiistaltiiiif^ einer Kopie in Iioni zu erlangen
gewußt und darauf die Aktenstücke in dem guten Glauben ver-
öffentlicht, dadurch die vielfachen Verdächtigungen aus dem AV'ege
zu räumen, die sich an Marinis unvollständige Veröffentlichung
knüpften.^ Diese Mitteilungen verraten nu>hr, als der schlimmste
Verdacht voraussehen konnte. Sie beweisen, daß in der Tat das
Verbot vom Jahre 1616 den Mitteljjunkt der Verhandlungen im
Jahre 16;k> bildet. Unter den Aktenstücken, die de l'Epinois zuerst
veröffentlidit hat, befindet sich auch das entscheidende, das vorher
überall erwähnt und besprochen, aber von niemand gekannt war,
das Aktenstück, das jenes Verbot vom Jahre 1616 verbürgt.
Die Erkenntnis seines Wortlauts ist für das Verständnis des
Prozesses unerläßlich. Die Lage der Dinge im Februar 1616 war
ja folgende: am 23. Februar war durch den Beschluß von 11 Domini-
kanern und Jesuiten die Lehre des ("opernicus oder vielmehr diese
Lehre, so wie sie der unwissende Pater Caccini verstanden hatte, für
absurd in der Philosophie und in bezug auf den Glauben für formell
ketzerisch erklärt. Ein Dokument mit dem Datum des 25. Februar
berichtet nun folgendes:
„Donnerstag am 25. Februar 1616, Der HeiT Kardinal Mellinus
hat dem ehrwürdigen Herrn Assessor und Kommissarius des Heihgcn
Offiziums notifiziert, daß auf Grund des Urteils der Patres Theologen
über die Lehrmeinungen des Galilei, — insbesondere daß die Sonne das
Zentrum der "Welt und ohne örtliche Bewegung sei und daß die Erde
sich auch in täglicher Bewegung bewegt, — Seine Heiligkeit dem
Herrn Kardinal Bellarmin befohlen hat, genannten Galilei vor sich
zu laden und ihn zu ermahnen, daß er der genannten Meinung ent-
saire, und wenn er sich weigern sollte, zu gehorchen, sollte der Pater
Kommissarius in Gegenwart von Notar und Zeugen ihm den Befehl
erteilen, gänzlich darauf zu verzichten, eine derartige Lehre und
Meinung zu lehren und zu verteidigen oder sie zum Gegenstand einer
Erörterung zu machen; wenn er sich aber nicht dabei beruhigte,
sollte man ihn ins Gefängnis werfen."
Darauf fol£:t das entscheidende Aktenstück mit dem Datum
' H. de TEpinois, Galilee, son proces, sa condainnation. Paris 1807.
— 172 —
des 2l) steil. Ich versuche, so gut als müghch das barbarische Latein
zu verdeutschen, aber ich ändere nichts an der abschreckenden Form:
..h'reitag, den 26. desselben Monats. Ln Palast des Herrn Kar-
dinals Bellarniin und in seinen Gemächern hat der Herr Kardinal,
nachdem genannter Galilei vorgeladen und vor seiner Eminenz er-
schienen war, in Gegenwart des sehr ehrwürdigen Bruders Michael
Angelo Segnitius de Lauda vom Orden der Prädikatoren, des General-
kommissars des Heiligen Offiziums, vorgenannten Galilei ermahnt
wegen des Irrtums obengenannter Meinung, daß er sie aufgeben möge,
und unmittelbar darauf in meiner und der Zeugen Gegenwart
und während derselbe Herr Kardinal gleichfalls noch anwesend war,
hat der obengenannte Pater Kommissarius dem vorgenannten noch
ebendaselbst anwesenden und vorgeladenen Galilei im Namen Seiner
Heiligkeit des Papstes und der ganzen Kongregation des Heiligen
Offiziums befohlen und vorgeschrieben, daß er die obengenannte
Meinung, daß die Sonne das Zentrum der Welt und unbeweglich sei
und die Erde sich bewege, ganz und gar aufgebe und sie fernerhin
in keinerlei Weise für wahr halte, lehre oder verteidige, in Worten
oder Schriften; sonst werde gegen ihn im Heiligen Offizium verfahren
werden; und bei diesem Befehl hat derselbe Galilei sich beruhigt und
zu gehorchen versprochen. So geschehen zu Rom, an obengenanntem
Ort, in Gegenwart von Badino Xores aus Xicosia im Königreich
Cypern und Augustin Mongart aus der Abtei Rottz der Diözese von
Politianum, Hausgenossen des genannten Kardinals als Zeugen."
Es geschieht also, wie leicht ersichtlich, am 26. Februar
etwas ganz anderes, als am 25. der Papst befohlen hatte.
Das vollständige Verbot sollte der Vertreter der Inquisition erteilen,
falls Galilei sich weigerte, zu gehorchen. Aber der Pater Segnitio
de Lauda spricht den Befehl unter Andi-ohung des Inquisitions-
verfahrens aus, ohne daß von einer Weigerung Galileis die Rede war.
Wir wissen, daß er schon damals an eine solche Weigerung nicht
gedacht hat. Ganz sinnlos erscheint in solcher Verbindung, daß der
Kardinal Bellarmin die Verhandlung mit einer milden Mahnung
eröffnet und dann der Inquisitionskommissar mit dem schärfsten
Befehl in die Schranken tritt. Aber nicht nur mit dem Befehl des
Papstes ist der Vorgang, wie ihn der Bericht vom 26. Februar schildert,
unvereinbar, sondern auch mit den bestimmtesten Aussagen Galileis
und dem klaren Zeugnis des Kardinal Bellarmin, also mit der gleich-
— 173 —
lautenden Anjjahe der beiden unzweifelhaft beteilif^^en Personen:
nach Aussa^'e beider Zeui^^'U ist der wirkliehe Vorifani,' am 20. Februar
darauf hinausj,M'k(»nunen. daü der Kardinal Bellarniin Galilei von
dem Beschlossenen in Kenntnis setzte und ihn aufforderte, sich danach
zu richten. Galilei fü^e sich und versprach, zu g:ehorchcn.
r^ach meiner festen Überzeuf^uns ist die einzi<?e Lösun«; der
Widersprüche, zui^leich der Schlüssel zum Geheimnis des ganzen
Prozesses, in einer Auffassung zu suchen, die sich mir bei der ersten
Keschäftigung mit diesen Dokumenten aufgedrängt und seitdem in
wahrhaft überraschender Weise von allen Seiten bestätigt hat, in
der einfachen Annahme nämlich, daß das Aktenstück vom 26. Februar
1Ü16 nicht im Jahre 1616, sondern im Jahre 1632 entstanden,
also untergeschoben ist. Ich habe an anderer Stelle diese An-
nahme, ohne die meiner Überzeugung nach der ganze Verlauf des
Prozesses vom Jahre 1633 unverständlich ist und die nach meinem
l)esten Wissen mit keiner anderweitig bekannten Tatsache, mit keinem
beglaubigten Dokument in Widerspruch steht, ausführlich begründet.^
Die erste authentische Nachricht über dies merkwürdige Akten-
stück rührt vom 11. September 1632 her. An diesem Tage schreibt
der Gesandte Xiccolini nach Florenz, er erfahre von dem Pater
Kiccardi unter dem Siegel des Geheinmisses die hochwichtige Mit-
teilung: es habe sich in den Archiven gefunden, daß Galilei im Jahre
1616 im Xamen des Papstes und der Inquisition der Befehl erteilt
worden sei, auf jede Erörterung der copernicanischen Lehre zu ver-
zichten. Dies allein, fügte der Pater hinzu, genüge, um Galilei zu-
grunde zu richten.
In der Tat hat man sich im Jahre 1633 des Dokuments,
von dem wir reden, bedient, um Galilei zugrunde zu
richten, in der Tat hat es sich genau in dem Augenblick vor-
gefunden, wo es an einer handgreiflichen Schuld für den strengen
Richter fehlte. Diese beiden Tatsachen sind konstatiert; dann aber
auch die dritte, daß dieses Dokument von denen, die es benutzten,
ohne weiteres, ohne Prüfung, allen Widersprüchen und der aller-
verdächtigstcn Form zum Trotz als ein glaubwürdiges betrachtet
und verwertet ist.
^ Der InquLsitionsprozeß des Galileo Galilei, Berlin 1870; vergl. auch
Anhang II A, wo die neueren Studien zu dieser Frage behandelt sind.
— 174 —
Daß OS ein Goriiigos war, mit oinoiii solclicn Schriftstück in der
Haiui. Galilei zu verurteilen, sieht man leicht: der Nachweis, daß
durch Galileis Dialoge die Meiinino; des Copernicus in irgendeiner
Weise als Lehre vorgetragen sei, war trotz der mehrfach besprochenen
Einschaltungen leicht zu führen. Die spätere Erlaubnis der Inqui-
sition hatte nun keine Bedeutung; denn der Zensor, der die Erlaubnis
erteilt hatte, kannte den Befehl von 1616 nicht. Galilei hatte ihn,
wie die Anklage sagt, trügerischerweise verheimlicht.
Am 13. Februar 1633 kam Galilei nach ungewöhnlich langer
beschwerlicher Reise in Rom an; man gestattete ihm vorläufig den
Aufenthalt im Hause des Florentiner Gesandten; nur durfte er das
Haus nicht verlassen, mit anderen als den Hausgenossen nicht ver-
kehren. Erst 2 Monate später, am 12. April, erschien er zum ersten
Male zum Verhör im Palast der Inquisition.
Man suchte vor allem, durch ein Geständnis des Angeklagten
seine Schuld, d. h. eine Verletzung des Befehls vom Februar 1616,
festzustellen. Man befragte ihn über die Vorgänge im Jahre 1616.
Gahlei erzählt von den Verhandlungen, die dem Verbot der coperni-
canischen Lehre vorangegangen waren, von der schließlichen Ent-
scheidung der Kongregation des Index. Auf Befragen erklärt er,
daß ihm diese Entscheidung durch den Kardinal Bellarmin persön-
lich mitgeteilt sei.
Weiter wird gefragt: ob bei dieser mündlichen Mitteilung des
Kardinals andere Personen zugegen gewesen seien und welche. Galilei
erinnert sich, daß einige Dominikanerväter zugegen waren, aber er
kannte sie nicht und hatte sie niemals sonst gesehen. Ob von diesen
Vätern oder von jemand sonst ihm in bezug auf denselben Gegenstand
ein Befehl erteilt sei und welchen Inhalts? Galilei erzählt dann den
Vorgang vom 26. Februar nach seiner Erinnerung: er weiß nur, daß
der Kardinal Bellarmin ihm mitgeteilt hat, daß die Meinung des
Copernicus als schriftwidrig weder für wahr gehalten noch verteidigt
werden könne. Ob jene Dorainikanerväter dabei zugegen waren oder
erst später kamen, ist seinem Gedächtnis entfallen. Er hält für mög-
lich, daß die Mitteilung des Kardinals einen Befehl enthalten habe,
aber er erinnert sich dessen nicht.
Der Inquirent hält offenbar während der ganzen Verhandlung
jenes Protokoll vom 26. Februar 1616 in Händen, er blickt von Zeit
— 175 —
zu Zeit liiiiein, und Galilei muß überzeugt sein, daß man alles weiß;
so wagt er nicht, seinen Krinnerungen zu trauen, er redet von einem
Befehl, nur weil ei sieht, daß ein Hei'ehl registriert ist.
Der Inquirent fragt weiter: ob er sich dessen, was ihm damals
gesagt und als Befehl auferlegt wurde, erinnern werde, wenn es ihm
vorgelesen werde? Galilei ist bestürzt, weil er merkt, daß man noch
ein Geständnis verlangt, und er bereits gesagt hat, was er weiß. Er
(Mwidert: ,,Ich erinnere mich nicht, daß mir etwas anderes gesagt
wurde; ich weiß nicht, ob ich mich dessen, was mir damals gesagt
wurde, erinnern werde, auch wenn es mir vorgelesen würde. Ich
spreche freimütig aus, was mir erinnerlich ist, weil ich mir bewußt
bin, dem erteilten Befehl nicht zuwider gehandelt zu haben."
Darauf sagt ihm der Inquirent: in dem Befehl, der ihm damals
in Gegenwart von Notar und Zeugen erteilt wurde, sei enthalten,
daß er die genannte Meinung in keiner Weise für wahr halten, ver-
teidigen oder lehren dürfe. Er möge wenigstens sagen, ob er sich
erinnere, in welcher Weise und von wem ihm dies insinuiert sei.
Offensichtlich wird der Versuch gemacht, Galilei durch Andeutungen
ein vollständiges Geständnis zu entlocken: man erwartet, daß er
nun endlich sich des Kommissars der Inquisition und der Androhung
des Inquisitionsprozesses erinnert. Aber die Andeutungen sind
Galilei unverständlich; er wiederholt, nur noch ängstlicher, was er
bereits viermal geantwortet hat: „Ich erinnere mich nicht, daß mir
dieser Befehl von jemand sonst als durch das mündliche Wort des
Kardinal Bellarmin insinuiert worden w'äre; ich erinnere mich, daß
der Befehl war: ,, nicht für wahr zu halten noch zu verteidigen"'; es
kann sein, daß auch dabei gewesen ist: „nicht zu lehren". Ich erinnere
mich dessen nicht, auch nicht, daß die Bestimnmng „in keiner Weise"
dabei gewesen ist, aber es kann sein, daß sie dabei gewesen ist; denn
ich habe kein Xachdenken darauf verwandt und nicht weiter gesorgt,
die Worte im Gedächtnis zu behalten, weil ich ein paar Monate später
ein schriftliches Zeugnis über den Vorgang von dem Kardinal Bellarmin
erhalten hatte, in dem sich nur die Worte: ., nicht für wahr halten
und nicht verteidigen" finden."
Gahlei legt darauf die Abschrift einer schriftlichen Erklärung
vom Mai 1616 vor^ in der Kardinal Bellarmin, um ihn gegen Ver-
' Vcrcl. Bd. 1 8. 64Ü.
— 176 —
leumdungen zu schützen, mit seiner ]N'amensimterschrift bezeugt, es
sei ihm keinerlei Strafe auferlegt, sondern nur das später von der
Kongregation des Index veröffentlichte Dekret mitgeteilt
worden, des Inhalts, daß die dem Copernicus zugeschriebene Lehre
der Heiligen Schrift zuwider ist und somit weder für wahr gehalten
noch verteidigt werden darf.
Die wesentliche Abweichung dieser schriftlichen Erkläiung von
dem Inhalt des Inquisitionsprotokolls liegt offenbar nicht in den
einzelnen Worten, die Galilei fremd klingen, sondern darin, daß nach
dem Wortlaut dieser Erklärung die einzige Regel für die Beurteilung
eines späteren Vergehens in dem Dekret der Indexkongregation gegen
die copernicanische Lehre zu finden war. Dies Dekret, das bekanntlich
die copernicanische Lehre als Hypothese gelten ließ, war die bestinmite
Piichtschnur für den Zensor, als er die Dialoge prüfte; die Erlaubnis
zum Druck bewies dann, daß der Zensor kein Vergehen gegen das
Dekret gefunden hatte. ^N'ach dem InquisitionsprotokoU dagegen
war Galilei ein Befehl unter der bestimmten Androhung des Inqui-
sitionsprozesses erteilt, der weit über den Inhalt des Dekrets hinaus-
ging; ein Befehl, in dem jede Art der Erörterung, also auch die
hypothetische, untersagt war; ein Befehl, der über Galilei eine völlige
Ausnahmestellung verhängte und der für den Zensor keine weitere
Vorschrift enthielt als die, eine jede Schrift dieses Mannes, die
von Copernicus rede, unter allen Umständen zu verwerfen.
Der eigentliche Inhalt dieses Protokolls bleibt Galüei vollständig
unbekannt; nur die Andeutungen in den Fragen des Untersuchungs-
richters hält er fest, aber dabei wird ihm bis zuletzt verschwiegen,
daß nicht, wie er sich erinnert, der Kardinal Bellarmin, sondern ein
Vertreter der Inquisition den entsprechenden Befehl gesprochen
haben soU. Die Frage, wer ihm den Befehl erteilt, wird nicht wieder-
holt, nachdem Galilei fünfmal geantwortet hat: „Niemand anders als
der Kardinal Bellarmin." Durch keine weitere Frage wird auch nur
versucht, diesen Widerspruch zu lösen, obgleich nach der Aussage
Galileis und dem gewichtigen Zeugnis des Kardinal Bellarmin die
Anklage, einen speziellen Inquisitionsbefehl bei der Erlangung der
Druckerlaubnis verheimücht zu haben, vollkommen unhaltbar wurde.
Diese Tatsache ist in einer späteren schriftlichen Verteidigung, die
Galilei seinen Richtern neben dem Originalzeugnis des Kardinal
Bellarmin überreichte, in den klarsten Worten erwiesen. Galilei ist
— 177 —
auch hier der Meinung, daß die weitergehenden Worte, die man ihm
vorgelesen hat, die Worte: ,,in keiner Weise zu lehren" als mündhche
Worte des Kardinal Bellarniin verzeichnet sind. Denn er weiß nur
von der Anrede des Kardinals; nur in diesem Sinne sucht er sich zu
entschuldigen, daß er diese Worte nicht beachtet habe. ,,Aus diesem
Zeugnis", heißt es in der am 10. Mai eingereichten Verteidigungs-
schrift Galileis „ist klar zu ersehen, daß mir nur mitgeteilt worden,
die dem Copernicus zugeschriebene Lehre von der Bewegung der Erde
könne WTder für wahr gehalten noch verteidigt werden, und davon,
daß mir außer diesem allgemeinen Erlaß, der allen gilt, noch irgend
etwas füi" mich allein auferlegt wäre, findet sich in dem Zeugnis keine
Spur. Da ich nun dies authentische Zeugnis von der Hand des-
selben Mannes mir zur Erinnerung bewahrte, der mir die Vor-
schrift zur Kenntnis gebracht, so habe ich an die Ausdrücke, die
bei der mündlichen Mitteilung des Befehls gebraucht wurden, nicht
weiter gedacht, und deshalb sind die beiden Bestimmungen, „in
keiner Weise" „zu lehren", die der mir erteilte Befehl, wie ich höre,
außer dem „Fürwahrhalten und Verteidigen" enthält, für mich ganz
neu hinzugekommen und wie nie gehört. Wenn aber diese beiden
Bestimmungen weggelassen und nur die anderen beibehalten werden,
die im Zeugnis des Kardinals verzeichnet sind, so bleibt kein Zweifel
möghch, daß der Befehl, der in ihm auferlegt wird, dieselbe An-
ordnung ist, wie die im Dekret der Index-Kongregation.
Und darin scheint mir eine hinreichende Entschuldigung dafür zu
liegen, daß ich dem Meister vom Heiligen Palast von der mir persön-
lich erteilten Vorschrift keine Mitteilung gemacht habe, da sie dieselbe
ist, wie die Anordnung der Kongregation des Index."
In den Akten findet sich keine Andeutung, daß diese Verteidigung
weitere Berücksichtigung gefunden hat; der Wortlaut des Urteils
beweist, daß man außerstande war, sie zu widerlegen. Aber wir hören
aus dem Munde des Papstes Urban in seiner Unterredung mit dem
Florentiner Gesandten, daß es bei diesem Tribunal nicht üblich war,
sich mit einer Verteidigung aufzuhalten, daß vielmehr alles darauf
hinauskam, zu urteilen und zum Widerspruch zu z^^dngen.
Über diesen eigentlichen Kern der Verhandlungen, näm-
lich darüber, daß die Verteidiger der Inquisition die Verteidigung
Galileis in ihrem wahren Zusammenhang durchaus unterdrückt haben,
ist man bisher allgemein hinweggegangen. Dagegen hat man mit
Wohlwill, Galilei. II. 12
— 178 —
der größten Ausführlichkeit und Vollständigkeit aus den Akten die
demütigen, nach dem ersten Eindruck völlig würdelosen Äußerungen
zusammengestellt, in denen Galilei nach dem Rat seiner Freunde,
um nur so bald wie möghch seine Freiheit wieder zu gewinnen, seine
eigenthchen Gesinnungen vollkommen preisgibt.
In der Tat, als man ihn nach jener Vernehmung drei Wochen
lang in den Gemächern des Inquisitionspalastes zurückgehalten und
der unerträgliche Mangel an Bewegung ihn aufs Ki^ankenlager gebracht
hatte, erschien er im zweiten Verhör vollständig gebrochenen Mutes.
Er erklärte sich bereit, wenn man ihm nur, wie er wünsche, Gelegen-
heit und Zeit vergönne, deutlichst darzutun, daß er die verworfene
Ansicht von der Erdbewegung mit nichten geteilt und ebensowenig
sie jetzt für wahr halte. „Den Anlaß zu finden," sagt er, „wird mir
leicht werden, da in dem von mir herausgegebenen Buch die redenden
Personen sich verabredet haben, noch ciimial zusammenzukommen,
um über andere naturwissenschaftliche Gegenstände miteinander zu
reden. Da ich bei dieser Gelegenheit ein oder zwei Unterredungen
werde hinzufügen müssen, so verspreche ich, die zugunsten der
gedachten falschen und verworfenen Meinung angeführten Gründe
nochmals vorzunehmen und auf die bündigste Weise, die unser barm-
herziger Herrgott mir eingeben wird, zu widerlegen. Ich bitte dem-
gemäß diesen Hohen Gerichtshof, mir bei diesem guten Vorsatz
behilfhch zu sein und mir dessen Verwklichung möglich zu machen."
Das ist eine von den Stellen, bei denen es selbst die Getreuen
der Kirche, die eifrigen Vertreter der römischen Inquisition für un-
erläßhch halten, ihr schmerzhches Bedauern auszusprechen, daß der
große Mann so gänzüch seiner Würde vergessen konnte. Gewiß soll
hierfür keine Rechtfertigung versucht werden. Aber die Schrift-
steller, die dies fromme Mitleid nicht unterdrücken können, über-
sehen oder vergessen das wichtigste, daß nämlich, wenn bei Gaülei
von einer sittlichen Schuld die Rede sein soll, diese Schuld in vollem
Maße sich auf beiden Seiten findet; es bleibe dahingestellt, auf welcher
Seite die größere. Der ganze Verlauf des Prozesses, die Geschichte
Ganieis bis zu seinem Ende beweist aufs unwidersprechlichste, daß
auf beiden Seiten das gesprochene Wort, ja der geschworene Eid
mit der vollkommensten Gleichgültigkeit behandelt wird. Die Richter
Galileis wollen nicht die Wahi'heit, sie wollen Unterwerfung, sie
wollen nicht seine Gesinnungen kennen, sie wollen Worte hören»
I
— 179 —
von denen sie überzeugt sind, daß Galilei sie ohne Glauben spricht.
Und so redet und verspricht Galilei ohne Glauben, was, wie er meint,
nach ihrem Sinne klingt.
Wie wenig die Richter selbst dem Versprechen trauten, daß er
nun auch gegen den Copernicus schreiben wollte, geht daraus hervor,
daß ihm später ausdrücklich auferlegt wurde, weder für noch gegen
die verbotene Lehre zu schreiben.
Am 10. Mai hatte Galilei seine Verteidigung eingereicht; erst
am 21. Juni, volle 6 Wochen später, erhielt er eine letzte Vorladung.
Was inzwischen in seiner Sache geschehen ist, deckt tiefes Dunkel;
über die Verhandlungen der Richter ist nicht das Mindeste erhalten.
Galilei deutet die Verzögerung in günstigem Sinne. Man hatte
ihm von neuem gestattet, seinen Aufenthalt im Palaste des Floren-
tiner Gesandten zu nehmen. Dieser wurde nicht müde, in ritterHchster
Weise für ihn tätig zu sein. Als mederum der andauernde Mangel
an Bewegung sich für Galilei nachteilig äußerte, wußte Mccolini eine
Erlaubnis zu erwirken, daß er im halbgeschlossenen Wagen durch
die Vorstädte fahren dürfe. Vergünstigungen dieser Art waren nie
einem Inquisitionsgefangenen zuteil geworden; so befestigte sich in
ihm die Zuversicht auf einen guten Ausgang Er baute auf den un-
widersprechhchen Beweis, den seine Verteidigung in den wichtigsten
Punkten der Anklage für seine Unschuld geliefert hatte. Aber schon
am 29. Mai hatte der Papst geäußart, daß wohl die Dialoge ein Verbot
und Galilei selbst wegen Übertretung des Befehls von 1616 eine heil-
same Buße treffen werde.
So erwartete Galilei nichts Geringeres als völlige Freiheit, als
man ihn zum letzten Mal in den Palast des Heiligen Offiziums berief.
Li furchtbarer Weise sollte er enttäuscht werden. Der Untersuchungs-
richter nahm ihm wie gewöhnlich den Eid ab, die Wahrheit sagen
zu wollen. Er fragt daim, ob er aus sich selbst noch etwas zu sagen
habe. Gahlei erwidert: ,,Ich habe nichts zu sagen". Ob er für wahr
halte oder für wahr gehalten habe und seit welcher Zeit, daß die Sonne
das Zentrum der Welt und die Erde nicht das Zentrum der Welt sei,
vielmehr eine tägliche Bewegung habe? Galilei: ,, Lange Zeit vor
der Entscheidung der Heiligen Kongregation des Index und ehe mir
der Befehl erteilt wurde, war ich unentschieden und hielt die beiden
Meinungen des Ptolemaeus und Copernicus für diskutierbar, weil die
eine wie die andere in der Natur wahr sein konnte; aber nach der
12*
— 180 —
Entscheidung, da mk durch die Khigheit der Oberen Gewißheit
gegeben war, hörte in mir jeder Zweifel auf, und ich hielt und
ich halte noch jetzt für durchaus wahr und nicht anzuzweifeln die
Meinung des Ptolemaeus, daß die Erde ruht und die Sonne sich
bewegt."
Darauf wurde ihm gesagt, aus der Art und Weise, wie in seinem
später erschienenen Buch diese Lehre behandelt und verteidigt ■werde,
ja schon daraus, daß er dieses Buch geschrieben und veröffentlicht
habe, gehe hervor, daß er noch nach dieser Zeit diese Meinung für
wahr gehalten habe; so möge er frei die Wahrheit sagen: ob er sie
für wahr halte oder gehalten habe, Galilei wiederholt, sein Buch
beweise, wie die natürlichen und astronomischen Gründe die Sache
unentschieden lassen, und er zeige daher, wie aus vielen Stellen seiner
Dialoge zu sehen, daß man, um mit Sicherheit zu erkennen, zur Ent-
scheidung aus erhabenerer Wissenschaft seine Zuflucht nehmen müsse.
„So," sagt er, „schließe ich in mir, daß ich nach der Entscheidung
der Oberen die verurteilte Meinung nicht für wahr halte und nicht
für wahr gehalten habe."
Der Richter wiederholt: aus seinem Buche und aus den Gründen,
die er für die Erdbewegung anführe, sei zu entnehmen, daß er die
Meinung des Copernicus für wahr halte oder wenigstens damals für
wahr gehalten habe; und wenn er sich nicht entschließe, die Wahrheit
zu gestehen, so werde man gegen ihn mit den geeigneten Rechts-
initteln vorgehen,
Galilei: „Ich halte die Meinung des Copernicus nicht für wahr
und habe sie nicht dafür gehalten, seitdem mir vorgeschrieben war,
daß ich sie aufgeben sollte; im übrigen bin ich hier in euren Händen,
macht mit mir, was euch gefällt," Noch einmal wiederholt der
Richter, er möge die Wahrheit sagen, sonst werde man zur Folter
schreiten. Galilei antwortet: „Ich bin hier, um mich zu unterwerfen,
und ich habe diese Meinung seit der Entscheidung nicht für wahr
gehalten, wie ich gesagt habe," Darauf entheß man ihn in sein
Gefängnis im Inquisitionspalast,
So der Wortlaut des Protokolls über das letzte Verhör, wie er
jetzt in der Aktensammlung vorliegt. Es ist daraus fast allgemein
geschlossen worden, daß man sich tatsächlich damit begnügt habe,
in dieser Weise Galilei gleichsam nur den Vorgeschmack der Folter
empfinden zu lassen. Doch besteht, wie ich in einer ausführlichen,
— 181 —
diesem Gegenstand gewidmeten Studie^ nachgewiesen habe, der
begründete Verdacht, daß dieses Protokoll erst nachträglich unter
Vernichtung eines früheren, an gleichem Ort vorhanden gewesenen
Berichts an die Stelle, an der es sich jetzt befindet, verbracht worden
ist. Aus der das Urteil gegen Galilei enthaltenden Sentenz scheint
hervorzugehen, daß zum mindesten der „erste Grad der Tortur",
die „territio realis", d. h. ein Verhör am Ort und im Angesicht der
Folterwerkzeuge gegen ihn angewandt worden ist.
Gewiß ist aber jedenfalls, wie sehr die Worte zu widersprechen
scheinen, daß es auch bei diesem letzten Verhör dem Kichter der
Inquisition nicht auf die Wahrheit der Aussagen ankam. Denn wie
uns heute die Akten verraten, war schon am 16. Juni, also 5 Tage
vor diesem Verhör, durch einen bestimmten Befehl der Ausgang des
Prozesses den Richtern vorgeschrieben. „Sanctissimus", heißt es in
dem Schriftstück, „hat befohlen, den Galilef de intentione (d. h. über
die Absicht und Gesinnung, die seinem Buch zugrunde liegt) zu
befragen unter Androhung der Tortur, als ob er sie ertragen solle,
und alsdann ihn in der vollen Kongregation des Heiligen Offiziums
abschwören zu lassen und zum Gefängnis nach Belieben der Heihgen
Kongregation zu verurteilen." Es folgt dann der wesentliche Inhalt des
bald darauf wirklich zur Ausführung gebrachten Urteils. Es ist daraus
ersichtlich, daß die Aussage Galileis im letzten Verhör, ob er die Absicht
gestehe oder nicht, auf den Ausgang keinen Einfluß ausüben sollte.
Am Tage nach diesem Verhör mußte Galilei in einer feierlichen
Sitzung der Inquisition den Irrtum, daß die Erde sich bewege und
die Sonne ruhe, abschwören. Auf den Knien liegend sprach er die
Worte der Verwünschungsformel nach: „Ich schw^öre ab, verwünsche
und verfluche mit redlichem Herzen und nicht erheucheltem Glauben
alle diese Irrtümer und Ketzereien, sowie überhaupt jeden anderen
Irrtum und jede Meinung, welche der Heiligen katholischen und
römisch-apostolischen Kirche entgegen ist; auch schwöre ich, in
Zukunft weder mündlich noch schrifthch etwas zu sagen oder zu
behaupten, w^as ähnlichen Verdacht der Ketzerei gegen mich begründen
könnte; und sollte ich einen Ketzer oder der Ketzerei Verdächtigen
kennen, so werde ich ihn dem Heiligen Offizium oder dem Inquisitor
oder meinem Diözesanbischof anzeigen."
^ Ist Galilei gefoltert worden? Leipzig 1877 bei Duncker & Humblot;
s. ferner Anhang II, B.
— 182 —
Das Urteil, das alsdann nach dem Befehl des Papstes gegen
Galilei ausgesprochen wurde, ging dahin, daß die Dialoge vollständig
verboten wurden, Galilei zum Gefängnis in den Kerkern der Inqui-
sition verurteilt wurde, solange es dem Heiligen Offizium gefalle,
und daß er als heilsame Buße drei Jahre lang einmal die Woche die
71 Bußpsalmen zu sprechen habe.
Die Sage läßt Galilei, vde er kaum nach der Abschwörung sich
erhoben hat, von dem Gefühl der Wahrheit übermannt mit dem
Fuße stampfen und halblaut die Worte herausstoßen: „Und sie
bewegt sich doch!" Es ist kein Zweifel möglich, daß dieses trotzige
Wort nicht nur nach der Verwünschungsformel ohne Sinn ist, sondern
auch in keiner Weise dem Charakter des Mannes entspricht, der sich
in der Stunde der Gefahr bereit erklärt hat, seine eigene Lehre zu
widerlegen. Und so ist in der Tat dies Wort von keiner glaubwürdigen
Quelle verbüi'gt, vermutHch erst später erfunden oder doch erst
spät aus einer volkstümlichen Überlieferung in die geschichthche
Erzählung eingedrungen.
Aber was in der Stunde der Erniediigung kein Ohr aus seinem
Munde vernommen, das hörte und glaubte in jenen Tagen jedermann,
und das wußten vor allen übrigen die Männer, zu deren Füßen kniend
er seinen Irrtum abgeschworen hatte; von ihnen allen, Papst und
Kardinälen, zweifelte nicht ein einziger, daß Galilei dem Glauben,
den er verleugnete, nicht einen Augenblick untreu geworden war.
Kur wenige Worte sind über die Bedeutung des Urteils Jiinzu-
zufügen. Wenn man in dem guten Glauben an den Prozeß und die
vorhergehenden Verhandlungen geht, daß die Beschlüsse, die uns
heute erschrecken, in dem Lichte ihrer Zeit wesentlich anders,
wesenthch gemildert erscheinen müssen, wenn man erwartet, daß
in dem Neuen, Fremdartigen der copernicanischen Lehre, in der
Unvollkommenheit der damals bekannten Beweise für die Entschei-
dungen der Inquisition eine mindestens teilweise Rechtfertigung
gefunden werden müsse, so findet man sich vollkommen getäuscht.
Von einer Prüfung der Wahrheit, einer Abwägung der Gründe ist
mi'gends die Rede: so wenig im Jahre 1616 das Buch des Copernicus,
so wenig sind im Jahre 1632 Galileis Dialoge geprüft worden. Je
länger, je eingehender man die Akten, die Gesandtschaftsberichte,
die Briefe aus den Jahren 1632 und 1633 studiert, um so gewisser
sieht man neben der persönlichen Intrigue, Rachsucht und dem
«
— 183 —
glühenden Haß persönlicher Feinde alles übrige als bedeutungslos
in den Hintergrund treten.
Bald nach der Verurteilung berichtet ein Freund Galileis aus
Kom: der Jesuit Pater Grienberger habe ihm wörtlich folgendes
gesagt: „Wenn Galilei sich die Zuneigung der Väter und des Kolle-
giums zu erhalten gewußt hätte, so würde er ruhmreich in der Welt
leben, und nichts von all diesem Mißgeschick hätte ihn getroffen,
und er hätte nach Belieben über alles schreiben können, selbst über
die Bewegung der Erde." „So seht Ihr", schreibt Galilei einem
anderen Freunde, als er ihm die Worte mitteilt, „daß es nicht diese
oder jene Meinung ist, die mir den Krieg heraufbeschworen hat,
sondern nur die Ungnade der Jesuiten."
Wir kennen die Intriguen der Jesuiten nicht; aber wir wissen,
daß der Zorn des Papstes, den die Jesuiten zu wecken und zu schüren
wußten, die Ursache der Verfolgung und der Verurteilung Galileis
war. Wir wissen heute, daß Urban VIII. Galilei gegenüber in einer
Person Beleidigter, Kläger und Richter war. Die Kardinäle der In-
quisition haben nach dem Zeugnis der Akten nur seine Befehle aus-
geführt.
Hinfällig erscheint aber auch heute die verbreitete Auffassung,
nach der zwar die persönliche Verfolgung einer Leidenschaft einer
milderen Auffassung im Wege gestanden, übrigens aber in der Ver-
letzung eines bestimmten Befehls der Inquisition der eigentliche Grund
der Verurteilung zu suchen wäre. Es ist durch die Akten konstatiert,
daß die Tatsache eines solchen Befehls schon im Jahre 1633 im höchsten
Maße zweifelhaft erscheinen mußte. Ich spreche die feste Überzeugung
aus, daß dieser Befehl nie existiert hat, daß vielmehr das einzige
Aktenstück, das ihn als Tatsache zu verbürgen scheint, ein Mach-
werk jener Feinde ist, denen es an der nötigen Handhabe fehlte, ihr
Opfer mit Sicherheit zu verderben.
Achtes Kapitel.
Galilei, der Gefangene der Inquisition.^
Galilei blieb der Gefangene der Inquisition bis ans Ende seines
Lebens, d. li. noch beinahe 9 Jahre. Es war freilich keine Gefangen-
schaft im dumpfen Kerker und in Ketten; das ursprüngliche Urteil
wurde bald gemildert; man mes ihm anfangs einen großherzoglichen
Palast in Eom, dann nach seinem eigenen Wunsch die Wohnung
des Erzbischofs in Siena zum Aufenthalt an, und auf wieder-
holte Fürsprache des Gesandten Niccolini wm'de ihm schon gegen
Ende des Jahres gestattet, in seine Villa in Arcetri nicht weit von
Florenz zurückzukehren. Aber sein Tun und Lassen blieb unter der
Aufsicht der Inquisition, dem Papst persönlich blieb es vorbehalten,
die Vergünstigungen nach seinem Belieben fortdauern oder enden zu
lassen; nur auf geringe Entfernungen durfte Galilei die Villa ver-
lassen; der Besuch von Florenz war auf das strengste untersagt.
Man schrieb ihm vor, sich zurückgezogen zu halten, niemals viele
Personen zugleich zu Unterredungen oder Mahlzeiten bei sich auf-
zunehmen und so den Verdacht zu meiden, als ob er sozusagen
Akademie in seinem Hause hielte oder unter seiner Leitung Er-
örterungen über unerlaubte Dinge stattfänden. Der Florentiner
Inquisitor überwachte genau, wer mit ihm verkehrte. Ketzer und
Leute aus ketzerischen Staaten, die den großen Mann aufsuchen
wollten, wurden nicht vorgelassen; war aber der Fremde katholisch
und aus katholischem Lande, so durfte er Galilei sehen und mit ihm
verhandeln, aber unter der Bedingung, daß dabei nicht von
der Bewegung der Erde die Rede wäre. So oft auf besonderen
^ Dieses Kapitel ist Vorträgen des Verfassers entnommen (vergl. Vor-
rede). Der Herausgeber.
- 185 —
Wunsch Galileis ein Freund zu kürzerem oder längerem Aufenthalt
nach Arcetri kam, so oft wiederholte der Inquisitor auf päpstlichen
Befehl diese Vorschrift.
So gering achtete man die bindende Gewalt der furchtbaren
Formel, so wenig glaubten diese Herrscher über die Gewissen an ihre
eigene Herrschaft. Sie täuschten sich nicht in ihrem Gefangenen,
aber trotz aller Vorsicht und Klugheit wurden sie von ihm hinter-
gangen, wie nur jemals Kerkermeister von ihren Gefangenen hinter-
gangen sind.
In aller Verfolgung, allem Schicksalswechsel war Galilei in der
Nähe und Ferne eine kleine Schar der treuesten, hingebendsten
Freunde geblieben, unter ihnen vor allem der Pater Castelli, der in
Rom seine Sache führte und immer von neuem Versuche unternahm,
den Papst zu überzeugen, daß er einem Unschuldigen zürne, daneben
der venetianische Mönch, der Pater Fiügenzio Micanzio, einer von den
wenigen, die freimütig ihrer Entrüstung über das Verfahren gegen
den großen Mann den rechten Ausdruck gaben. Mit der Hilfe solcher
Freunde gelang es Galilei, der systematischen Überwachung zum
Trotz sein wertvollstes Gut, seine Werke, ins Ausland zu retten.
Schon im Juli 1633, einen Monat nach seiner Verurteilung, sandte
Galilei auf geheimen Wegen das verbotene und verdammte Werk,
dessen Lehren er feierlich abgeschworen und verflucht hatte, nach
Straßburg an den deutschen Gelehrten Bernegger mit der Bitte,
eine lateinische Übersetzung zu veranstalten, aber dabei vollständig
zu verheimlichen, daß ein solcher Wunsch von ihm ausgegangen sei.
Wie man sieht, dachte Galilei von der Bedeutung seines Schwurs
genau so wie die Männer, die ihn ihm aufgez^^•^mgen hatten.
Kaum ein Jahr war seit dem schwersten Tage seines Lebens ver-
flossen, als in Holland, der Zuflucht aller verbannten Geistesfreiheit,
die Dialoge in lateinischer Sprache erschienen; wie das Vorwort sagt,
ohne Vorwissen und sehr ^vider den Willen des Verfassers; aber der
Brief ist erhalten, in dem w heute noch aus Galileis überströmenden
Dankesworten für den Übersetzer empfinden, wie sehr ihn die Gabe
Berneggers beglückte.
In HoUand erschien dann auch in italienischer und lateinischer
Sprache seine größere Schrift über das Verhältnis der biblischen
Texte zur Erkenntnis der Xatur, besonders zur copernicanischen
Lehre. Es war eine Schrift von wesentlich ähnlichem Inhalt, wie der
— 186 —
Brief an Castelli. Galilei hatte sie schon im Jahre 1615 geschrieben,
aber damals und noch mehr nach dem Verbot aller Werke ähnlichen
Inhalts die VeröffentHchung bedenklich gefunden. Jetzt, nach seiner
vollständigen Verurteilung, nachdem ihm jede Art der Erörterung
über die verbotene Lehre feierlich untersagt war, jetzt hielt er die
Zeit für geeignet, auch dieses Buch in aller Welt verkünden zu lassen,
daß er in seinen Gesinnungen niemals einen Augenblick dem wahren
Glauben untreu geworden war.
Aber neben den alten Werken erscheint in jenen Tagen ein
neues, als ein wunderbares Zeugnis der außerordentlichen geistigen
Kraft, die Gahlei bis zu seiner Todesstunde erhalten blieb. In die
ersten Jahre seiner Gefangenschaft fällt die Ausführung seines zweiten
Hauptwerkes, der „Unterredungen über zwei neue Wissenschaften".
Sie enthalten den Inbegriff der Forschungen, die ihn seit jungen
Jahren fast ohne Unterbrechung beschäftigt hatten, seine Unter-
suchungen über die gesamte Bewegungslehre und über die Lehre
von der Festigkeit der Körper. In diesem Werke finden wir zum ersten
Mal in vollständiger Darstellung und Begründung die Entdeckungen,
durch die Galilei eine Wissenschaft der Mechanik geschaffen hat,
die Gesetze des freien Falls, des Falls auf schiefer Ebene, der Wurf-
bewegimg, die Pendelgesetze, den Satz vom Parallelogramm der
Bewegungen, kurz den Kern aUer neuen Bewegungslehre. Wenn ein
einzelnes Werk in solchem Sinne genannt werden kann, so gibt es
keines, dem nächst dem Buch des Copernicus ein größerer^ Anteil
an der völligen Erneuerung der Naturwissenschaft zukommt, als
diese Discorsi. Auf diesen Blättern war von Copernicus, war von
Weltsystemen nicht die Rede; es war, wenn man es oberflächlich
kennen lernte, ein rein geometrisches Buch. Hatten die frommen
Väter in Rom eine Ahnung von der gewaltigsten aller Revolutionen,
die aus dieser mathematischen Methode hervorwachsen sollte? Oder
w^ar es nichts weiter als der kleinlichste Haß, der sie beseelte, als sie,
mit der Erniedrigung des verm.eintlichen Feindes nicht zufrieden,
alles, was von ihm stammte, mit dem Bannspruch trafen, die un-
geborenen Schöpfungen seines Geistes nicht ausgenommen?
Dahin gingen in der Tat die Beschlüsse der römischen Inquisition.
Als Mcanzio in Venedig beim Vertreter der Inquisition Erkundigungen
einzog, ob einer Herausgabe der neuen Schrift kein Hindernis ent-
gegenstehe, wurde ihm ein Schriftstück mitgeteilt, das an alle In-
— 187 —
quisitoren sämtlicher katholischen Länder versandt war: es enthielt
das allerstrengste Verbot gegen alles, was von Galilei bereits gedruckt
sei oder noch etwa gedruckt werden sollte. Der Ingrimm in Micanzios
Briefen, als er von dieser „Barbarei" erfuhr, ist ein wahres Labsal
neben der allgemeinen Demut der übrigen Beteiligten, die sich v\ader-
standslos einer unwiderstehlichen Gewalt gegenübersehen. „Ich
weiß, was gegen die Tyrannei zu tun ist", schreibt er an Galilei;
aber die Kücksicht auf den gefangenen Freund lähmt seine Ent-
schlüsse; nur das eine steht ihm fest: der Wille der Barbaren muß
vereitelt werden. ,, Solche Werke untergehen lassen," ruft er aus,
„das tue ich nicht, und wenn die ganze Hölle wider mich wäre."
Durch Vermittlung Micanzios wurde nach vielen vergeblichen
Bemühungen und Verhandlungen wiederum der berühmte hollän-
dische Buchhändler Ludwig Elzevir für das Unternehmen gewonnen.
Zeitlebens hatte Galilei im frommen Eifer, als eine Gefahr für die
Kii'che, zu verhüten gesucht, daß die Wissenschaft gezwungen werde,
in den Ländern des neuen Glaubens ihre Zuflucht zu suchen. Jetzt
gab es für ihn selbst keinen Drucker mehr, als in Leyden und in
Amsterdam.
Als im Jahre 1638 das neue Werk in Holland erschien, war
Galilei in seinem 74. Jahr; noch war sein Geist in ruheloser Tätigkeit
mit neuen Werken beschäftigt; seine Briefe aus jenen Tagen machen
den Eindruck, als suche er den Überfluß immer neuer, ihm zu-
strömender Ideen und Entwürfe von sich abzuwehren; die Fülle der
Gedanken, sonst die Quelle seiner höchsten Genüsse, scheint ihm zur
Qual zu werden in einem Zustand mehr und mehr verfallender Körper-
kräfte. Nach längerem schmerzhaften Augenleiden hatte er im Laufe
des Jahres 1637 erst rechts das Augenlicht verloren und war dann
im selben Jahre vollständig erblindet. Auch in diesem hilfsbedürftigen
Zustand blieb er in der einsamen Villa in Arcetri; nur sein Sohn
Vincenzo und sein Schüler Viviani harrten, nun doppelt unentbehr-
lich, an seiner Seite aus.
Zu wiederholten Malen hatte Galilei in früheren Jahren sich mit
Gesuchen an die Gnade des Papstes gewandt, um für die Imrze Zeit,
die ihm zu leben blieb, den entlegenen Ort mit seiner Heimat Florenz
vertauschen zu dürfen; aber mit rohen Worten hatte man Galilei
damals die Wiederholung derartiger Gesuche untersagt und ihm
andernfalls die Einschließung in einem römischen Kerker angedroht.
— 188 —
So schwieg Galilei, aber seine Freunde, seine fürstlichen Gönner,
auswärtige Diplomaten erneuten trotz aller fehlgeschlagenen Be-
mühungen von Jahr zu Jahr ihre Versuche, für den Gefangenen von
seinem persönlichen Feind die Freiheit zu erbitten.
Erst im Jahre 1638 ließ man sich in Rom herbei, den Florentinier
Inquisitor mit näheren Erkundigungen zu beauftragen; insbesondere
wurde von ihm ein Gutachten darüber verlangt, ob, wenn man
Galilei einen zeitweiligen Aufenthalt in Florenz gewähre, nicht zu
befürchten sei, daß er in Zusammenkünften und Unterredungen
^^-iederum seine verurteilte Lehi'e von der Erdbewegung zu verbreiten
suchen werde. Der Inquisitor begab sich in Gesellschaft eines Arztes
nach Arcetri. Hier fanden sie Galilei unheilbar erblindet, von den
heftigsten Schmerzen und namentlich einer so anhaltenden Schlaf-
losigkeit gepeinigt, daß er nach Aussage seiner Hausgenossen von
24 Stunden nicht eine schlief, im ganzen in einem so elenden Zustand,
daß er mehr das Aussehen eines Leichnams hatte als eines Lebenden.
„Die ViUa", so fügt der Inquisitor in seinem Schreiben hinzu, „ist
weit von der Stadt entfernt und von allen bewohnten Gegenden so
abgelegen, daß er nur selten, mit Schwierigkeiten und vielen Kosten
sich den Besuch eines Arztes verschaffen kann." Der Inquisitor meint,
daß, wenn Seine Heiligkeit von ihrer unendlichen Huld gegen ihn
Gebrauch machen und ihm den Aufenthalt in Florenz gestatten
woUe, bei solchem Zustande von seinen Unterredungen nichts zu
befürchten sei; für alle Fälle werde eine gute Ermahnung genügen,
ihn in den nötigen Schranken zu halten.
Auf dieses Gutachten hin wurde Galilei für kurze Zeit der Aufent-
halt in Florenz gestattet; aber es wurde der Befehl hinzugefügt,
seine Wohnung nicht zu verlassen und bei Strafe der Exkommuni-
kation und lebenslänglicher Einkerkerung mit niemand, wer es
auch sei, über die verurteilte Lehre von der Erdbewegung
zu reden.
Läßt sich ein vollständigeres Bekenntnis der Ohnmacht, läßt
sich eine großartigere Huldigung der Gewalt dem Geist und der
Wissenschaft gegenüber denken, als dieser Befehl gegen den 74 jährigen,
blinden, gefangenen INIann, der mehr ein Leichnam als ein Lebender
nach Florenz getragen wd, um seinen Arzt aufzusuchen, als dieses
letzte Verbot bei allen Strafen des Diesseits und Jenseits, nicht von
der Bewegung der Erde zu reden? So war das Leben Galileis bis zu
— 189 —
seinem letzten Atemzuge ausgefüllt von dem großen Kampfe, zu dem
ihn in jungen Jahren der unsterbliche Meister begeistert hatte. Das
Auge, das die weiten Räume des Himmels durchmessen, an Sonne
und Mond, an Venus und Mars, an Jupiter und Saturn die ent-
scheidenden Beweise für den Copernicus verfolgt hatte — es war
erloschen; das hinreißende, beredte Wort, das alle Hörer bezwang,
alle Zweifelnden überzeugte und allen Widersachern wie Vernichtung
klang — es drang nicht mehr über die engen Räume hinaus, die der
Wille des mächtigen Feindes in Rom ihm zur Schranke gesetzt hatte;
und dennoch war noch jetzt der Gedanke, der das müde Gehirn
durchzuckte, der mögliche Gedanke und die Möglichkeit des Worts
der Schrecken derer, die beschlossen hatten, daß die Erde steht und
die Sonne sich bewegt!
So blieb ihm auch bis zum Tode die Freiheit versagt; nur wenige
Wochen blieb er in Florenz, um dann für immer in die Villa von
Ai'cetri zurückzukehren. Von seinem Gefängnis reden noch seine
letzten Briefe; als Gefangener der Inquisition ist er in Arcetri am
8. Januar 1642 gestorben.
Neuntes Kapitel.
Nach Galileis Tode.
Dem heiligen Tribunal, als dessen Gefangener Galilei gestorben
war, galt das Grab nicht als die Schranke seiner Macht; es instruierte
seinen Prozeß gegen den Toten, wenn nach dem Tode die Klage
erhoben wurde; es unterbrach sich nicht im heüigen Werk, wenn der
Tod den Angeklagten überraschte, ehe das Urteil gesprochen war;
an der Leiche, am Namen und Gedächtnis vollstreckte die Inquisition
den Spruch, den der Lebende durch ungesühnten Frevel verwirkt
hatte; aber sie hielt auch die rächende Hand über dem Grabe des
Mannes, der in Demut ihre Bußen auf sich genommen hatte.
Galilei hatte in seinem Testament bestimmt, daß seine Leiche
in dem Begräbnis seiner Vorfahren in der Kirche Sa. Croce beigesetzt
werde. Gegen die Ausführung dieser Bestimmung wurden unmittel-
bar nach seinem Tode von theologischer Seite Bedenken erhoben.
Man bestritt ihm als verurteiltem ,,HaeretLker" das Recht zu
testamentarischer Verfügung; man äußerte Zweifel gegen seinen
Anspruch auf ein kirchhches Begräbnis. Von Staats wegen veranlaßte
Gutachten wiesen die Berechtigung dieser Bedenken zurück, doch
wurde, wie es scheint, um höherer Entscheidung nicht vorzugreifen,
der Sarg zunächst zu vorläufiger Bewahrung in eine Seitenkapelle
von Sa. Croce gebracht.
Unter Galüeis Verehrern war inzwischen der Gedanke, ihm ein
würdiges Denkmal zu setzen, zur Sprache gekommen; kein Ort
schien dafür geeigneter als in derselben Hauptkirche die Stätte un-
mittelbar neben derjenigen, wo seit 80 Jahren die Gebeine des JVIichel-
angelü Buonarotti ruhten; in wenigen Tagen war durch Beiträge
der angesehensten Florentiner eine erhebhche Summe für die Er-
richtung eines marmornen Grabdenkmals an dieser Stelle gesichert.
— 191 —
Mit der j^achricht von Galileis Tode wurden auch diese Ab-
sichten und Vorbereitungen durch den Florentiner Inquisitor in Rom
zur Kenntnis gebracht.^ Gleichzeitig meldete der Nuntius: es heiße,
daß der Großherzog Galilei ein prächtiges Grabdenkmal neben dem
von Michelangelo Buonarotti errichten lassen wolle, und daß er be-
absichtige, der Academia della Crusca den Gedanken für die Auf-
schrift zu geben. 2
Papst Urban befahl, dem Inquisitor zu antworten: er möge in
geschickter Weise dem Großherzog zu Gehör bringen, daß es un-
ziemlich sei, einem Manne ein Denkmal zu errichten, dem im Tribunal
des heiligen Offiziums Bußen auferlegt seien, und der gestorben,
während diese Bußen noch in Kraft waren; es möchten andernfalls
die Guten ein Äi-gernis nehmen und auf die Frömmigkeit des Groß-
herzogs ein Tadel fallen. Dränge er damit nicht durch, so möchte
er darauf achten, daß zum mindesten in der Grabschrift keine Worte
Platz fänden, die den Ruf des heiligen Tribunals beeinträchtigen
könnten, und in demselben Sinne sollte er die Rede beim Begräbnis
überwachen.^
Zwei Tage darauf hatte der großherzogliche Gesandte eine
Audienz beim Papste. Urban stand damals im 74. Lebensjahr, Nicco-
lini schildert ihn als körperlich verfallen, das Haupt so eingesunken,
daß es mit den Schultern gleich zu liegen schien; aber seine Worte
atmeten den unversöhnlichen GroU gegen den Toten. Wie zufällig
lenkte er die Rede auf Galilei; im Vertrauen und nur gesprächsweise,
wie er sagte, nicht damit er darüber nach Florenz berichte, ließ er
^ Der Inhalt des Briefes ergibt sich aus dem Wortlaut der Antwort,
wie sie in der Sitzung der Generalkongregation vom 23. Januar 1642 beschlossen
wurde. Vergl. S. Gherardi, II processo Galileo, Firenze 1870 p. 36 (Ed. Naz.
XIX p. 390). Der erteilten Weisung gemäß schreibt am 25. Kardinal Bar-
berini an den Florentiner Inquisitor. Der Brief ist zuerst mitgeteilt von Arturo
Wolynski, Nuovi Documenti inediti del processo di Galileo Galüei, Firenze
1878 p. 29, aus diesem Buche abgedruckt in Edizione Nazionale XVIII p. 379
und neuerdings nach der im Archiv der Inquisition zu Florenz erhaltenen
Kopie bei Cioni a. a. 0. S. 61.
- Aus dem Vatikanischen Archiv mitgeteilt in A. Favaro, Nuovi Studi
Galileiani. Venezia 1891 p. 378 und in Ed. Naz. XVIII p. 378.
^ Vergl. Gherardi, II processo Galileo riveduto sopra documenti di
nuova fönte. Firenze 1870 p. 36 (Ed. Naz. XIX p. 290). Der am 23. Januar
erteilten Weisung gemäß schreibt am 25. Kardinal Barberini nach Florenz.
Vergl. Ed. Naz. XVHI p. 379 und Cioni a. a. O. S. 61.
— 192 -
den Gesandten wissen, was über die Absichten des Großherzogs
verlautete und wie er darüber denke. Noch einmal brach er in heftige
Worte aus gegen die falsche und irrige Meinung und gegen den Mann,
der sie gelehrt, nachdem sie verdanmit worden, auch in Florenz sie
vielen anderen beigebracht und damit der gesamten Christenheit ein
Ärgernis gegeben habe. „Und als er darauf kam", so berichtet Nicco-
lini, „von den einzelnen Behauptungen zu reden und von den Ant-
worten, die er selbst Galilei gegeben und wie dieser bekannt habe,
daß er eines Besseren belehrt sei, ging viele Zeit damit hin."
Xiccolini konnte keine Neigung empfinden, um des toten Mannes
viWlen das gute Verhältnis zu gefährden, das man auf Kosten von
Ehre und Würde erhalten hatte, solange Galilei lebte. Er riet, wenn
man wirklich beabsichtigt habe, was dem Papst zu Ohren gekommen,
die Ausführung auf eine andere Zeit zu vertagen, um sich nicht un-
angenehmen Folgen auszusetzen; habe doch Seine Heiligkeit nach
persönlicher Entschließung und ohne darüber mit dem Herzog zu
reden, den Leichnam der Gräfin Mathilde aus der Karthause von
Mantua entführen und nach St. Peter in Rom bringen lassen, unter
dem Vorwande, daß die Kirchen sämtlich des Papstes seien und daß,
die darin ruhen, nur die christliche Behörde angehen. ^
Es bedurfte kaum so nachdi-ücklicher Vorstellungen. Die An-
deutung, daß man sich Schwierigkeiten aussetzen dürfte, die Aus-
sicht auf „lange Verhandlungen, die zu nichts Gutem führen könnten",
genügten, um in Florenz den persönlichen Sympathien gegenüber
den Ausschlag zu geben. Von irgendwelchem Widerstände, wie ihn
selbst der Papst in der W^eisung an den Inquisitor als möglich voraus-
gesehen hatte, hat die Antwort des Staatssekretärs Gondi an den
Gesandten nichts zu melden. „Von dem Grabdenkmal für den ver-
storbenen Mathematiker Galilei", schreibt er, „ist allerdings auch
hier die Rede gewesen, aber nicht in einer Weise, als ob eine dahin-
gehende Entschließung des Großherzogs auch nur naheliege; auf jeden
Fall werden Eure Vorstellungen über den Gegenstand, den der Papst
mit so großem Zartgefühl berührt hat, uns zu gebührender Erwägung
die Veranlassung geben. "^
1 Ed. Naz. XVIII p. 378.
2 Brief des Staatssekretärs Gondi vom 29. Jan. 1642 (Ed. Naz. XVIII
p. 380). Niccolinis Bericht über seine weitere Unterredung mit dem Papst
vom 8. Febr. 1642 in Ed. Naz. XVIII p. 381.
— 193 —
Infolge dieser gebührenden Erwägung unterblieb nicht allein die
Errichtun<( des Denkmals; soweit wir unterrichtet sind, ist nichts
von aliedt'Mi, was zur Ehre des Toten zu geschehen pflegt, in jenen
Tagen für Galilei geschehen; von einer Überführung des Sarges in
die Faniiliengruft war nicht mehr die Rede; der abgelegene Glocken-
turm der Seitenkapelle von Sa. Croce, in den man ihn zu vorläufiger
Bestattung gebracht hatte, bewahrte fast ein volles Jahrhundert
hindurch die Überreste des großen Mannes. Und wie an dieser ab-
gelegenen Stätte viele Jahre hindurch kaum ein Zeichen des Danks
und der Verehrung sein Grab geschmückt hat, so blieb auch sein
Gedächtnis noch durch Generationen unter dem Banne des römischen
Richterspruches.
Es ist unerläßlich, um Galileis willen, um auch heute nur ihm selbst
gerecht zu werden, die Tatsache klarzustellen, daß an den verhängnis-
vollen Wirkungen dieses Richterspruchs in höherem Maße fast als
der Eifer und die Wachsamkeit der Inquisition und ihrer all-
verbreiteten Organe die unbegrenzte Gefügigkeit derjenigen beteiligt
ist, die berufen gewesen wären, der despotischen Gewalt gegenüber
das Recht und die Ehre der Wissenschaft zu vertreten. Unterliegt
es keinem Zweifel, daß eine so völlige Ertötung mannhafter Über-
zeugungstreue, wie sie die Geschichte der italienischen Wissenschaft
in dem Jahrhundert nach Galileis Tode bekundet, als die Frucht
eben jener entsittlichenden Gewaltherrschaft betrachtet werden muß,
der nach der Ausrottung aller haeretischen Bestrebungen im 16. Jahr-
hundert Italien unterlag, so bleibt darum nicht minder das Erstaunen
darüber gerechtfertigt, daß der Triumph der brutalen Gewalt ein so
vollständiger gewesen ist, daß es gelingen konnte, den natürlichen
Wahrheitstrieb, der Galilei in die Hände der Inquisition geführt hat,
in der Denkweise auch der besten seiner Nachfolger so weit zu be-
täuben, daß nach jenem ersten ein zweiter Inquisitionsprozeß gegen
einen Anhänger der copernicanischen Lehre nicht mehr nötig ge-
worden ist.
Mit dem Verzicht aber, den sich der großen wissenschaftlichen
Wahrheit gegenüber die namhaftesten Gelehrten Italiens auferlegten,
hing die Vernachlässigung zusammen, die in den nächsten Generationen
nach seinem Tode Galileis Andenken erfuhr. Nicht, daß es an den
Gesinnungen gefehlt hätte, an Liebe und Verehrung für den Meister,
an dem Verlangen, sie vor den Augen der Welt zu betätigen und an
Woblwill, GalUei. II. 13
— 194 —
dem heißen Grimm wider die feindlichen Mächte, die solcher Be-
tätigung zu wehren schienen. Aber Zorn und Verlangen waren ohn-
mächtig, weil es an der unbeugsamen Ki-aft des Willens fehlte, der
widerstehenden Mächten zum Trotz aus Empfindungen Taten reifen
läßt.
Die äußere Veranlassung, um Galileis willen und zugleich für die
Befreiung der Wissenschaft von den Fesseln der Dekrete in die
Schranken zu treten, bot sich bald genug.
Im Jahre 1651 erschien in Bologna das „Abnagestum novum"
des Jesuiten Johann Baptista Riccioli. Mit dem Namen Almagest
\Yurde bekanntUch seit der arabischen Periode der Wissenschaft das
große Werk bezeichnet, in dem der Alexandriner Claudius Ptolemäus
das astronomische Wissen des Altertums, mit den eigenen Forschungen
zusammengefaßt, der Nachwelt überliefert hat. In ähnhcher Weise
woUte Riccioli im ,,Almagestum novum" den Stand der Erkenntnis
und der Forschung in der Mitte des 17. Jahrhunderts für das eigene
Zeitalter zur Darstellung bringen. Dieser Absicht entspricht die
außerordenthche Reichhaltigkeit des Werks in seinen Ausführungen
über alle einzelnen Zweige der astronomischen Forschung, die Voll-
ständigkeit in der Zusanmienstellung der bekannten Beobachtungen,
Messungen und Berechnungen; doch fehlt dem „neuen Almagest",
was den alten vorzugsweise charakterisiert, die Einheit des Systems
in der Darstellung der Himmelserscheinungen; seine Vollständigkeit
erstreckt sich auf die Wiedergabe der streitenden Theorien in aller
Mannigfaltigkeit der Abstufungen, nicht etwa nur im allgemeinen
Überbhck, sondern in gesonderter Anwendung auf jede Gattung von
Himmelskörpern, ja bei Behandlung der planetarisch bewegten auf
jeden einzelnen Planeten und Nebenplaneten; für die Bew^egungen
eines jeden derselben finden sich neben den alten und neuen Deutungen,
bei denen die Erde als ruhend im Mittelpunkt der Welt gedacht wd,
in ausführlicher Ableitung die Theorien des Copernicus und seiner
Nachfolger; nur als eine Hypothese neben den übrigen, lernt der
Leser die eigene des Verfassers kennen, die von der des Tycho Brahe
nur bei den entfernteren Planeten abweicht. Riccioli läßt in diesen
Abschnitten gewissermaßen den Parteien selbst das Wort. Erst in
der folgenden Hauptabteilung des Werks, in der umfassenden Ab-
handlung „über das System der bewegten Erde" tritt in voller Klar-
heit hervor, was neben und über der wdssenschafthchen Neigung seina
— 195 -
Forschung leitet: es ist, wie er es unumwunden ausspricht, das Ver-
langen, in seiner Darstelhmg zugleich eine Apologie für die Ent-
scheidungen der Heil. Kongregation der Kardinäle zu geben. Auf
diesen Teil des „Almagestum novum" ist hier etwas näher einzugehen,
weil die Kritik der copernicanischeii Lehre, die er enthält, auf lange
Zeit hinaus für die Wißbegierigen Italiens die Hauptquelle, die einzige
frei zugängliche der Belehrung über das wahre Weltsystem geblieben
ist, weil dieselbe ge^\'issermaßen als offizielle Antwort auf Galileis
„Dialoge" betrachtet werden muß, vor allem aber, weil in dem Ver-
halten diesem Buche gegenüber sich am schärfsten Geist und
Charakter der italienischen jN'achfolger Galileis im 17. Jahrhundert
kennzeichnen.
Riccioli hat sich seine Aufgabe nicht leicht gemacht; vor allem
ist er bemüht, der copernicauischen Lehre gerecht zu werden. Er
spricht es offen aus, daß das Meiste, was man bis dahin gegen dieselbe
vorgebracht, aus Mißverständnis und unzureichender Kenntnis ihres
tiefen Gedankengangs hervorgegangen sei; von diesem Tadel nimmt
er weder Tycho Brahe, noch seine namhaften Ordensgenossen Clavius
und Scheiner aus^; er stellt dem Anscheine nach vollständig zusammen,
was zugunsten, was zur Widerlegung der Erdbewegung in alten, wie
in neuen Zeiten geltend gemacht worden ist, und findet auf selten
der Copernicaner nicht minder wie bei ihren Gegnern vielfach zu-
treffende Argumente und Entgegnungen.- Auch darin weicht er von
seinen Vorgängern ab, daß er in vielen Fällen, wo diese den Aristoteles
gegen die teuerer ausspielen, sich grundsätzlich auf den Boden der
^ Diese Beurteilung seiner Vorgänger könnte denjenigen seiner Ge-
sinnungsgenossen in neueren Zeiten zur Belehrung dienen, die den Kepler
und Galilei gegenüber ohne Wahl und Prüfung zahlreiche Namen als Ver-
treter der gegnerischen Ansicht zusammenstellen, um zu beweisen, daß unter
den ,, Sachverständigen" eine Mehrheit für Copernicus nicht vorhanden war.
^ Sehr oberflächlich wird Ricciolis Kritik der copernicanischen Lehre
in den meisten neueren Geschichtsdarstellungen durch die Angabe gekenn-
zeichnet, daß er 49 Gründe für und 77 wider die Bewegung der Erde anführe ;
dabei wird teils angedeutet, teils sogar ausgesprochen, daß es dies Übergewicht
der Zahl der widersprechenden Gründe sei, das ihn zur Entscheidung gegen
Copenücus und Galilei bestimme; ein Blick auf die kurze abschließende
Übersicht auf Fol. 478 des 2. Bandes genügt, um zu erkennen, daß Riccioli
von den 77 Gegengründen nur eine kleine Zahl als unwidersprechlich betrachtet
wissen will.
13*
— 196 —
gegnerischen Anschauungsweise stellt. Aber all dieses Entgegen-
kommen, alle Versöhnlichkeit in der Form erscheinen im weiteren
Zusammenhang seiner Erörterungen als nicht viel mehr als Aus-
stattung und Hilfsmittel des Angriffs und der Herausforderung. Die
Überlegenheit der von der Kirche gebilligten Wissenschaft, der Triumph
der heiligen Kongregationen ist um so größer, je achtungswerter in
Kicciolis Auffassung die bekämpfte Lehre sich darstellt, je bereit-
williger er dem Anscheine nach dem Gegner die Wahl des Stand-
punkts und der Waffen zugestanden hat; denn trotz aller Zugeständ-
nisse darf er zum Schlüsse als Ergebnis umfassendster Untersuchungen
zuversichtlich hinstellen, daß bei ausschließlicher Berücksichtigung
von Vernunftgründen und unter Beiseitelassung aller Autorität als
absolut wahr diejenige Hypothese angenommen werden muß, die die
Unbewegüchkeit oder Kühe der Erde voraussetzt- und als falsch und
physischen, ja selbst auch physikomathematischen Beweisen zu-
widerlaufend diejenige, welche der Erde entweder nur eine tägliche,
oder eine tägliche und eine jährliche Bewegung zuschreibt! Kepler
gegenüber, der die Meinung ausgesprochen hatte, daß von denjenigen,
die der copernicanischen Lehre beizustimmen Bedenken tragen, die
meisten dazu durch religiöse Gesinnung bewogen werden, hielt
Riccioli sich für berechtigt auszurufen: „billig ist es, daß in Zukunft
die Anhänger der copernicanischen Hypothese, wenn es deren geben
sollte, den Theologen und Dienern der Kirche ausreichende Kenntnis
zugestehen, um ein Urteil über diese Hypothesen abzugeben, und
anerkennen, daß die copernicanische Hypothese nicht aus zu großer
oder bloßer Ehrfurcht gegen die kirchlichen Dekrete oder die Heiligen
Schriften verworfen werde, sondern auch kraft tieferen EinbHcks in
beide Hypothesen und aus Gründen, die daraus in umsichtigster
Weise abgeleitet worden sind!"
Mehr noch als in dieser siegesgewissen Rede lag eine Aufforderung
zum Widerspruch für die Anhänger des Copernicus und vor aUem für
die Freunde und Verehrer Galileis in der Methode, den Hilfsmitteln
und hundert Einzelheiten der Beweisführung Ricciolis. Es ist bei
aller erschöpfenden Gelehrsamkeit das Verfahren nicht des hin-
gebenden oder auch nur des in einseitiger Auffassung befangenen
Forschers, sondern das des berechnenden Sach Verwalters, das uns
in dieser Beweisführung entgegentritt. Nur einzelnes kann zum Beleg
an dieser Stelle hervorgehoben werden.
— 197 —
Es ist zunächst ein scheinbar völlig unverdächtiges Mittel, dessen
sich Riccioli bedient, um ausgehend von den Gedanken und Be-
rechnungen, die in Kepler und Galilei den unerschütterlichen Glauben
an die Wahrheit der copernicanischen Lehre begründet hatten, zur
entgegengesetzten Ansicht zu gelangen, — es ist die Prüfung der
Beweisgründe auf ihre formell logische Berechtigung. Der Gewohn-
heit der alten Schule gemäß \\'urde zu diesem Zweck die Behauptung,
die als wissenschaftliche AVahrheit gelten wollte, in die Form eines
regelrechten dreigliedrigen Schlusses gebracht; sie galt als erwiesen,
wenn sowohl die beiden Vordersätze „terminus major" und „terminus
minor", wie die Ableitung des Schlusses aus denselben sich als
einwurfsfrei bewährten. Nach dieser Vorschrift hat Riccioli alles,
was irgend einmal für oder wider die Bewegung der Erde gesagt war,
mit Einschluß der eigenen Behauptungen, sorgsam formuliert und
dann Prämissen und Konklusion der Prüfung unterworfen. Xicht
weniger als 126 Behauptungen, 77 gegen und 49 für die Bewegung der
Erde hat er in solcher Weise zergliedert.
Das erste und wichtigste Ergebnis dieser umfassenden Unter-
suchung war die Erkenntnis, daß die astronomische Betrachtung
weder für noch gegen die Bewegung der Erde entscheidende Beweis-
gründe gewähren könne. Überzeugend war für die Copernicaner in
erster Linie cüe außerordentliche Einfachheit und Symmetrie der
Anordnung und der Bewegungen der Himmelskörper, die sich bei
Voraussetzung der zwiefachen Bewegung der Erde mit Notwendigkeit
ergab. Das mochte genügen, um den Glauben an die Wahrheit dieser
Voraussetzung zu begründen; für die Erkenntnis, die auf gesicherten
Schlüssen beruht, konnte die Folgerung nur dann als berechtigt
erscheinen, wenn zunächst der Vordersatz er^^^esen war, der ganz
allgemein behauptet: Einfachheit und Symmetrie der Anordnung,
die aus der Annahme einer Hypothese sich ergeben, sind untrügliche
Beweise für die Wahrheit dieser Hypothese. Es war nicht schwer,
einen solchen Satz zu bestreiten oder doch als unerwiesen erscheinen
zu lassen, der unzweifelhaft der beschränkten menschlichen Fassungs-
kraft den Maßstab für die Gedanken des Weltordners entnimmt.
Nicht besser gesichert erschien das Urteil, das aus der außerordent-
lichen Verwicklung des Mechanismus eines Weltsystems, zu dem die
astronomische Forschung gelangt, wenn sie die Erde im Mittelpunkt
des Weltalls ruhen läßt, den Grund entnimmt, diese Stellung der
— 198 —
Erde als unannehmbar zu betrachten. War aber dieses zugestanden,
so durfte die Einfachheit als Vorzug der einen, wie die Verwicklung
als Unzuträglichkeit der anderen Lehre als nichts beweisend un-
berücksichtigt bleiben, wo es sich um die Erörterung über wahr und
unwahr handelte. Die Methode der Untersuchung gewährte somit
das Mittel, für die Entscheidung dieser Hauptfrage alles das als
gleichgültig und wertlos erscheinen zu lassen, was zur Enthüllung
des großen Gedankens der Erdbewegung geführt und seine Annahme
den Astronomen unvermeidlich gemacht hatte.
Riccioli will andererseits nicht leugnen, daß die Deutungen der
copernicanischen Lehre den Himmelserscheinungen in voUem Maße
Genüge leisten, und wenn auch ihm selbst die Übereinstimmung der
ptolemäischen Astronomie mit der Sinneswahrnehmung als ein
wesenthcher Vorzug erscheint, so gesteht er doch dem Gegner die
Berechtigung zu, einer Schlußfolgerung zu widersprechen, die aus
dieser Übereinstimmung einen Beweis der Wahrheit entnehmen
möchte. Auch für eine Widerlegung der copernicanischen Lehre und
damit für eine ausreichende Lösung der Aufgabe, die buchstäbliche
Wahrheit der HeiHgen Schrift durch die Wissenschaft zu rechtfertigen,
war demnach die eigentlich astronomische Betrachtung nicht zu
verwerten.
Wie schon im Altertum Ptolemäus sich begnügt hatte, die An-
nahme einer Erdrotation dadurch zu beseitigen, daß er zeigte, wie
lächerhche und mdersinnige Konsequenzen sich daraus für die
Bewegungen der Vögel, der Wolken und anderer Körper an der
Oberfläche der Erde ergeben müßten, so glaubt auch Riccioli die
Entscheidung- darüber, ob die Erde sich bewegt, der Beobachtung
fallender und geworfener Körper entnehmen zu können. Der Gedanke
des Ptolemäus, die astronomische Lehre an ihren physikalischen
Konsequenzen zu prüfen, trifft nach seiner Ansicht das Richtige;
nur darauf scheint es ihm anzukomm.eu, auf Grund einer besseren
Bewegungslehre und genauerer Beobachtungen diesen Gedanken
durchzuführen.
Ähnliches hatte — wie wir wissen — Galilei zugunsten der
copernicanischen Lehre in seiner Theorie der Meeresflut versucht.
Riccioli hat diese Achillesferse der Galileischen Beweisführung sich
nicht entgehen lassen; das längste Kapitel seines Buches ist der Flut-
lehre der „Dialoge" gewidmet; wie eine Blase oder der leichteste
— 199 —
Schaum des Meeres, meint er triumphierend, müsse für diejenigen,
der dies Kapitel liest, Galileis Lehre zergehen. Nicht einer besseren
Bewegungslehre oder überhaupt nur besonderen Scharfsinns hat er
für diese Widerlegung bedurft; es genügt ihm, durch eine vollständige
Zusammenstellung der Beobachtungen von den Tagen der Phönizier
bis in die allerneueste Zeit den Beweis zu führen, daß die Erscheinungen,
wie sie an den Meeresküsten aller Erdteile wahrgenommen werden,
wesentlich andere sind, als diejenigen, die Galileis Theorie verlangt.
So kann er dem kühnen Schlüsse von der Tatsache der Fluten-
erscheinungen auf die zwiefache Bewegung der Erde, die zu ihrer
Erklärung ausreicht und ohne die sie unerklärlich bleibt, die
nüchterne Überlegung entgegenstellen: wenn die Erde sich bewegte
und durch ihre Bewegung die Flut des Meeres so bewirkte, wie Galileis
Erklärung es angibt, so würde die Flut des Meeres eine andere sein,
als sie in Wirklichkeit ist, folglich ist entweder die Erde ohne Bewegung,
oder sie ist durch ihre Bewegung nicht die Ursache der Meeresflut
in derjenigen Weise, wie Galilei es erklärt. Daß in Wahrheit, auch
wenn die Erde sich bewegte, eine Bewegung der größeren Wasser-
massen, wie Galilei sie ableitete, keineswegs stattfinden müsse, hat
Kiccioli in einigen kurzen Bemerkungen angedeutet; doch scheint
weder er noch sein Ordensbruder und Mitarbeiter, der in anderen
Beziehungen als Forscher hochverdiente P. Francesco Maria Grimaldi
den eigenthchen Ursprung des Irrtums begriffen zu haben.
Auf nahe verwandte, aber ungleich schwerere Irrtümer müssen
die experimentellen Beweise zurückgeführt werden, durch die Eiccioli
und Grimaldi die Bewegung der Erde widerlegen zu können meinten.
Darf man bei Galileis Flutlehre von einer Inkonsequenz reden, so
bekundet sich in den „physikomathematischen" Beweisen der beiden
gelehrten Jesuiten ein völliges Mißverstehen der Galileischen
Fundamentalsätze, insbesondere seiner Erklärung der Tatsache,
daß durch das Hinzukommen der gleichförmigen Kreisbewegung
der Erde zu den Einzelbewegungen irdischer Körper die letzteren
zwar — absolut betrachtet — andere werden, für die Wahr-
nehmung jedoch nicht anders erscheinen, als wenn die Erde ruht.
Kiccioli begreift nicht, was Galilei an unzähligen Beispielen dargetan,
daß für die Wahrnehmung, wie für jede Wirkung nur derjenige Teil
der Bewegung vorhanden ist, an dem das wahrnehmende Auge oder
der Gegenstand, auf den eine Einwirkung stattfindet, keinen Anteil
— 200 —
hat; nach Gahleis Vorgang konstruiert er die Bahn eines Körpers,
der im Fallen zugleich die Kreisbewegung der Erde teilt, nimmt dann
aber an, daß die Wirkungen des fallenden Körpers durch die Eigen-
schaft der durch Konstruktion bestimmten gemischten (absoluten)
Bewegung bedingt seien ; da in dieser nach Galileis — halb scherzhafter
— Ableitung die Ungieichförmigkeit und Beschleunigung der ein-
fachen Fallbewegung verschwindet, meint Eiccioli bei Voraussetzung
der Bewegung der Erde auch an den Wirloingen des fallenden Körpers
erkennen zu müssen, daß er mit nahezu beständiger Geschwindig-
keit zur Erde gelangt; mm wächst aber mit der Annäherung an
die Erde, wie die zunehmende Stoßwirkung erkennen läßt, die
Geschwindigkeit des fallenden Körpers; es kann deshalb der senk-
rechten Fallbewegung keine Kreisbewegung beigemischt sein, und
dadurch ist erwiesen, daß die Erde ruht.
Abweichend von Tycho Brahe nimmt Eiccioli mit Galilei an,
daß in der Richtung des Meridians geschossene Kanonenkugeln auch
auf rotierender Erde ihr Ziel erreichen, weil ihnen auch neben der
Sonderbewegung der Anteil an der Erdbewegung verbleiben würde,
aber unklar tiber Sinn und I^atur dieser Zusammensetzung zur ab-
soluten, auf den Weltraum bezogenen Bewegung, meint er, die Wirkung
des Schusses müsse um so schwächer sein, je ferner den Polen, je
näher dem Äquator geschossen werde, weil mit der dadurch bedingten
stärkeren Beimischung der Ki-eisbewegung auch die Richtung, in der
die Kugel eine durch das Ziel gelegte vertikale Ebene trifft, mehr
und mehr vom rechten Winkel abweicht, mit dem Wachsen dieser
Abweichung aber die Kraft des Stoßes in entsprechender Weise sich
mindern müsse; da nun Unterschiede in der Wirkimg der Kanonen-
schüsse, die dem Abstand vom Äquator entsprechen, niemals beob-
achtet worden, muß eine Beimischung der Kreisbewegung als aus-
geschlossen, die Erde als ruhend angesehen werden.
Eine Reihe weiterer Beweise Ricciolis gegen die Bewegung der
Erde ist auf das gleiche Mißverständnis zurückzuführen. Der Fehl-
griff in allen diesen Betrachtungen, auf die Riccioli den höchsten Wert
legt, verdeutMcht, wie schwer es den Zeitgenossen fiel, sich den
Gedankengang der Galilei sehen Lehre zu eigen zu machen.
Aber der Verteidiger der heiligen Kongregation hat offenbar das
Bedürfnis empfunden, diesen Früchten seiner gelehrten Ai'beit, die
dem Laien unzugänglich bheben, Gegengründe für Jedermanns Ge-
— 201 —
brauch hinzuzufügen, Beweise, die man vielleicht — wie er selbst
das angedeutet hat — als Grundlage jenes Urteils der theologischen
Konsultoren betrachten dürfte, das die copernicanische Lehre als
„töricht" und absurd in der Philosophie verwirft.
Bei dieser volkstümlichen Aufgabe kam es denn freilich weniger
darauf an, die notwendigen Voraussetzungen der Gegner, dieselben,
die in den physikomathematischen Beweisen bereitwillig zugrunde
gelegt werden, als berechtigt anzuerkennen, und ebensowenig scheint
es Riccioli beunruhigt zu haben, daß er auf diesem Wege mit seiner
eigenen Wissenschaft in groben Widerspruch gerät. Nichts Geringeres
erstrebt er in der hier berührten Gattung von Beweisen, die sich in
allen Abschnitten des Buches über das System der bewegten Erde
eingestreut finden, als dem unmittelbaren Zeugnis der Sinne das
Vorrecht zu sichern gegenüber den möglichen Deutungen und mathe-
matischen Betrachtungen. Um sie zu kennzeichnen, genügt zu er-
Wtähnen, daß Riccioli mit allem Nachdnick in der Weise des Aristoteles
gegen die Bewegung der Erde die Tatsache verwertet, daß wir die
Körper aller Orten in senkrechter Richtung zur Erdoberfläche fallen
sehen.
Nirgends war die Antwort Galileis klarer. Wer seiner Belehrung
gegenüber noch eine Antwort für möglich hielt, mußte vor allem
nicht minder klar und bestimmt bezeichnen, welche Abweichung in
der Bewegung des fallenden Körpers er auf bewegter Erde zu sehen
erwartet. Riccioli schweigt darüber; er ist in der Tat um der Kon-
sequenz willen außerstande, wie seine Vorgänger ein Zurückbleiben
des fallenden Körpers nach Westen zu erwarten; er deutet nicht an,
daß er — Borelli und Newton voraus — an ein Vorauseilen nach
Osten gedacht hat, er wagt auch nicht zu behaupten, daß, wenn die
Erde in Wahrheit sich bewegte, man etwa die Bewegung des fallen-
den Körpers in derjenigen Ivrummen Linie erfolgend sehen würde,
die aus der Zusammensetzung des senla-echten Falls mit der Kreis-
bewegung der Erde resultiert; kurz, er sagt und glaubt nicht, daß
für ein menschliches Auge die Erscheinung des freien Falls auf der
bewegten Erde in irgendwelcher Beziehung sich von derjenigen auf
der ruhenden unterscheiden würde; aber indem er in langer Aus-
führung mit Exkursen ins Gebiet der Logik, Metaphysik und Theologie
als einen Widersinn ohne Gleichen, als eine Verleugnung der gewissesten
Wirklichkeit die Behauptung geißelt, daß die Körper nicht in senk-
— 202 —
rechter Linie fallen, läßt er den Leser glauben, daß eben dies von den
Copernicanern behauptet würde, daß sie vorgeben, mit sehenden Augen
statt der Senkrechten eben jene Kurve bei jedem fallenden Körper
zu erblicken, und dieser vermeintlichen Verblendung gegenüber ruft
er pathetisch aus: wenn es für den Sinn nicht evident ist, daß die
schweren Körper in geraden Linien fallen, dann ist ihm nichts mehr
evident, und nichtig ist dann alle Wissenschaft der Natur.
Es würde nicht schwer sein, wie in dieser Verteidigungsrede für
das älteste und bequemste Argument gegen die Bewegung der Erde,
so in vielen anderen Teilen des Buches schlechthin sophistische
Deduktionen nachzuweisen, die mit ehrlicher, wissenschaftlicher
Überzeugung nichts gemein haben und denen gegenüber deshalb auch
die Wissenschaft auf Widerlegung verzichten durfte, aber auch der
überzeugte Copernicaner konnte nicht glauben, daß um derartiger
Bestandteile v^illen dem „Almagestum novum" gegenüber gering-
schätziges Schweigen die gebührende Antwort gewesen wäre. Ricciohs
Buch bot sich dar als der Inbegriff der zeitgenössischen Wissenschaft
auch in betreff der Erkenntnis über das w^ahre Weltsystem; wenn
man in Abrede stellen konnte, daß sein Inhalt diesem Anspruch
genügte, so Heß sich doch nicht verkennen, daß seine Verteidigung
der alten Weltanschauung, unvergleichbar mit allem, was bis dahin
die Anhänger der Schulphilosophie in gleicher Absicht geleistet, auf
voller Kenntnis der gegnerischen Lehre und ihrer Vorzüge beruhte,
seine Beurteilung vieKach wldiche Mängel traf, seinen Einwendungen
in nicht wenigen Punkten die Berechtigung nicht zu bestreiten war.
Hatte Riccioli von den Argumenten, die bis in die Mitte des
17. Jahrhunderts von den Anhängern der Erdbewegung zur Sprache
gebracht waren, kaum irgendeins unberücksichtigt gelassen, so
richtete sich naturgemäß sein Hauptangriff gegen Galüei und dessen
„Dialoge". Es ^\ird nicht leicht eine lehrende oder ki-itische Be-
trachtung, ein sinnreicher Vergleich, geschweige eine Ungenauigkeit
oder eine irrtümliche Vorstellung dieses Buches nachzuweisen sein,
die er nicht zum Gegenstand der Erörterung gemacht hätte, häufig
genug einer recht 'widersinnigen Erörterung, weil es ihm ersichtlich
mehr darauf ankam, möghchst zahkeiche Sätze ihrem Wortlaute
nach anfechtbar als im Zusammenhang der Darstellung und der
Absicht des Verfassers gemäß verständlich erscheinen zu lassen.
Aber so zahkeich und mannigfaltig dabei die Mißdeutungen und
— 203 —
Mißverständnisse unterlaufen, so blieben doch auch Galilei gegenüber
für den unbefangenen Leser der teilweise oder durchaus berechtigten
Entgegnungen nicht wenige, vor allem waren gegen den einzigen
Beweis für die zwiefache Bewegung der Erde, der diese Bewegung
in ihren Wirkungen für die unmittelbare Wahrnehmung veranschau-
licht erscheinen üeß, die ernstesten Bedenken erhoben; der erneuten
Prüfung mindestens und der klaren Darlegung bedurfte es, was für
die Haltbarkeit des ganzen Baus die Ausschaltung dieses wichtigen
Teils bedeutete.
Zu den Fragen und Aufgaben, die in solcher Weise Eicciolis
Buch den copernicanisch denkenden Zeitgenossen und vor allen den
Anhängern Galileis stellte, kam für die letzteren der persönliche
Angriff gegen den toten Meister. Bei aller Mäßigung in der Bekämpfung
der gegnerischen Ansicht trägt Riccioli doch kein Bedenken, überall
da, wo er die eigenen Beobachtungen oder die tatsächlichen Wahr-
nehmungen anderer von denjenigen abweichen sieht, auf die Galilei
seine Behauptungen begründet, ihm Unehrlichkeit in klaren Ausdrücken
vorzuwerfen.
Schlimmeres noch forderte der Plan seines Werkes. Den physi-
kalisch-astronomischen Abschnitten des Buchs über die Bewegung
der Erde schließt Riccioli den theologischen an. Der vollständigen
Zusammenstellung der Bibelstellen, die auf die Bewegung der Sonne
und die Ruhe der Erde Bezug haben oder möglicherweise zu beziehen
sind, läßt er die Deutungen der Laien und der Männer der Kii'che
folgen ; den Abschluß bilden die Dekrete der römischen Kongregationen
aus den Jahren 1616 und 1620; diesen folgt in lateinischer Übersetzung
der vollständige Text des Urteils gegen Galilei und der Abschwörungs-
formel. So erschienen die demütigenden Worte, in denen der unglück-
liche Mann der Lehre von der Erdbewegung entsagt, gewissermaßen
als die letzten, die in dieser Angelegenheit zu reden waren.
Den Zeitgenossen bedeutete diese Veröffentlichung eine nach-
drucksvoUe Erneuerung des Andenkens an die Schmach, die die
römische Inquisition Galilei angetan. Wohl war es der Zeit nach
nicht die erste. Eine französische Übersetzung der Sentenz und der
Abschwörungsformel hatte Mersemie schon im Jahre 1635 drucken
lassen, eine Wiedergabe des italienischen Originals war in dem „Anti-
copernicus catholicus" des Venetianers Polacco im Jahre 1644 er-
schienen. Beide Schriften hatten um ihres anderweitigen Inhalts
— 204 —
vrillen geringe Verbreitung gefunden. Erst durch das „Almagestura
no\aim" ist daher die Geschichte des GaUleischen Prozesses nach
der römischen DarsteUung, die Motivierung und der ausführÜche
Wortlaut der Sentenz allgemein zugänglich und bekannt geworden.
In den weitesten Kreisen las man jetzt zum ersten Male, daß Galilei
von dem starken Verdacht der Ketzerei sich nur durch die feierliche
Verleugnung und Verwünschung seines Glaubens gereinigt hatte.
Man begreift, daß vor allem gegen diesen Teil des Werkes von Riccioli
sich der Unwillen und die Entrüstung der Nächstbeteihgten richtete.
Nicht ohne tiefe Erregung konnte Großherzog Ferdinand in den
Ausführungen der Sentenz das Gedächtnis der eigenen Demütigung
erneuert sehen, ^ Aufs peinlichste ergriff die Veröffentlichung den-
jenigen, der vor allem sich berufen glaubte, das Andenken Galileis
zu schützen : seinen letzten Schüler, Vinzenzio Viviani. Noch 16 Jahre
später, als ihm aus Bologna Eicciolis Tod gemeldet wurde, sprach
er sich in bitteren Worten über dessen Verfahren gegen Galilei aus:
der Abdruck der Sentenz, meinte Viviani, habe be^^iesen, daß die
Abneigung des elirwürdigen Herrn mehr dem Manne als seinen Be-
hauptungen gegolten habe.^
In gleicher Gesinnung erwiderte der Mathematiker Montanari,
an den diese Worte gerichtet waren : ,,Owie oft habe ich mitingiimm
daran gedacht, wie schlecht der Pater Galilei behandelt hat, ja bis-
weilen hat mich darüber die Laune angewandelt, seine Verteidigung
zu übernehmen und ihm eine Apologie zu schreiben. "^ Es- ist das
einzige Mal, daß in den bisher zugänglichen Handschriften auch nur
als einer Laune einer solchen Absicht gedacht wird. Montanari fügt
hinzu, was nicht für ihn allein entscheidend war, um den aufsteigenden
Gedanken zu verbannen: „Aber diese Sekte ist allzumächtig!" So
hatte es bei ihm wie bei den übrigen bei dem schmerzlichen Empfinden,
den bitteren Worten gegen den Jesuiten von Bologna und bei dem
Einfall, daß man wohl gegen ihn schreiben könnte, sein Bewenden.
Es fand sich niemand unter den itaUenischen Gelehrten, der der
^ Nach Vivianis Erzählung in dem in der nächstfolgenden Note zitierten
Briefe.
2 Brief Vivianis an Geminiano Montanari vom 26. Sept. 1671, mit-
geteilt in A. Favaro Miscellanea Galileiana inedita. Venezia 1887 p. 111.
^ Brief Montanaris an Viviani vom 29. Sept. 1671 bei Favaro a. a. O.
p. 127.
— 205 —
„mächtigen Sekte" zum Trotz gewagt hätte, durch eine Darlegung
der guten Gründe für die Annahme einer Bewegung der Erde zugleich
den Richtern der Inquisition und ihrem Verteidiger die gebührende
Antwort zu erteilen.
Auch eine eingehende Würdigung oder Widerlegung der Angriffe
Ricciolis in den Grenzen wissenschaftlicher Erörterung ist weder
damals noch später von Anhängern des Copernicus gegeben oder
versucht worden. Daß es dafür in Itahen auch in jenen Tagen nicht
an den geeigneten Persönlichkeiten fehlte, ist zur Genüge der kurzen
und treffenden Abwehr zu entnehmen, die zwei italienische Gelehrte
gegen einen Teil der gegnerischen Beweisführung gerichtet haben.
Nachdem 14 Jahre hindurch die Herausforderung des „Alma-
gestum novum" dem Anscheine nach unbeachtet gebheben war,
wiederholte Riccioli dieselbe in seiner 1665 erschienenen ,,Astronomia
reformata". In einer kürzeren Besprechung der copernicanischen
Lehre hebt er hier aus dem umfassenden Rüstzeug des älteren Werks
neben den theologischen nur das bereits erwähnte physikomathe-
matische Argument als unwiderlegliches Zeugnis gegen die Bewegung
der Erde hervor. Dabei verhehlt er nicht, daß selbst im Kreise seiner
liebsten Freunde und bei Männern, die ,,die Heihge Autorität ver-
ehrend die copernicanische Hypothese absolut verwerfen", dieses
Argument zu lebhaften Einwendungen Veranlassung gegeben habe.
Um der Freunde willen verwendet er um so größere Mühe auf eine
erweiterte und verbesserte Begründung. Gegen eben diesen Beweis
haben dann in der Öffentlichkeit Johann Alfonso Borelli und Fra
Stefano degli Angeli Einspruch erhoben.
Borelli war derjenige unter den Nachfolgern GaHleis, der am ent-
schiedensten auch in dem Anteil an den großen Fragen der Astronomie
und der Weltanschauung dem Meister sich anschloß. In Briefen an
Mitglieder der Academie del Cimento, zu deren hervorragendsten
Genossen er gehörte, sehen wir ihn mit Neid nach Frankreich bhcken,
w^o in den Zusammenkünften der Gelehrten und selbst in Jesuiten-
ki'eisen die copernicanische Lehre frei erörtert wird, und keiner Be-
denken trägt, ihr zuzustimmen. Borelli äußert den Wunsch, daß
durch Veröffenthchung von Berichten, die darauf Bezug nehmen,
den Italienern zum Bewußtsein gebracht werde, wie ungleich größerer
Freiheit der Erörterung die Wissenschaft sich außerhalb ihres Landes
erfreue. Auf diese Weise, hofft er, werde man dazu gelangen, die
— 206 —
verhängnisvolle Sentenz gewissermaßen „umgänglicher, zahmer und
weniger furchtbar" zu machen.^
Aber über die Wünsche ging auch Borelli nicht hinaus. In seiner
Schrift über die Mediceischen Planeten, die ein Jahr nach Ricciolis
zweitem Werk erschien^, bringt er über die Ursache der Bewegung
der Planeten um die Sonne Vorstellungen zur Sprache, die noch heute
unter den Vorläufern des Newton sehen Gravitationsgedankens er-
wähnt werden müssen, aber in dieser Schrift, die ihrem wesentlichen
Inhalte nach das hehozentrische System als Wahrheit voraussetzt,
ist in den Worten jede Bezugnahme auf die Bewegung der Erde
vermieden.
Als BoreUi mit der Abfassung seines Buches beschäftigt war,
kam ihm der Gedanke, anhangsweise Galileis Ansicht über die Ent-
stehung der Flut zu verteidigen, da will er zeigen, wie die Flut der
Jupitersgewässer, wenn's deren gäbe, der regelmäßigen Periode der
Trabanten folgen müßte, ganz so, wie die Flut der Erde unserm
Monde folgt. Aber wie er dem Gedanken nachgeht, hält es ihn zurück;
er hat vor kurzem die „physischen Dialoge" des P. Fabri über die
Bewegung der Erde kennen gelernt; die argwöhnische Art der Leute
dieses Schlages macht ihn ängsthch; „ich weiß nicht", schreibt er,
„wde ich mich entschheßen soll". Wer ihn so schwanken und fürchten
sieht, weiß das Ende der Erwägung im voraus. Der Anhang Avm'de
nicht geschrieben.
Weniger bedenklich erschien es Borelli, sich über die Bew^eiski'aft
des physikomathematischen Arguments des P. Riccioli in der Öffent-
lichkeit auszusprechen. In seiner 1667 erschienenen Schrift „über die
Kraft des Stoßes" erörtert er ganz allgemein die Stoßwirkung eines
fallenden Körpers, der, während er fällt, zugleich an der seitwärts
gerichteten Bewegung der unter ihm befindlichen Ebene teilnimmt;
er zeigt, daß die Kraft des Stoßes bei dieser Art der Bewegung nicht
durch die Richtung und Geschwindigkeit der resultierenden gemischten
Bewegung bestinmit wird, sondern nur durch die Geschwindigkeit,
die der Körper vermöge des senkrechten FaUs erlangt. Die gleiche
Betrachtung überträgt er dann auf das Problem einer gemischten
1 Fabbrioni, lettere inedite di uomini illustri I p. 124, Brief vom
20. Februar 1665.
^ J. A. BoreUii Theoricae Mediceorum planetarum ex causis physicis
deductae Florentiae 1666.
— 207 —
Bewegimg, die dadurch entsteht, daß der Körper in der Richtung
des Radius einer sich drehenden Kugel mit gleichförmig beschleunigter
Bewegung fällt und zugleich an der gleichförmigen Drehungsbewegung
des Radius teilnimmt. An das Ergebnis, daß auch hier die Kraft des
Stoßes auf die mitbewegte Unterlage ausschheßhch von der gleich-
förmig beschleunigten Bewegung in der Richtung des Radius abhängt,
knüpft Borelli die Bemerkung: es sei daraus mit Leichtigkeit die
Widerlegung des Arguments zu entnehmen, das man unter dem
^amen einer physikomathematischen Beweisführung und Evidenz
vor kurzem veröffentlicht habe.
Charakteristisch für den Verfasser und das Zeitalter, in dem er
sehreibt, ist, daß in diesem Zusammenhang die Lehre, auf die sich
das physikomathematische Ai'gument bezieht, nur durch eine Um-
schreibung angedeutet vriid. Ms den Zweck des Arguments bezeichnet
Borelli wörtlich: zu entscheiden, ob die gleichförmig beschleunigte
Bewegung eines Körpers in der Richtung zum Zentnmi eines Kreises
eine einfache sei oder ob ihr eine gleichförmige Kreisbewegimg in der
Peripherie desselben Kreises beigemischt sei. Ohne Riccioh und sein
Buch zu nennen, ohne in der längeren Auseinandersetzung auch nur
ein einziges Mal der Erde und damit des eigenthchen Gegenstandes
seiner Beweisfühnmg ausdrückhch zu gedenken, zeigt er, daß die
gesuchte Entscheidung durch die Beobachtung der Stoßwh'kung nicht
zu gewinnen sei, weil diese die gleiche bleibe, möge nun die Bewegung
die des einfachen freien Falls oder eine in der angedeuteten Weise
gemischte sein.
Wenn bei diesem durchsichtigen Versteckenspiel die Absicht
zugrunde lag, den falschen Beweis für jeden Sachverstäncügen in
aller Schärfe zu widerlegen, ohne „den argwöhnischen Leuten""
Angriffspunkte für den Verdacht zu geben, so hat Borelli dieser Ab-
sicht aufs vollständigste entsprochen. Wer in jener Zeit sein Buch
„über die Kraft des Stoßes" las, verstand, daß Borelli einen ver-
meintlichen Beweis gegen die copernicanische Lehre als absurd er-
kennen ließ; daß er das erkennen ließ, ohne es auszusprechen, zeigte,
daß er keineswegs gewillt war, den Fehdehandschuh aufzunehmen,
den der Vorkämpfer der römischen Dekrete den Copernicanern hin-
geworfen hatte.
Eine ähnliche Denkweise äußert sich in etwas anderer Art in
der Schrift, die gleichfalls im Jahre 1667 der Paduaner Mathematiker
— 208 —
Fra Stefano degli Angeli gegen Riccioli richtete.^ Allerdings deutet
schon der Titel „Betrachtungen über die Kraft einiger von dem
P. Giambattista Riccioli angeführten physikomathematischen Beweis-
gründe gegen das copernicanische System" auf eine eigentliche Streit-
schrift; es war kein Zufall, daß eine solche, während das übrige
Italien zu verstummen schien, gerade aus Venedig kam. Im übrigen
ging der Gebrauch, den der Bruder Stefano degli Angeli von der
größeren Freiheit des republikanischen Staatswesens gemacht hat,
über die Grenzen der schuldigen Ehrfurcht gegen kirchliche Verbote
nicht hinaus. Er glaubt, eine Behauptung, die auf Sätze der Bewegungs-
lehre begründet war, als irrtümlich abgeleitet erweisen zu dürfen,
ohne dem Verdachte ausgesetzt zu sein, daß er auf dieses Ergebnis
aus unerlaubten Gründen Wert lege. Nichts anderes bestimmt ihn,
Riccioli entgegenzutreten, als das Bedürfnis, zu zeigen, daß, wenn
er die Unbewegtheit der Erde verteidigt, dies nicht aus Blindheit
und Unmssenheit geschehe. Auch konnten die Haeretiker auf den
Gedanken kommen, daß die Heilige Kongregation, wenn sie die Lehi-e
von der Erdbewegung als falsch und absurd in der Philosophie be-
zeichnet habe, dabei von den Beweisgründen des P. Riccioli geleitet
gewesen sei; da diese Beweisgründe unzureichend und schwach seien,
komme es darauf an, mit offenem Visier und freier Stirn zu zeigen,
daß sie als solche von den Italienern erkannt seien.
Es ist die Redeweise, deren Galilei sich bei ähnlicher Veranlassung
bedient hatte, die auch hier den Überzeugten und doch zu bedingungs-
loser Unterwerfung entschlossenen Copernicaner verrät. Zum Über-
flusse wiederholt der P. Stefano degli Angeli am Schlüsse seiner
Widerlegung: er möchte nicht, daß um dieses Widerspruchs willen
die Meinung, daß die Erde sich bewege, seinen Lesern in besserem
Licht erschiene ; denn diese Meinung sei falsch und irrtümlich und
mit Recht von der Heiligen Mutter Kirche verdammt worden. „Und
wenn die hier besprochenen Gründe", fügt er hinzu, „als ausreichend
nicht betrachtet werden können, so gibt es deren andere, die in vollem
Maße wirksam sind"; daß diese anderen Gründe ausschließlich oder
^ Montanari behauptet in dem bereits zitierten Brief an Viviani, er
habe als erster im gleichen Sinne gegen Riccioli geschrieben, und sein Manu-
skript habe dem P. Stefano die Anregung gegeben, seine ,, Betrachtungen"
zu veröffentlichen. In der Tat sind in dieser Schrift Montanaris Ansichten
erwähnt.
— 209 —
wesentlich theologischer Natur seien, deutet P. Stefano an, doch
scheint er Wert darauf zu legen, es nicht ausdrücklich zu sagen.
Seine Schrift gab die Veranlassung zu einer Erwiderung, die im
Namen des P. Riccioli dessen jüngerer Freund Michele Manfredi
veröffenthchte, Riccioli beharrte bei seiner Meinung, ja in einem
Nachwort erhebt er weitergehend unverhohlenen Widerspruch gegen
die ersten Grundsätze der Galilei sehen Bewegungslehre, die er bis
dahin zugestanden habe, um selbst unter Anerkennung der gegne-
rischen Anschauungsweise deren vermeintliche Konsequenzen zu
widerlegen.
Eine zweite Entgegnung des Paduaner Gelehrten folgte, weitere
Gegenschriften von beiden Seiten schlössen sich an. An eine Erörterung
über die Hauptfrage knüpfte sich eine weitere, scheinbar rein mathe-
matischen Iiilialts, z\vischen den beiden Gegnern Ricciolis, Borelli
und degli Angeli. Der Streit der beiden Gelehrten bezog sich auf die
Form der krummlinigen Bahn, die ein fallender Körper im Weltraum
beschreiben würde, wenn er zugleich an der Rotationsbewegung der
Erde teilnimmt. Schärfer als der Paduaner in die Konsequenzen des
Gahlei sehen Beharrungsgesetzes eindringend erkannte und ver-
teidigte BoreUi, daß die gesuchte Form nicht die einer Aj'chimedischen
Spirale sein könnte, weil der aus der Höhe konmiende Körper auch
im Fallen die größere Geschwindigkeit des Kreises, dem er ursprüng-
lich angehörte, beibehält. Borelli übersah nicht, daß die gleiche Er-
wägung einen bestinmiten Unterschied für den Fall auf ruhender
und bewegter Erde ergibt; er folgerte, daß, wenn der fallende Körper
mit der Erde rotiert, er vorauseilend von der Senkrechten abweichen
muß. So weisen diese vorsichtigen, den Glauben an die Wahrheit
der Erdbewegung ausdrückhch verleugnenden Betrachtungen aufs
bestinmiteste auf die Wirkungen hin, durch die in späterer Zeit zuerst
die Rotation der Erde auch für den Augenschein wahrnehmbar
gemacht w^orden ist.
Nichts deutet freilich an, daß Borelli selbst daran gedacht hätte,
seine Folgerung zugunsten der copernicanischen Lehre zu verwerten,
durch neue Versuche die täghche Bewegung der Erde als Wahrheit
zu erweisen, ja es scheint kaum, daß er auch nur sich bewußt gewesen
ist, den Weg zu solchem Beweis für die kommenden Generationen
bezeichnet zu haben. In einem 1668 gedruckten Brief an Michael
Angelo Ricci, in dem er den hier besprochenen Gegenstand ausführ-
Wohlwill, Galilei. Ii. 14
— 210 —
lieh behandelt, der aber eben, weil er gedruckt ist, als eine vollständige
Wiedergabe seines Gedankengangs in so bedenklicher Eichtung nicht
ohne weiteres gelten kann, bekennt er, daß der erste Einblick in die
Notwendigkeit jenes Ergebnisses ihn zunächst in Verwirrung gesetzt
habe. Der weitere Zusammenhang läßt für diese Beunruhigung keine
andere Deutung zu, als daß Borelli wenigstens vorübergehend geglaubt
hat, seiner Folgerung gegenüber müsse die feststehende Tatsache der
Beobachtung, daß die Körper in der Senkrechten fallen, wenn auch
in anderem Sinne als Aiistoteles und Riccioli gewollt, als Beweis
gegen die Bewegung der Erde betrachtet werden. Die Widerlegung
dieser möglichen Auffassung bildet den eigentlichen Inhalt des Briefes
an Ricci. BoreUi zeigt, daß seine theoretisch unbestreitbare Folgerung
unter keinen Umständen praktische Bedeutung gewinnen könne; er
berichtet ausführlich, ^^ie seinen eigenen Erfahrungen gemäß bei
Versuchen über den freien FaU auch aus geringer Höhe Störungen
aller Art verhindern, daß der fallende Körper zu wiederholten Malen
die gleiche Stelle des Bodens treffe, er berechnet dann unter ver-
schiedenen Voraussetzungen die zu erwartende geringfügige Ab-
weichung von der Senkrechten für den Körper, der aus einer Höhe
von 240 Fuß fallend die Erde trifft, und schließt, daß diese Abweichung
unter aUen Umständen innerhalb der Grenzen unvermeidlicher
Versuchsfehler, also unmerklich bleibe. Nichts weiter ist daher das
Ergebnis seiner umständlichen Erörterungen als die Erkenntnis, daß
die Beobachtungen über den freien Fall weder im Sinne Ricciolis
gegen die Bewegung der Erde entscheiden, noch, der besseren Theorie
der Bewegungserscheinungen entsprechend aufgefaßt, ein Zeugnis zu-
gunsten des Copernicus ablegen können.
Die besprochenen gedruckten Äußerungen Boreliis werden durch
eine Abhandlung ergänzt, die sich unter den Handschriften der
Academie del Cimento gefunden hat und mit großer Wahrscheinlich-
keit gleichfalls ihm zuzuschreiben ist.^ Daß der Verfasser sie für die
Öffentlichkeit bestimmt hatte, darf vielleicht aus den formellen Er-
klärungen geschlossen werden, durch die er einleitend und abschließend
der größeren Entschiedenheit seiner Äußerung den bedenklichen Schein
zu nehmen bemüht ist. Er zweifle in keiner Weise, schickt er voraus,
daß die copernicanische Hypothese falsch sei, weil die Heilige Kon-
^ Targioni-Tozzetti Notizie II p. 791 — 799.
— 211 —
gregation dies dekretiert habe; was er in Zweifel ziehe, sei nur die
Kraft und das Gewicht der natürlichen Beweise und insbesondere
desjenigen, den der ehrwürdige P. Riccioli gelehrt habe. Unter dem
Schutze dieser feierlichen Verwahrung folgen dann die physiko-
mathematischen Erörterungen, die in voller Ausführlichkeit die Trug-
schlüsse der gegnerischen Beweisführung zergliedern.
„Die Beweise Ricciohs", schließt Borelli, „bestärken mich in
der Meinung, daß es keinen natürlichen noch mathematischen Beweis
gebe, der der copernicanischen Hypothese widerspricht"; aber noch-
mals setzt er hinzu: „abgesehen von der Heiligen Autorität, der wir
alle uns unterwerfen müssen, ohne die Kjaft der natürlichen Beweise
in Betracht zu ziehen."
So von Gehorsam und Resignation umrahmt, enthalten doch
Borellis Worte das Kühnste, was in den ersten hundert Jahren nach
Galileis Tode ein italienischer Naturforscher geschrieben hat. Es
kann daher nicht befremden, daß sie noch mehr als hundert Jahre
ungedruckt geblieben sind, weniger noch, daß die Leiter der Academie
del Cimento sie zur Aufnahme in ihre Veröffentlichungen nicht geeignet
befunden haben. Aber mit der freimütigen Äußerung blieben von
diesen Veröffentlichungen auch die physikalischen Erörterungen der
Handschrift ausgeschlossen. In der Tat fehlt in den berühmten
,,Saggi" der Florentiner Akademiker^ jede Bezugnahme auf die
copernicanische Theorie,
Eine Erklärung für diese Lücke, die ohne Zweifel einer Be-
schränkung auch in den Forschungen der bedeutendsten wissen-
schaftlichen Genossenschaft Italiens entsprach, w^ii'd in gewissem
Maße durch die Zwecke der Akademie und ihrer Begründer gegeben,
die in dem Namen der Accademia del Cimento ausgesprochen ist.
Durch Versuche und Beobachtungen für die wahre Wissenschaft
zunächst nur den Boden zu bereiten, war unzweifelhaft, den Neigungen
ihres fürstlichen Leiters entsprechend, die eigentliche Bestimmung
der Florentiner Vereinigung. Die bekannten Veröffentlichungen aus
den Protokollen der Akademie del Cimento beweisen, daß demgemäß
in den Verhandlungen nur ausnahmsweise allgemeinere Betrachtungen
sich an die Experimente knüpften. Damit steht im Einklänge, daß
^ Saggi di natural! sperienze fatte nell' Accademia del Cimento Firenze
1667.
14*
— 212 —
der Astronomie im engeren Sinne angehörige und insbesondere mathe-
matische Behandlung fordernde Gegenstände unerörtert blieben.
Aber die grundsätzlichen Bestimmungen allein genügen nicht, um
verständlieh zu machen, daß auch von der experimentellen Unter-
suchung alles ausgeschlossen blieb, was zur Aufklärung über die
Bewegungserscheinungen auf bewegter Erde oder verwandter Probleme
dienen konnte, daß also neben den mannigfachen anderweitigen Ver-
suchen Galileis und Gassendis, die für die Experimente der Akademiker
den Ausgangspunkt bildeten, diejenigen, die zur Begründung, Er-
läuterung und Bestätigung der copernicanischen Lehre dienen konnten,
keinerlei Berücksichtigung fanden. Die Beschränkung, die sich die
Florentiner Forscher in dieser Beziehung auferlegten, war ohne Zweifel
durch die Zeitverhältnisse, insbesondere durch die Lage der Dinge in
Toscana bedingt. Der Verdächtigung keinen Angriffspunkt zu bieten,
war eine Lebensbedingung für eine Genossenschaft, die ohnedies
durch ihr Dasein, durch die Natur ihrer Aufgaben und die neue "Weise,
in der sie Wahrheit zu gewinnen suchte, zum Argwohn Veranlassung
gab. Den offenen wie den heimlichen Gegnern wären Bemühungen,
die selbst um ferner Hegender Konsequenzen willen auf die verbotene
Lehre zu beziehen waren, willkommen gewesen als Beweise für die
Gefahr, die hinter den scheinbar harmlosen Experimenten der
Akademiker drohte. Daß es Erwägungen dieser Art gewesen sind,
Rücksichten auf die kirchlichen Dekrete sowohl, wie auf die Argus-
augen ihrer Wächter, um derentwillen die Accademia del -Cimento
nicht nur die copernicanische Lehre, sondern alles, was mit dieser
zusammenhängt, zu berühren vermieden hat, wird in erhöhtem Maße
wahrscheinlich, wenn man beachtet, in welcher Weise in der denk-
würdigen einzigen Veröffentlichung derselben Akademie Galileis
gedacht wird. Es waren insgesamt — mit Einschluß der beiden
Fürsten an ihrer Spitze — Schüler und Verehrer Galileis, die in dem
Verlangen, eine Wissenschaft zu fördern, die er geschaffen, auf den
Wegen, die er beschritten, seiner Führung zu folgen, sich zur gemein-
samen Arbeit vereinigt hatten. Wer immer in späterer Zeit und bis
auf den heutigen Tag über den kurzen Lebenslauf, die Bestrebungen
und die Leistungen der Akademie berichtet, hat diesen Zusammen-
hang mit dem großen Lehrer und Vorgänger nachdi'ücklich hervor-
heben müssen. Und doch scheinen die einleitenden Betrachtungen,
die dem Bericht über die Versuche der Akademie vorausgeschickt
— 213 —
sind, von einem solchen Verhältnis nichts zu wissen, der Name
Galileis kommt in dieser Einleitung nicht vor. Er wird in dem Buche
selbst zwar genannt, wo immer seine Versuche zur Sprache kommen,
aber auch hier, wo unter anderen Torricelli als der große und geist-
reiche, sein Gedanke als erhaben und bewunderungswürdig bezeichnet
wird, sucht man vergebens nach irgendwelchem Ausdi'uck der Ehr-
erbietung, ja nach dem gewöhnlichsten Höflichkeits-Beiwort neben
dem Namen Galilei.
Einer verbreiteten Auffassungsweise gemäß wird man geneigt
sein, für diese befremdende Kälte die Ursache in einem unmittel-
baren äußeren Zwange zu sehen, den die Inquisition ausübte. Ein
starres Gesetz — so ist die übliche Annahme — trat in dem besonderen
Falle Galileis jeder schriftstellerischen Äußerung entgegen, die dem
Verurteilten des Heihgen Offiziums Ehre zu erweisen wagte. Es wu'd
hier darzulegen sein, daß die geschichthch bekannt gewordenen Tat-
sachen diese Ansicht der Dinge nur in beschränktem Maße recht-
fertigen.
Als Gesetz und Regel wird in wohl autorisierten Schriften aus
den letzten Jahren des 16. Jahrhunderts hingestellt, daß die Namen
derjenigen, die sich der Haeresie schuldig gemacht, der Dunkelheit
und Vergessenheit verfallen sollen, daß aus den Schriften, die sie
nennen, die ehrenden Epitheta und alles, was zu ihrem Lobe gesagt
ist, zu tilgen seien. Es unterliegt keinem Zweifel, daß wenigstens
vereinzelte Inquisitoren dieser Regel gemäß auch Galilei gegenüber
verfahren zu müssen glaubten. Noch seinen letzten Lebensjahren
gehören die Mtteilungen über zwei Fälle an, in denen die Vertreter
der Inquisition sich rühmenden Wendungen widersetzten, bei denen
eine Beziehung auf die Dinge, die man Galilei zum Vorwurf machte,
in keiner Weise in Frage kam.
In einer Denkrede, die der Franzose Bouchard im Auftrage des
Kardinals Barberini zu Ehren des 1637 verstorbenen Peiresc gehalten,
hatte er Galileis in rühmenden Worten gedacht. Castelli, der Galilei
darüber berichtete, war durch die starken Ausdrücke des Redners
überrascht; aber der Palastmeister des Heiligen Offiziums (der aus
Galileis Lebensgeschichte bekannte Padre Moströ) fand für den Ab-
druck unzulässig, was beim mündlichen Vortrag nicht zu verhindern
gewesen war; „er will nicht", schrieb Bouchard entrüstet an Vicenzo
Capponi, „daß ich irgendeinen Haeretiker gelehrt nenne, nicht einmal
— 214 —
den de Thou, und besonders nicht Galilei"; nur das Verdienst der
teleskopischen Entdeckungen glaubte der römische Zensor Galilei
zugestehen zu dürfen. So strich er den „Ersten der Mathematiker"
und ließ dafür den französischen Redner, den „scharfen und wahrhaft
hellsehenden Beobachter der oberen und himmlischen Dinge" an-
erkennen.^
Einige Jahre später hatte der Pisaner Professor Paganino Gau-
denzio in einer Schrift „über die Seelenwanderung nach Pythagoras"
Galileis gedacht und ihn dabei den hochberühmten genannt; der
Inquisitor widersprach, und Gaudenzio erlangte mit Mühe die Er-
laubnis, von dem „allgemein bekannten" Manne (notissimo) zu
reden.2
Daß ähnliche Fälle kleinlicher Korrekturen auch sonst noch vor-
gekommen sind, ohne wie die erwähnten von eifrigen Anhängern
Galileis lebhaft erörtert und dadurch der Nachwelt erhalten zu werden,
ist als wahrscheinlich anzusehen ; auch wird durch einen glaubwürdigen
Berichterstatter mitgeteilt, daß der Nachfolger des Padre Moströ in
der Würde eines Palastmeisters des Heiligen Offiziums selbst einfachen
Zitaten aus Galileis Schriften gegenüber sich abweisend verhalten
habe. Dennoch ist die Annahme, daß in der Regel dem angeführten
Grundsatze gemäß die Zensur gegen Äußerungen über Galilei und
Zitate aus seinen Werken geübt sei, als keineswegs zutreffend zu
bezeichnen. Über die An>Tendbarkeit einer für Haeretiker berechneten
Vorschrift auf Verurteilte, die x^de Galilei der Haeresie nicht geständig
waren, sondern nur als schwer verdächtig abgeschworen hatten,
bestanden — wie die früher erwähnten Gutachten beweisen —
Meinungsverschiedenheiten; im einzelnen Falle lag daher — so lange
nicht ein römisches Machtwort den Zweifel ausschloß — die Ent-
scheidung in der Hand des Zensors; größere oder geringere Strenge
der Auffassung, aber auch zufällige Umstände, persönliche Bezie-
hungen, Neigungen und Abneigungen konnten dabei ihren Einfluß
üben; ein Inquisitor, dessen Denken über die Fragen der Wissen-
schaft in den Schranken der aristotelischen Physik befangen war,
urteilte auch als Zensor anders als der Jünger der neuen physiko-
mathematischen Schule. So erklärt sich, daß man, das Einzelne ins
^ Vergl. A. Favaro, Spigolature Galileiane dalla Autografoteca Campori
in Modena. Modena 1882 p. 27 und Ed. Naz. XVIII p. 299 u. 367.
2 Ed. Naz. XVIII p. 304.
— 215 —
Auge fassend, die Inquisition bald eines beispiellos barbarischen Ver-
fahrens gegen Galileis Andenken geziehen, bald über jeden Tadel
erhaben gefunden hat.
Verweist man, wie es geschehen ist, zum Beleg für die letztere
Ansicht auf anerkennende Worte, die sich in nicht wenigen Werken
gelehrter Jesuiten und anderer auf gegnerischem Boden stehender
Schriftsteller finden, so ist in Betracht zu ziehen, daß diesen gegen-
über die Zensur von vornherein eine andere Stellung einnahm; von
demselben Palastmeister des Heiligen Offiziums, der Zitate strich,
nur weil sie Galileis Schriften entnommen waren, wd uns mitgeteilt,
daß er für Schriften des Pater Kircher die Erlaubnis erteilte, ohne
sie anzusehen.^
Aber die Erlaubnis der Inquisition erlangte auch der Buchhändler
Carlo Manolessi in Bologna für die von ihm in den Jahren 1655 und
1656 veranstaltete Gesamtausgabe der Werke Galileis. Die Sammlung
ist unvollständig, die äußere Ausstattung der beiden Bände läßt zu
wünschen übrig; aber an offener und warmer Kundgebung der Ver-
ehrung für Galilei kann diese erste Ausgabe mit jeder späteren wett-
eifern. Die Widmung an den Großherzog Ferdinand und das Vor-
wort an den Leser verherrhchen ihn in Ausdrücken, wie sie zu keiner
Zeit volltönender zu seinem Ruhme gesprochen worden sind. Als
ob es keine Rücksichten zu achten gäbe, redet der Herausgeber von
den ruchlosen Verfolgern, „denen zum Trotz ein immer höherer,
glorreicherer Ruf dem Namen und den Werken unseres großen Galilei
zuteil wird". Den Vorreden schließt sich eine Votivtafel an, die in
schwülstigem Latein Galileis Entdeckungen in den Himmel erhebt.
Zu vollster Bestätigung aller hohen Worte folgt das Gedicht, durch
das vor Zeiten auch Kardinal Maffeo Barberini, der spätere Papst
Urban, dem Entdecker der Mediceischen Planeten und der Sonnen-
flecken seine Huldigung dargebracht hatte, mit den Versen das über-
aus freundschafthche Schreiben des Kardinals, in dessen Begleitung
er sie Galilei übersandt hatte. Aber auch alles, was früheren Ausgaben
der einzelnen Werke an rühmenden Worten in Prosa und Poesie
vorausgeschickt war, ist in die Gesamtausgabe von neuem auf-
genommen.
^ Nach einem Brief des Jesuitenpaters Baldigiani an Vincenzio Viviani
vom Jahre 1678. Vergl. Favaro Miscellanea Galileiana inedita, Venezia 1887
p. 143.
— 216 —
Der Veröffentlichung dieser ersten Gesamtausgabe sind aller-
dings Verhandlungen mit der Inquisition vorausgegangen; aber die
Bedenken, die man in Bologna und Eom erhob, bezogen sich wesent-
lich auf den Abdruck solcher Schriften — teils im Manuskript be-
wahrter, teils früher gedruckter — ,die ihrem Inhalte nach als völhg
unvereinbar mit den Dekreten gegen die copernicanische Lehre
betrachtet werden mußten. An die „Dialoge" freihch wagte Manolessi
nicht zu denken, dagegen wünschte er unter anderm Keplers „Disser-
tatio cum nuncio sidereo", an geeigneter Stelle einzuschalten, in der,
wie wii- gesehen, die Bedeutung der ersten teleskopischen Ent-
deckungen als Bestätigung der copernicanischen Lehre nachdrücklich
hervorgehoben und erläutert wird. Als der Inquisitor von Bologna
seine Zustimmung verweigerte, übersandte Manolessi, um nichts un-
versucht zu lassen, die Schrift dem Palastmeister und dem General-
konmiissar der Inquisition in Rom und bat alsdann den Prinzen
Leopold von Medici, durch den Toscanischen Residenten oder einen
der Kardinäle aus dem Hause Medici seinen Einfluß zugunsten der
gewünschten Entscheidung zur Geltung zu bringen. Es scheint, daß
nach einiger Zeit der Kardinal Johann Karl von Medici Schritte in
diesem Simie getan hat; sie mußten vergeblich bleiben, wo es sich
um die Aufnahme einer Schrift handelte, deren Inhalt bestimmten
kirchlichen Verordnungen zuwiderlief.
Kicht beabsichtigter Duldung, sondern nur dem Zufall ungenauer
Prüfung wird man es zuzuschreiben haben, wenn den Dekreten zum
Trotz auch in dem neuen Abdruck des Kundus sidereus und den
Briefen verwandten Inhalts Wendungen stehen geblieben sind, die
den festen Glauben an die Bewegung der Erde verraten. Wie in der
Editio princeps ruft auch in der Ausgabe von Bologna der Verfasser
der „Botschaft von den Sternen" zuversichtlich aus: „ja, sie bewegt
sich, das werde ich mit tausend Gründen beweisen." Dagegen ent-
gingen den Bücken des Zensors nicht die Sätze am Schlüsse der Briefe
über die Sonnenflecken, die dem gleichen Glauben an den baldigen
Triumph der copernicanischen Lehre kräftigsten Ausdruck verleihen.
Offenbar handelt es sich um diese, wenn Manolessi nach Florenz
berichtet: es sei ihm von den Oberen nichts gestrichen, nur in den
Sonnenfleckenbriefen habe man ungefähr 20 Zeilen am Ende des
Werks beseitigt. Daß diese Zeilen den Gegenstand weiterer Ver-
handlungen gebildet haben, ist den erhaltenen Briefen des Heraus-
— 217 —
gebers nicht zu cntnehnif n. Sc muß dahin gestellt bleiben, ob hier
Manolessi gewagt hat, um Galileis willen ungehorsam zu sein, ob
andere Ursachen die Anordnung des Zensors unwirksam gemacht
haben. Tatsächlich blieb sie unausgeführt; denn im gleichen Wort-
laut wie in allen übrigen Ausgaben der Sonnenflecken-Briefe liest
man in der von Bologna auf der letzten Seite von dem „leuchtenden
Geleit, um dessentwillen für das große copernicanische System fortan
weder Finsternis noch widrige Winde zu fürchten" seien.
Xeben derartigen Einzelheiten in den älteren bereits gech-uckten
Werken scheint vorübergehend auch die Aufnahme einiger bis dahin
nicht gedruckter Schriften in die Ausgabe von Bologna vom Inqui-
sitor in Frage gestellt zu sein^; was immer seine Gründe gewesen
sein mögen, er hat sich überzeugen oder überreden lassen: keine
dieser Schriften blieb von der Gesamtausgabe ausgeschlossen.
So rufen die uns vorliegenden Berichte des Herausgebers ins-
gesamt den Eindruck hervor, daß ihm von selten der Inquisition zwar
die Erfüllung seiner Aufgabe nicht eben erleichtert worden, daß aber
doch weder der Plan einer Sammlung der Werke Galileis, der an sich
eine Ehrenbezeugung bedeutete, auf grundsätzliche Bedenken stieß,
noch die uneingeschränkt rühmenden Äußerungen in allen Teilen
der beiden Bände zum Widerspruch Veranlassung gaben. Auch ohne
den Kommentar dieser handschriftlichen Erläuterungen gewährt die
Tatsache, daß ein solches Werk mit allen erforderlichen Erlaubnissen
fast unter den Augen der Heiligen Kongregation gedruckt worden ist,
einen entscheidenden Beweis dafür, daß allgemein geltende Vor-
schriften der kirchhchen Behörden der geziemenden Äußenmg über
Galileis Verdienste nicht entgegenstanden.
Man hat deshalb auch keinen Grund, zu vermuten, daß etwa
erst durch die bessernde Hand eines Inquisitors aus den Entwürfen
zur VeröffentUchung der Akademie del Cimento die Dankbarkeit
gegen Galilei spurlos getilgt sein möge. Aber selbst wenn in dieser
Beziehung bekannt werden sollte, was bisher kein zeitgenössisches
Zeugnis auch nur andeutet — es würde deshalb nicht minder durch
die große Lücke in dem „goldenen Buch der Experimentalforschung"
(wie itahenische Gelehrte die „Saggi" genannt haben), für alle Zeiten
^ Brief Manolessis an Viviani vom 29. Mai 1655 cf. Favaro Documenti
inediti, p. 87.
— 218 —
das Maß der Geistesfreiheit in dem Kreise Ferdinands und Leopolds
von Toscana bedeutsam gekennzeichnet sein; denn nur vermöge der
traditionellen Willfährigkeit der Regierenden konnte die Inquisition
in Toscana die Macht erlangen, zu fordern, was hier geschehen ist,
nur mit ihrer Zustimmung diese Forderung einem Werke gegenüber
zur Geltung bringen, an dem das großherzogliche Haus den unmittel-
barsten Anteil hatte.
Was in der hier berührten Beziehung die Veröffentüchungen des
17. Jahrhunderts fast nur durch Unterlassungen verraten, haben
handschiifthch erhaltene Aufzeichnungen mannigfaltig bestätigt, ver-
deutlicht und ergänzt. Es sind vor allem der Briefwechsel und die
Schriften des Mathematikers Vincenzio Viviani, die uns in einer Folge
lebhaftester Bemühungen, Galilei zu ehren, ohne sich mit der Kirche
und der Inquisition in Widerspruch zu setzen, den Geist des Zeit-
alters vergegenwärtigen.
Kaum zwanzigjährig beim Tode des großen Lehrers, hatte
Viviani in den Jahren, die er im steten Verkehr mit ihm verleben
durfte, für ein langes Leben unauslöschhche Eindrücke in überwältigen-
der Fülle empfangen. So hat er zeitlebens Galilei als seinen Wohltäter
verehrt; keine Pflicht schien ihm höher zu stehen als die, für das
Glück, das ihm als dem letzten Schüler eines solchen Mannes zuteil
geworden war, sich dankbar zu beweisen. In dieser Gesinnung ist
er den Angehörigen des Meisters von dessen letzter Stunde an der
treueste Helfer und Berater gewesen; zu ihm, dem jüngeren Manne
kommt vertrauensvoll in jeder Lebenslage der Sohn Vincenzio und
nach dessen frühem Tode die Witwe mit den unmündigen Kindern;
er ist es, der in späteren Jahren zwischen ihr und den Kindern ver-
mittelt, und in gleicher Weise ist er bis ins dritte Geschlecht für aUe,
die den Namen Galilei trugen, soweit sein Können reicht, der immer
hilfreiche Freund und Beschützer gebheben.
In höherem Grade noch galt seine Sorge viele Jahre hindurch
der Sammlung und Bewahrung der geistigen Hinterlassenschaft
Galileis; seinen ausdauernden Bemühungen verdankt man zum nicht
geringen Teil die Erhaltimg der ungedruckten Schi'iften aus den
Zeiten der Pisaner und der Paduaner Professur, der Bruchstücke
unvollendeter Werke und kürzerer Aufzeichnungen aus den letzten
Lebensjahren, der zahlreichen mit kritischen Randglossen von der Hand
des Meisters versehenen Bücher und des umfassenden Briefwechsels.
— 219 —
Den gleichen Eifer verwandte Viviani auf die Gewinnung der
Materialien für eine möglichst vollständige und zuverlässige Lebens-
beschreibung.
In allen diesen Beziehungen fand er die wirksamste Unter-
stützung in der übereinstimmenden Gesinnung des Prinzen Leopold
von Medici; bereit^\^Iligst stellte dieser seinen weitreichenden Einfluß
zur Verfügung, um herbeizuschaffen, was für das gemeinsam ver-
folgte Ziel — den Ruhm und die Ehre Galileis — erforderlich schien.
Was beide Männer erstrebten, war seiner Bedeutimg nach — das
wußten sie — nicht auf die Grenzen Toskanas oder Italiens und nicht
auf die Periode der lebenden Generation beschränkt; aber in der Ver-
wirkhchung ihrer Aufgabe sahen sie sich an die Bedingungen gebunden,
die für die Staaten des Großherzogs unter einer Rom bhndlings
gehorchenden Regierung sich aus den römischen Dekreten ergaben.
Viviani hat es möglich gefunden, im Jahre 1654 auf Veranlassung
des Prinzen Leopold den Entwiirf einer Lebensbeschreibung Galileis
niederzuschreiben, der wenigstens in der Erörterung der Beziehungen
zu Copernicus diesen Bedingungen genügte; nicht verschwiegen ist
hier, daß Galilei sich viele Jahre hindurch mit der Lehre des Copernicus
beschäftigt, sie während längerer Zeit für wahr gehalten hat; aber
aus dem Gedanken, der sein Leben durchdringt, seiner Forschungen
Seele und Mittelpunkt bildet, ist etwas Nebensächhches geworden,
das zusammenhangslos und zufällig in seinen Lebensgang eingreift.
Die teleskopischen Entdeclmngen werden aufgezählt, aber was sie
für Galilei als Zeugnisse für die Wahrheit der neuen Weltanschauung
bedeuteten, bleibt ungesagt, Mt völHgem Stillschweigen ist über-
gangen, was als unmittelbare Folge an diese Entdeckungen sich knüpft,
die Geschichte der Jahre 1613 bis 1616, in denen che Entscheidung
gegen Copernicus sich vorbereitet und der tiefgreifende Anteil Galileis
an den Vorgängen, die zu dieser Entscheidung führen.
In ähnhcher Weise von den „Dialogen" und der Katastrophe
von 1633, von den Ereignissen, die jedermann kannte, schlechthin
zu schweigen, war weniger leicht. Viviani entzog sich auch hier den
Konsequenzen seines Unternehmens nicht, er berichtete in der Kürze
über die Entstehung und den Inhalt der „Dialoge" und fügt hinzu,
was trotz aller Beschönigimg seine Übereinstimmung mit dem Urteil
der Inquisition außer Frage stellt. „Nachdem Galilei", schreibt er,
„sich durch seine wunderbaren Gedanken mit unsterblichem Ruhm
— 220 —
zum Himmel erhoben und durch so viele neue Entdeckungen unter
den ]\Ieuschen Göttliches erreicht, gestattete die ewige Vorsehung,
daß er seine Menschlichkeit durch den Irrtum beweise, indem er bei
der Erörterung über die beiden Systeme sich mehr der copernicanischen
Hypothese zugetan bewies, die zuvor als der götthchen Schrift mder-
sprechend von der heiligen Kirche verurteilt worden w^ar." An diese
"Worte schließt sich eine kurze Mitteilung über die Vorladung nach
Rom und den Prozeß, dessen Verlauf und Folgen mit einer gewissen
Zärtlichkeit für Galileis Richter geschildert werden. Es verstellt
sich, daß dabei des Widerrufs Erwähnung geschieht, den Galilei als
guter Katholik bereitwillig ausgesprochen, nachdem er über seinen
Irrtum aufgeklärt worden war.
Viviani hielt es nicht für überflüssig, jedem Zweifel an der Auf-
richtigkeit dieses Verzichts ausdrücklich zu begegnen. Er gedenkt
der Übersetzungen der „Dialoge" in lateinischer und anderen Sprachen,
die nach dem Verbot des Originals im Ausland erschienen waren,
der Veröffenthchung des Briefs an die Großherzogin Christina in
Holland, aber wie es scheint, nur um von der tief schmerzlichen Er-
regung zu reden, die Galilei empfunden habe, weil ihm auf solche
Weise für immer die MögHchkeit genommen war, diese Schriften zu
unterckücken. Und als ob auch dieses Bekenntnis noch nicht genügen-
den Aufschluß über seine Gesinnungen gewährte, berichtet Viviani
weiter, vde es ihm am Herzen gelegen, für die Befreiung aus so schwerem
L-rtum nicht undankbar zu erscheinen; nicht besser aber habe. er für
diese heilbringende Wohltat der unendlichen Vorsehung seinen Dank
darbringen zu können gemeint, als indem er fortfuhr, Erfindungen
von höchster Bedeutung ins Werk zu setzen; in solcher Denkweise
habe er im Jahre 1636 den Entschluß gefaßt, den holländischen
Generalstaaten sein Verfahren zur Bestimmung der geographischen
Länge anzubieten.
Das war, was Viviani über den „großen Fall" zu berichten hatte,
dessen wahre Geschichte die Welt von ihm zu erfahren hoffte. Es
w^ar — wie sicherhch er selbst am besten wußte — nichts weniger als
die wahre Geschichte. Höher als die Pflicht geschichthcher Treue,
als selbst die Sorge um das Urteil der unbefangenen Nachwelt, stand
dem treuen Anhänger das Verlangen, Galileis Andenken von dem
Banne zu befreien, der auf ihm in den Augen der Gläubigen lastete.
Dafür genügte es nicht, nur zu verschweigen, was wahrheitsgemäß
— 221 —
nicht auszusprechen gestattet war; es galt, in nach di'ucks voller Ab-
wehr den dunklen Vorstellungen von Mißachtung der kirchlichen
Lehre und der Kirche entgegenzutreten, die naturgemäß sich mit
dem strafenden Urteil des Ketzergerichts verknüpften, um so gewisser,
je weniger die besondere Irrlehre, die das Urteil nannte, dem Ver-
ständnis der gläubigen Menge zugänghch war. Darum mußte in
Vivianis Schilderung an die Stelle des trostlos düsteren Bildes, in
dem uns der Gefangene von Arcetri erscheint, die freundliche Helle
eines von wahrer Frömmigkeit durchleuchteten Lebensabends treten,
darum statt der quälenden Gewißheit, daß durch den Bann der
Kirche Wissenschaft und Wahrheit unterdrückt war, tief empfundener
Dank für die Befreiung aus schwerem Irrtum das Gemüt des Sterben-
den erfüllen.
Mit all diesen frommen Wendungen, wohlberechneten Zutaten
und Auslassungen ist Vivianis Biographie, die einzige nennenswerte
aus dem 17. Jahrhundert, bis ins 18. ungedruckt gebheben. Der
Verfasser, der sie als junger Mann geschrieben hat und in hohem
Alter gestorben ist, hat ihre Veröffentlichung nicht erlebt. Weshalb
sie unterbheben, ist nicht völlig aufgeklärt, doch kann ein Zweifel
darüber kaum bestehen, daß in den mannigfachen Hindernissen, an
denen Vivianis Hingebung scheiterte, den eigenthchen Kern die
Ungunst der öffentlichen Verhältnisse in Toskana bildete. Eine
Verherrhchung Galileis, wie sie Vivianis Darstellung trotz aller Rück-
sichten gegen die Kirche in vollem Maße darbot, erschien naturgemäß
wie ein Widerspruch gegen die Entscheidung, die dem Toten noch
immer die übHchen Ehren versagte, und der Billigung derselben
geistlichen Gewalt, die diese Entscheidung aufrecht erhielt, hätte es
für eine VeröffentUchung in Florenz bedurft.
Es ist nicht bekannt, daß die Erlaubnis zum Druck der Viviani-
schen Lobrede von der Inquisition verweigert worden, aber dieselbe
Wirkung \\ie das ausgesprochene Nein des Heiligen Offiziums übte
in jenen Tagen, zumal in furchtsamen Geistern, schon die Scheu,
sich der Versagung auszusetzen und dabei zugleich der Verteidigung
einer unerlaubten Richtung der Gedanken verdächtig zu erscheinen.
Gegen diese vor Augen liegende Gefahr gewährte die Gunst des
Hofes keinen Schutz. So gewiß sowohl der regierende Großherzog
Ferdinand IL, wie Prinz Leopold zeitlebens allem, was Galilei betraf,
lebhaften Anteil schenkten, so ist doch der feindlichen Macht gegen-
— 222 —
über, die sein Andenken unterdrückte, diese Gesinnung fast völlig
wirkungslos geblieben. Wie nach der Heimkehr Galileis im Dezember
des Jahres 1633 der jugendliche Großherzog voll wärmsten Mitgefühls
fast insgeheim den Verurteilten der Inquisition auf seinem Landsitz
zu Arcetri aufsuchte, um ihn seiner unveränderten Gunst zu ver-
sichern, und wie derselbe Fürst dann doch acht Jahre lang wider-
spruchslos ertnig, daß unter seinen Augen der Größte seiner Unter-
tanen von einer fremden despotischen Gewalt als Gefangener im
eigenen Hause behandelt wurde, so war auch jetzt am Hofe von
Florenz die persönhche Sympathie für den Toten im vollen Maße vor-
handen, es fehlte nicht die aufrichtige Neigung, sie der Außenwelt
kund zu tun, aber als ausgeschlossen und undenkbar erschien eine
Betätigung, die zum Konflikt mit den kirchlichen Behörden führen
oder auch nm* auf deren BeifaU mutmaßlich nicht rechnen durfte.
Was in dieser Beziehung bei den Regierenden mit politischen
Grundsätzen wenigstens zusammenhing, entsprach bei dem Mathe-
matiker des Großherzogs, sofern nicht für ihn bereits entscheidend
war, wie man bei Hofe dachte, einem Mangel an morahschem Mut.
Statt entschlossen im freieren Ausland zur Ausführung zu bringen,
was in Florenz nicht gestattet war, ist Viviani über den unlöshchen
Widerspruch nicht hinausgekommen, das Unerlaubte nur auf er-
laubten Wegen unternehmen zu wollen. Nicht in sich selbst, in dem
starken Antrieb der unerfüllten Pflicht findet er Kraft und Ent-
schluß, sie trotz aller Hindernisse zu erfüllen; von dem Einfluß, fürst-
licher Gönner, von wolilwollenden Zensoren, von größerer Duldsam-
keit der römischen Machthaber erhofft er von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
die veränderte Gestaltung der Verhältnisse, die Beseitigung der
Hindernisse; immer von neuem sieht er den ersehnten besseren Tag
ganz nahe vor Augen, und immer von neuem zerfließt ihm die
täuschende Aussicht.
Viele Jahre hindurch hat ihn der Plan einer Gesamtausgabe der
Galileischen Schriften beschäftigt. Die von Bologna, die unter seiner
und des Prinzen Leopold Mit^^irkung zustande gekommen war,
genügte so wenig seinen Ansprüchen, daß er, noch ehe sie vollendet
war, den Freunden von der besseren redet, für die gleichfalls Prinz
Leopold mit Freuden seine Mitwirkung zugesagt hatte. Sie sollte in
Folioformat in prächtigster Ausstattung erscheinen, durchgehends in
zwei Kolumnen nebeneinander der italienische Text und die lateinische
— 223 —
Übersetzung; an der Spitze sollte die Lebensbeschreibung stehen,
den früher gedmcktcn "Werken alles sich anschließen, was an un-
gedruckten noch vorhanden war.^
Im Namen des Großherzogs erging unter andern an den greisen
Eho Diodati in Paris die Aufforderung, für den Zweck der Ver-
öffentlichung auch diejenigen Briefe Galileis zur Verfügung zu stellen,
die sich auf die hoch\nchtigen durch ihn vermittelten Verhandlungen
mit den holländischen Generalstaaten bezogen. Die Mitteilungen
über ein Unternehmen zu Ehren Galileis, dem so hohe Gönnerschaft
und dadurch der Erfolg gesichert schien, erfüllte den trefflichen
Mann, der in seinem 80. Jahr Galilei jugendliche Verehrung bewahrt
hat, mit höchster Begeisterung; ohne Zögern entäußert er sich um
des großen Zweckes ^^illen der Briefe, die er bis dahin wie ein Heilig-
tum gehegt; nach wenigen Tagen hatte er mit der holländischen Korre-
spondenz auch alles übrige, was von Galileis Hand sich in seiner
Bewahrung befand, dem Florentiner Residenten übergeben. Diodati
sah in dem großgedachten Plan, von dem man ihm berichtete, den
Beweis, daß Großherzog Ferdinand, wie er im. Leben Galilei durch
hohe Gunst geehrt, nunmehr auch zu seinem ewigen Ruhme tätig zu
sein ge^villt war; um seine Freude und seinen Dank zu bekunden, bot er
dem Großherzog zu den Briefen das Beste, was er als Geschenk seines
großen Freundes besaß, dessen von Meisterhand gefertigtes vollkommen
ähnhches Bildnis; er weiß, schreibt er dabei, daß der Großherzog das
Bild des außerordentlichen Mannes ins Herz gemeißelt trägt, aber er
hofft, es werde ihn doch freuen, ihn täglich vor Augen sehen zu können.
Die freudige Zuversicht, mit der Diodati das Florentiner Unter-
nehmen begrüßte, wurde bald genug enttäuscht; als auf die Sendungen
und eine Folge von Briefen im Verlauf fast eines halben Jahrs aus
Florenz keine Antwort gekommen ist, schreibt er in aufsteigender
Bitterkeit an Viviani: er könne sich trotz alledem nicht entschließen,
zu glauben, daß, wenn etwa inzmschen die Herstellung der Gesamt-
ausgabe aufgegeben sei, Prinz Leopold ihn dessen berauben wolle,
was er vertrauensvoll für diesen Zweck gegeben habe.^
^ Nach Vivianis Brief vom 2. Febr. 1657 an Elio Diodati, abgedruckt
in A. Favaro, Documenti inediti per Ja Storia dei Manoscritti GalUeiani.
Roma 1886 p. 112.
- Brief Diodatis an Viviani vom 24. Nov. 1656 in Favaro, Documenti
inediti p. 106.
— 224 -
Yiviani antwortete beruhigend: Behinderung durch Krankheit
und Berufsgeschäfte habe ilin selbst, und mit ihm seine fürstlichen
Gönner undankbar erscheinen lassen ; in warmer Schilderung berichtet
er über den Eindruck, den der Empfang des Porträts bei dem Groß-
herzog hervorgerufen, und verheißt ein persönliches Dankschreiben;
Prinz Leopold hat ihn beauftragt, zu versichern, daß er bei dem
Gedanken der Herausgabe sämtlicher Werke Galileis in glänzendster
Ausstattung fest beharre. Nur die Rücksicht auf das kürzliche Er-
scheinen der xVusgabe von Bologna mache ratsam, mit der Ausführung
wenigstens ein Jahr zu warten; in der Zwischenzeit können die Über-
setzungen vollendet, die Lebensbeschreibung ausgearbeitet, die Holz-
schnitte gefertigt und das Ganze in allen Beziehungen soweit vorbereitet
sein, daß alsdann nichts übrig bleibe, als zum Druck zu schreiten. ^
Fast beschämt durch so tröstliche, zuversichthche Worte bittet
Diodati, ihm die Äußerungen der Ungeduld zu verzeihen.^ Aber das
Jahr vergeht und ein zweites dazu, ohne daß vom Beginn der Ver-
öffentlichung oder des Drucks etwas verlautet. Es waren freilich
die Jahre, in denen in Florenz die Tätigkeit der Accademia del Cimento
die besten Ki'äfte in Anspruch nahm, in der Wissenschaft wie im
praktischen Leben die mannigfaltigsten Aufgaben vor allem Viviani
und den Prinzen Leopold beschäftigten. Diodati aber faßt nicht,
daß es Wichtigeres geben könne, als Gahleis zu gedenken; er begreift
keine andere Ursache des Schweigens, als daß die Pläne zunichte
geworden sind. „Nicht mich allein", schreibt er an Viviani, „un-
zähhge andere Menschen mit mir, die nach dem Schatz dieser Werke
verlangen, wird das Scheitern des Unternehmens tief bekümmern. "^
Wiederum vergehen zwei Jahre, dem nunmehr 85 jährigen
Diodati läßt es keine Ruhe, zum letzten Male richtet er sein mahnen-
des Wort nach Florenz, in umständHcher Wiederholung ruft er dem
Prinzen Leopold den Wortlaut der Versprechungen ins Gedächtnis,
mit denen man ihn verlockt hat, sich des lange gehüteten Schatzes
zu berauben; inständig bittet er, ihm wahrheitsgemäß zu sagen, wie
es nunmehr mit den Vorbereitungen für die Verwirklichung stehe.^
^ Briefe Vivianis an Diodati vom 4. Dez. 1656 und 2. Febr. 1657 bei
Favaro. Documenti inediti p. 107 — 112.
- Brief vom 2. Febr. 1657 bei Favaro a. a. O. p. 113.
^ Brief Diodatis an Viviani vom 2. Mai 1658 bei Favaro a. a. O. p. 115.
* Brief Diodatis an Viviani vom 4. Sept. 1660 bei Favaro a. a. O. p. 118.
— 225 —
Von neuem wiederholt ihm Viviani, daß die Absichten unver-
ändert fortbestehen; mit mancherlei Gründen sucht er die Ver-
zögerung zu erklären, nur mit einem Worte deutet er dabei an,, daß
neben denen, die er nennt, auch solche wirken, die ihm zu bezeichnen
nicht gestattet ist; aber auch jetzt noch hält er die Hindernisse für
bedeutungslos und vorübergehend; mit verheißungsvollen Worten
sucht er Diodatis Befürchtungen zu besch\\ichtigen : er möge über-
zeugt sein, daß er um die Frucht seiner Bereit wilhgkeit und Frei-
gebigkeit nicht betrogen werden könne; dafür sei er selbst (Viviani)
ein allzugroßer Anhänger des großen, von ihm wahrhaft angebeteten
Mannes; auch Prinz Leopold, der für die Wissenschaften wahrhaft
schwärme und vor allem von höchstem Eifer für den Ruf und den
Ruhm Galileis beseelt sei, bedürfe nicht des Antriebs.^
Die gleichen Versicherungen mußte einige Monate später der nach
Paris entsandte Sekretär des toskanischen Residenten Diodati münd-
lich wiederholen; Prinz Leopold, ließ Viviani hinzufügen, sei nun-
mehr der Sorge für die Festlichkeiten bei Gelegenheit der Vermählung
des Erbprinzen und für andere Dinge überhoben, er habe von neuem
begonnen, sich mit der Sache zu beschäftigen, und Viviani werde
nicht ermangeln, ihn warm dabei zu halten, bis das Unternehmen
zum Ende geführt sei.'^
Daß nach fünfjährigem vergeblichen Harren Diodati imstande
gewesen ist, an die Muße, deren Prinz Leopold nach den großen
Lasten des Sommers 1661 sich erfreuen würde, neue Hoffnungen zu
knüpfen, ist nicht leicht zu glauben. Aber seiner Mahnung folgte
keine weitere. Er starb als 86 jähriger Greis im Dezember desselben
Jahrs, ohne den Anfang einer Verwirklichung der Florentiner Ver-
heißungen erlebt zu haben. Von der großen neuen Ausgabe der
Gahleischen Werke ist nach seinem Tode in den Briefen Vivianis,
wie in denen des Prinzen Leopold, soweit dieselben bisher bekannt
geworden, nicht mehr die Rede.
Erhalten ist die Übersicht über den Inhalt der 4 Bände, die
nach Vivianis Plan seine Ausgabe umfassen sollte; sie gestattet
wenigstens eine Mutmaßung auch über diejenigen Hindernisse des
Unternehmens, von denen, wie Viviani andeutet, ihm zu reden nicht
^ Brief Vivianis an Diodati vom 8. Febr. 1661 bei Favaro a. a. 0. p. 119.
- Nach Favaro a. a. O. p. 29.
Wohlwill, Galilei. II. 15
— 226 —
erlaubt war. Als Inhalt des dritten Bandes wird: „Verdächtiges und
Verbotenes" bezeichnet. Die „Dialoge" und die Briefe über die
copernicanische Lehre aus den Jahren 1613—16 sollten also nicht
fehlen. Ohne Zweifel wäre ohne diese Schriften eine Ausgabe der
Galilei sehen Werke keine vollständige gewesen. Daß Vollständigkeit
in diesem einfachsten Sinne des Wortes in ihrem Plane lag, gereicht
Viviani und dem Prinzen Leopold zur Ehre, nur machten sie — der
eigenen Denkweise gemäß — durch einen so gedachten Plan das
Gelingen ihres Unternehmens von den Entscheidungen derjenigen
abhängig, von denen eine Zustimmung nicht zu erwarten war.
Noch im Jahre 1654 hatten die Kongregationen des Index und
der Inquisition Viviani die Erlaubnis, die verbotenen ,, Dialoge" auch
nur zu lesen, kurzweg verweigert, obgleich ein General des Domini-
kanerordens und Konsultor der Inquisition das Gesuch vermittelte
und zur Unterstützung desselben angab, die Erlaubnis werde nur
für den Zweck einer Widerlegung des Buches erbeten. ^ Ein nicht
geringer Grad von Selbsttäuschung war erforderhch, um wenige
Jahre nach diesem Bescheid einen Neudruck der „Dialoge" unter
kirchhcher Erlaubnis für möghch zu halten. Tatsächhch blieb das
ganze 17. Jahrhundert hindurch in Italien und insbesondere in
Florenz eine wohlautorisierte Ausgabe der Galilei sehen Werke mit
Einschluß der „verbotenen und verdächtigen Schriften" ein unaus-
führbares Unternehmen.
Was in dieser Beziehung heute im zusanmienfassenderr Rück-
bhck als feststehend und unabhängig von den wechselnden Ent-
schlüssen der zur Macht gelangenden PersönHchkeiten erkannt ^vird,
konnte freüich in den Tagen Vivianis als vorübergehender, vielleicht
in kurzem überwundener Zustand erscheinen. So mögen ernste
Hoffnungen bei Galileis Verehrern aufgestiegen sein, als von Florenz
aus aUe Hebel in Bewegung gesetzt wurden, um für den Prinzen
Leopold den Karcünalshut zu erwerben. Wenngleich ausschließhch
pohtische Berechnungen diesen Bemühungen zugrunde lagen, so
war doch denkbar, daß ein einmal erlangter Einfluß auch denjenigen
Bestrebungen zugute kommen könne, an denen der Prinz vor seiner
Erhebung zum Kirchenfürsten mit Vorhebe teilgenommen hatte.
^ Brief des Pompeo Ferroni an V. Viviani vom 11. Juli 1654, mitgeteilt
in Favaro, Miscellanea p. 126.
— 227 —
Nach einer späteren Mitteilung Vivianis hat allerdings Prinz
Leopold als Kardinal mit einigen Mitgliedern der Kongregation des
heiligen Offiziums über die Möglichkeit einer Milderung des gegen
die „Dialoge" gerichteten Verbots Besprechungen gehabt und bei
dieser Gelegenheit die Meinungen der Kardinäle einer solchen Maß-
regel keineswegs abgeneigt gefunden^; aber von einer derartigen
gesprächsweisen Berührung der Frage war ein weiter Weg zu dem,
was not tat, dem beharrlichen Bemühen um eine Entscheidung zu-
gunsten der Befreiung der Wissenschaft. Es ist wenig glaubhch, daß
Kardinal Leopold, der übrigens auch in Rom Freund und Beschützer
der Gelehrten bheb, bereit gewesen ist, um Galileis willen den Kampf
aufzunehmen, ohne den hier ein Ergebnis nicht zu erzielen war.
So ist denn auch in dem Briefv\'echsel Vivianis und seines Kreises
nach dem Jahr 1667, in dem die Ernennung des Prinzen Leopold
zum Kardinal erfolgte, von den Anregungen und den Wünschen des
Prinzen Leopold in bezug auf die Ehrung Galileis durch die Heraus-
gabe seiner Werke und einer ausführlichen Biographie nicht mehr
die Rede.
Neue Pläne Vivianis knüpfen sich seit dieser Zeit an seine Be-
ziehungen zu Ludwig XIV. Auf Colberts Vorschlag war er im Jahre
1664 durch die Ernennung zum Mitglied der Französischen Akademie
und die Verleihung einer Jahrespension von 1200 Lire geehrt worden.
Nicht besser glaubte er sich dem König und seinen Ministern dankbar
zu erweisen als durch eine VeröffentHchung, die ihm zugleich die
Erfüllung der alten Herzenspflicht gegen Galilei gestattete. Eine
vollständige Lebensbeschreibung des abgöttisch verehrten Meisters
dem König, seinem Wohltäter zugeeignet, das war die Gestalt, in der
nunmehr die seit den Jugendtagen ihm vorschwebende Aufgabe ihn
von neuem fesselte. Ein Entwurf, der unter seinen nachgelassenen
Handschriften bewahrt wird, beschreibt, wie er sich die Ausführung
seiner Absicht in der äußeren Erscheinung des Werks gedacht hat.
Auf dem ersten Blatte sollte ein Bildnis des Königs von Frankreich
zu sehen sein, diesem ein in Kupfer gestochenes Titelblatt folgen,
das wiederum auf den König Bezug nimmt, oben nochmals sein
Bildnis, unten sein Wappen darbietet, in der IVIitte der Titel „das
^ Brief Vivianis an den P. Antonio Baldigiani in Favaro Miscellanea
Galileiana inedita p. 154 — 155.
15*
- 228 —
Leben Galileis, beschrieben für den allerchristlichsten König von
Frankreich und Navarra."
Nicht zu bezweifeln ist, daß bei dem Plan einer solchen Ehrung
die Hoffnung mitgewirkt hat, in dem großen Namen, der damals
in Toskana als Name eines Bundesgenossen des Großherzogs in
doppeltem Ansehen stand, zugleich einen Verbündeten zu gewinnen
gegen die Hindernisse, die immer noch für den Druck des Werkes
zu fürchten waren.
Vivianis Absicht fand bei seinen italienischen Freunden, ins-
besondere aber bei den französischen Gelehrten volle Zustimmung.
Das Interesse, das sie hervorgerufen, äußerte sich in lebhaft mahnen-
den, di'ängenden Briefen, als auch dieses Mal die x\usführung auf sich
warten ließ. „Die ^yichtigste Verpfhchtung, die Ihr gegen den Minister
Colbert habt" — so schreibt im Jahre 1670, zwei Jahre nach der
ersten Ankündigung des neuen Unternehmens, Louis Chapelain an
Viviani — , ,,ist die Lebensbeschi'eibung des berühmten Galilei in der
Vollständigkeit, wie keiner außer Euch sie geben könnte." Von den
näheren Freunden suchte Lorenzo Magalotti Viviani durch die Vor-
stellung der Gefahr zu beeinflussen, daß bei Nichterfüllung des
gegebenen Versprechens er der gewährten Pension verlustig gehen
könnte.
Trotzdem ist auch die Lebensbeschreibung Galileis für den aller-
christHchsten König nicht zum Druck gelangt. Nach wenigen Jahren
ist auch von der Absicht in Vivianis Briefen nicht mehr die Rede.
Mit dem Tode Großherzog Ferdinands IL, der am 24. Mai 1670
erfolgte, hatten sich die öffenthchen Verhältnisse Toskanas für Be-
strebungen solcher Ai't in gesteigertem Maße ungünstig gestaltet.
Dem Beschützer und Freund der experimentellen Wissenschaften,
dem IVIitbegründer der Accademia del Cimento, dem Schüler und Ver-
ehrer Gahleis, war in seinem Sohne, Cosimo III., ein Fürst von wesent-
lich anderer Geistesrichtung und Gemütsart gefolgt. Während
Ferdinand IL als vorzugsweise wohlwollend in seinen Gesinnungen,
leutselig in seinem Auftreten geschildert wiid, erschien Cosimo im
Verlauf seiner Regierung mehr und mehr als mürrischer und finsterer
Herrscher, der es weder verstand, sich die Liebe seiner Untertanen
zu erwerben, noch auch das Verlangen darnach empfand. Nicht aus
Freude an Glanz und Prunk, sondern nur, um nach außen glänzend
zu erscheinen, dem Scheine nach dem Vater gleichzukonmien, wandte
— 229 -
auch er verschwenderisch große Summen an Feste und Lustbarkeiten;
um der Eitelkeit willen zog auch er Gelehrte von Namen an seinen
Hof, aber wissenschaftliche Neigungen waren ihm fremd; die „neue
Philosophie", die in Ferdinand ihren warmen Anhänger und Be-
schützer gefunden hatte, war ihm verhaßt. Seine Neigungen lagen
zumeist im Bereich strenggläubiger Frömmigkeit; Proselyten zu
machen, war seine besondere Liebhaberei; mehr als je zuvor gewannen
unter seiner langen Regierung die kirchlichen Bestrebungen das
Übergewicht über die weltlichen; unter keinem früheren Herrscher
war in Toskana die Macht der geistlichen Orden so groß gewesen.
Was ein solches Regiment in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahr-
hunderts für die Anhänger Galileis, für die Bemühungen, sein Ge-
dächtnis zu Ehren zu bringen, bedeutete, bedarf nicht der Ausführung.
„Wer hätte", ruft ein Jahrhundert später Targioni aus, „solange
Cosüno IIL regierte, ein Leben Galileis drucken lassen und rühmen
können, w^as er vollbracht, ohne Gefahr zu laufen oder w^enigstens
sich mißliebig zu machen?"
Die schwere Atmosphäre der Mönchsherrschaft, wie sie in jenen
Tagen dem Verehrer Galileis den Atem nahm, empfindet auch der
heutige Leser noch in einem Briefe, den Viviani im beginnenden
vierten Jahr der Regierung Cosimos an Lorenzo Magalotti geschrieben
hat. Es hatte sich die Nachricht verbreitet, daß man in Amsterdam
mit der Absicht umgehe, Briefe von Paolo Sarpi in größerer Zahl
und von gewichtigem Inhalt zu veröf f enthchen ; „vielleicht" hatte
derjenige, der die Kunde brachte, gesagt, „möchten unter denen der
Freunde und Korrespondenten Sarpis auch Briefe Galileis sein."
„Ob dieser Mitteilung", schreibt Viviani dem Freunde, „war ich
innerhch bestürzt, ohne es merken zu lassen; denn plötzlich fiel mir
in den Sinn, daß, wenn dem so wäre, sich Galileis beständigen Feinden,
deren es, me ich weiß, ganze Genossenschaften gibt, ein gewichtiger
Grund darbieten würde, ihn dessen verdächtig zu halten, was er
sicher nicht war und nie auch nur in Gedanken gewesen ist, und üin
auch als solchermaßen verdächtig erscheinen zu lassen, unter dem
erheuchelten frommen Vorwand, als ob sie dergleichen Leute ver-
abscheuen, aber in Wahrheit in der Absicht, soweit es an ihnen liegt,
den Ruhm des großen Mannes zu verdunkeln und vielleicht ein
Verbot gegen seine anderen Werke zu erwirken, die ihnen, die allein
alles zu wissen den Anspruch erheben, so sehr verhaßt sind." „Erwägt,"
— 230 —
ruft er, ,,wie sehr das dem Ruf des guten Alten und zugleich unserem
Vaterland zum Schaden gereichen könnte; mich dünkt, ich sehe Euch
bei dem bloßen Gedanken an diese Folgen in Feuer geraten; aber
zugleich auch, wie die Leidenschaft Euch die Mittel an die Hand
gibt, die Gefahr zu vermeiden."
Fast vergißt man über der aufgeregten, angsterfüllten Rede,
daß es ein Toter ist, der so bedroht erscheint, und daß die Gefahr,
die über ihm und dem Vaterlande schwebt, darauf hinauskommt,
daß von einem Verkehr, der vor 70 Jahren zAvischen dem Toten und
dem freidenkenden Mönch unzweifelhaft bestanden hatte, die Kunde
in die Öffentlichkeit dringen könnte.
In der Vernichtung der möglicherweise von Galilei an Sarpi
geschriebenen Briefe sieht Viviani die einzige Möglichkeit der Rettung,
wenngleich er fest davon überzeugt ist, daß nichts anderes als Fragen
der Wissenschaft ihren Gegenstand bilden könnten. „Wäre ich in
Flandern wie Ihr," schreibt er weiter, „ich würde mich un verweilt nach
Amsterdam begeben, um, wenn sich fände, daß Briefe Galileis wirk-
lich vorhanden sind, sie selbst in Augenschein zu nehmen ; und kämen
sie mii* zu Gesichte, so würde ich, was sie auch enthalten möchten,
nicht allein in Ruhe jede Kunst, jedes Mttel versuchen, um die Ver-
öffenthchung zu verhindern, sondern auch mich bemühen, die Originale
und die Kopien an mich zu bringen und wenn es auch mit großen
Kosten geschehen müßte; und wären sie schon gedruckt, so würde
ich aus eigenen Mitteln die Auslagen für die fertigen Bogen bezahlen,
damit nichts, was daran erinnern kann, in anderen Händen bliebe.
Solltet Ihr daher, verehrter Herr, Euch überzeugen, daß sich dies
insgeheim und mit Sicherheit durch Geld erreichen läßt, so bin ich
bereit, es Euch zuzustellen, damit von dieser Seite her den Böswilligen
für die Zukunft jede MögHchkeit genommen werde, Waffen solcher
Art gegen einen Mann zu verwenden, der so ehrwürdig, so redlich,
christhch, kathohsch und fromm gewesen, so gelebt hat und gestorben
ist und den ich in solcher Gesinnung als hohes Beispiel in seinen drei
letzten Jahren zu meiner großen Erbauung vor mir gesehen habe."^
Mehr als umständhche Schilderungen und Berichte vermögen,
veranschauHcht die Stimmung dieses Briefes den Geist des Zeit-
^ Brief Vivianis an Lorenzo Magalotti vom 24. Juli 1673 in Lettere
famigliari del Conte Lo renzo Magalotti p. 47.
— 231 —
alters Cosimos III, , zugleich aber auch den Charakter dessen, der in
solcher Zeit vor allen übrigen berufen war, den Feinden der Geistes-
freiheit die Stirn zu bieten. Es kann nicht überraschen, daß einem
Manne, der solchen Widersachern gegenüber Heil und Hilfe nur in
der Vernichtung alles dessen sieht, was zu böswilliger Deutung Anlaß
bieten könnte, das Leben dahinging in vergeblichen Versuchen, dem
Andenken Galileis gerecht zu werden.
Auch während der 32 Jahre, die er unter der Herrschaft Cosimos III.
verlebte, behielt Viviani die gleiche Aufgabe unverwandt im Auge.
Das beweist ein jedes seiner gedruckten Werke, meist mathematischen
Inhalts und eine große Zahl von Briefen, die diesem Zeitraum an-
gehören.
Nachdem die Aussicht, eine Gesamtausgabe der Werke veröffent-
lichen zu können, in die Ferne gerückt schien, beschäftigte ihn längere
Zeit hindurch der Plan, eine Sammlung der zahlreichen nachgelassenen
Schriften und Briefe drucken zu lassen. Selbstlos spricht er noch im
Jahre 1678 den bestimmten Entschluß aus, vor den eigenen bereits
vollendeten oder leicht zu vollendenden Werken die ungedruckten
Galileis und Torricellis an die Öffentlichkeit zu bringen. In mög-
lichster Vollständigkeit sollte seine Sammlung umfassen, was irgend
von Galilei erhalten war. Zu diesem Zwecke bemühte er sich viele
Jahre hindurch, teils durch direkte Zuschriften, teils durch geeignete
Vermittler, mit den Nachkommen und Erben derjenigen in Verbin-
dung zu treten, die in Italien wie im Ausland zu Galileis Freunden
und Korrespondenten gehört hatten, um in seine Hand zu bringen,
was irgend sich finden ließ. Sehr bedeutend, teilweise unschätzbar
sind die Beiträge, die diesem Bemühen die heute vorhandene große
Florentiner Sammlung der Galileischen Handschriften verdankt.
Nur vertagt, nicht aufgegeben hatte Viviani auch in dieser
schweren Zeit seine weitergehenden Pläne; sie von Neuem ausführ-
bar und dringlich erscheinen zu lassen, genügte der Schimmer neuer
Hoffnungen, die sich an die freiere, den Wissenschaften zugewandte
Denkweise des Erbprinzen Ferdinand knüpften. Es gelang Viviani,
den begabten jungen Prinzen, der in allen Beziehungen mehr dem
Großvater als dem Vater ähnlich schien, soweit für seine Absichten
zu gewinnen, daß er wagen konnte, in seinem Namen und Auftrag
in Rom eine Aufhebung des Verbots gegen die ,, Dialoge über die
beiden Weltsysteme" anzuregen.
— 232 —
Es ist bereits der Erkmidigungen gedacht worden, die Prinz
Leopold in gleicher Kichtung eingezogen hatte ; zu dem weitergehenden
Versuch, über den erst in neuester Zeit Favaros Bemühungen Licht
verbreitet haben, ermutigte Viviani die Bekanntschaft mit dem Jesuiten-
pater Antonio Baldigiani, Wie nie zuvor ein anderer, schien dieser
Mann in seiner Person die Eigenschaften zu vereinigen, deren es für
eine erfolgreiche Vermittlung zmschen den Interessen der wissen-
schaftlichen und der kirchlichen Kreise bedurfte. iVls Florentiner,
Mathematiker und Verehrer Galileis stand er Viviani nahe ; sein inhalt-
reicher Briefwechsel mit diesem rechtfertigt die Voraussetzung, daß
seinerseits grundsätzliche Bedenken dem geplanten Unternehmen
nicht entgegenstanden. Andererseits erfreute sich Baldigiani beim
päpsthchen Stuhl besonderen Ansehens; er war in der Lage, nicht
allein als gelehrtes Mitglied des Jesuitenordens, sondern unmittel-
barer noch als Konsultor der Index-Kongregation und Qualifikator
des Heihgen Offiziums auch auf die Entscheidungen dieser höchsten
kirchlichen Behörden Einfluß zu üben. So konnte Viviani glauben,
daß, wenn durch ihn das ersehnte Ziel sich nicht erreichen lasse,
auf keine andere Hilfe mehr zu rechnen sei. An ihn wandte er sich
daher im August 1690 zunächst mit der Bitte um Bezeichnung des
Weges, auf dem er in tiefster Heimlichkeit mit ihm über eine wissen-
schaftüche Angelegenheit von großer Bedeutung brieflich verhandeln
.könne. Nur soviel sprach er aus, daß eine glückliche Erledigung
dem Vermittler zu höchstem Euhm gereichen, überdies ihm sicherlich
die Gunst und Gewogenheit eines allergnädigsten Herrn gewinnen
werde.
Auf dem „gefahrlosen" Wege, über den ihn der Pater entgegen-
kommend belehrte, brachte dann Viviani zur Sprache, was „der
hohe Herr" im Sinne habe."^ „Es wird", so schreibt er, „aufs drin-
gendste gewünscht, daß Galileis ,Dialoge über die beiden Haupt-
weltsysteme' von jedem Verbot befreit werden; man glaubt, es sei
dies zu erreichen durch die Verbesserung derjenigen Stellen, die nach
dem Ermessen der Heiligen Kongregation des Index deren bedürfen;
1
I
^ Von beiden im Text erwähnten Schreiben liegen uns nur Vivianis
Entwürfe vor; es Hegt kein Grund vor, zu bezweifeln, daß, wie sicherlich das-
erste, auch das zweite entscheidende tatsächlich abgesandt worden ist. Beide
Entwürfe sind mitgeteilt in A. Favaro Miscellanea Galileiana inedita p. 152
biß 155.
— 233 —
man ist der Moinunp^, daß es nur sehr wenige seien und daß diese sich
sehr leicht moderieren lassen werden, ohne daß das AVerk entstellt
würde und von dem Guten und Schönen, das ihm eigen ist, irgend
etwas verlöre. Um dahin zu gelangen, bedarf es — so glaubt man —
eines Mannes von Autorität und Ansehen, der zugleich als Gelehrter
und mit dem Gegenstande vertraut, das große Unternehmen fördert
und mit Kraft und überzeugender Rede dafür eintritt. Ihr, hoch-
ehrwürdiger Vater, werdet zur Zeit als der Einzige in der gelehrten
Welt betrachtet, der diese Vorzüge in höchstem Grade besitzt, so
daß kein anderer neben Euch in Frage kommen könnte, ich bin des-
halb beauftragt, an Euch die Bitte zu richten, die Sache gründlich
in Erwägung zu ziehen. Euch ihrer anzunehmen und Euch ihr
mit Ernst zu widmen, bis Ihr sie zum glücklichen Ausgang ge-
führt habt."
Wie Viviani hier nur als Vertreter eines nicht genannten Höher-
stehenden zu reden vorgibt, so weiß er auch in der Darlegung der
Gründe, um derentwillen eineAufhebung des Verbots von 1633 not-
wendig erscheine, alles zu vermeiden, was den Verdacht, als ob er selbst
an die verbotene Lehre glaube, hervorrufen könnte. Sein Schreiben
an den P. Baldigiani spricht nicht etwa die Überzeugung aus, daß es
die Wahrheit sei, die man zu lehren und zu ergründen verbiete und
daß es sich darum handle, die Wissenschaft von unwürdigen Fesseln
zu befreien — auch in dieser tief geheimen Verhandlung glaubt er zu
Galileis Gunsten die Fiktion festhalten zu müssen, daß im vollen
Gegensatz zum Werk des Copernicus die „Dialoge" nicht die Bewegung
der Erde lehren wollen, sondern, ohne zu entscheiden, die Gründe
für und wider vortragen und dartun, daß diese Gründe nicht mehr die
eine als die andere Meinung zu erweisen vermögen."
Ersichtlich sind die Verbesserungen, an die Viviani denkt, nur
Zusätze, die im Sinne dieser Fiktion, im Einklang mit Galileis Vor-
wort und Z\Nischem-eden den Leser warnen sollen, für wahr zu halten,
was im eigenthchen Text des Buches mit allem Feuer der Über-
zeugung als Wahrheit erwiesen wird. Es entspricht der Zuversicht,
mit der Viviani dem Konsultor der Inquisition gegenüber Vorspiege-
lungen dieser Art verwertet, daß er dann auch kein Bedenken trägt,
wie von einem Zeichen der Inkonsequenz der kirchlichen Behörden
von der ungehinderten Erörterung der gleichen ^^issenschaftlichen
Lehren durch andere Schriftsteller zu reden und unter diesen durch
— 234 —
kirchliche Erlaubnis bevorzugten Männern Riccioli hervorzuheben.
Uns freilich klingt es überraschend, von einem Widerspruch des Ver-
bots der „Dialoge" mit der Nachsicht der Inquisition gegen den
Verfasser des „Almagestum novum" zu hören.
Größeren Nachdruck legt Viviani auf die Bedeutung des Verbots
für die nichtitalienischen Gelehrten. Wie ihm durch die Berichte
von Mitgliedern des Jesuitenordens him*eichend verbürgt sei, habe
insbesondere infolge der großen teleskopischen Entdeckungen die
copernicanische Lehre außerhalb Italiens zahlreichere Anhänger ge-
funden als jede andere, es habe deshalb schon das Verbot der Index-
Kongregation unter den Gelehrten des Auslandes große Aufregung
hervorgerufen und als Verbot in einer nur die Natur betreffenden
Sache die Veranlassung gegeben, daß man auch gegen solche in Rom
getroffene Entscheidungen sich zweifeUiaft verhalte, die sich auf An-
gelegenheiten des Glaubens beziehen. Es sei daher zu hoffen, daß
eine Abschwächung des Verbots der Kirche zum Gewinn gereichen
werde.
Von dem gleichen Ai'gument, ungefähr in die gleichen Worte ge-
faßt, hatten ja schon Gaülei und seine Freunde sich heilsame Wirkung
versprochen. Die Wiederholung eben dieser Wendungen und prak-
tischen Berechnungen in Vivianis Briefen veranschauhcht, wie unver-
ändert und unabgeschwächt nach Verlauf von beinahe 70 Jahren die
Gegensätze fortbestanden. Nur in den persönhchen Beziehungen
bezeichnen die Verhandlungen mit Baldigiani einen Wandel, genauer
gesagt: eine Wiederherstellung des älteren Verhältnisses. 'Es sind
die Feinde von 1633, unter denen Viviani den Helfer in der Not zu
finden meint; zu energischem Handeln in Galileis Angelegenheit
hofft er den Jesuitenpater durch die Aussicht anregen zu können,
daß im Falle des Erfolges sein Anteil dabei die Welt erkennen lassen
werde, wie falsch die verbreitete Meinung sei, nach der zum Verbot
der „Dialoge" das Betreiben einiger Mitgheder des Jesuitenordens
beigetragen habe, wie vielmehr dieser Orden auch jetzt noch wahres
Wohlwollen gegen Gaülei wie gegen seine Werke bewahre; es müsse,
meint Viviani, die Kunde davon, daß ein Jesuit zu so christhcher
und heldenmütiger Handlung den gerechten Antrieb empfunden habe,
nicht nur ihm selbst, sondern dem ganzen Orden, der in jeder anderen
Beziehung und mit gutem Recht vor allen übrigen hoch verehrt sei,
zu erhöhtem Lobe gereichen.
— 235 —
Eine Antwort auf dieses Schreiben an den P. Baldigiani ist nicht
erhalten; daß sie nicht nur ablehnend gelautet, sondern Viviani jede
Aussicht auf einen besseren Erfolg fortgesetzter Bemühungen ge-
nommen hat, ist nicht zu bezweifeln. Wie wenig in jenem Zeitpunkt
an der Stelle, wo Baldigiani seinen Einfluß üben sollte, die herrschende
Stimmung einem günstigen Ergebnis entsprach, geht aus den Mit-
teilungen hervor, die zwei Jahre später derselbe Mann Viviani zu
machen hatte. „Ganz Rom", schreibt er am 25. Januar 1693, ,, steht
in Waffen gegen die Mathematiker und Physiko-Mathematiker. Außer-
ordentHche Zusammenkünfte der Kardinäle und des Heiligen Offiziums
haben stattgefunden und finden weiter statt, und man spricht davon,
allgemeine Verbote gegen alle Autoren der neueren Physik ergehen
zu lassen, lange Listen werden angefertigt und an die Spitze derselben
stellt man Galilei, Gassendi, Carfcesius usw. als höchst gefährlich für
die Gelehrtenrepublik und die Reinheit der Religion. Die Haupt-
personen, die über sie zu urteilen haben, werden Mönche sein, die
früher schon sich bemüht haben, derartige Verbote zustande zu
bringen.^
Die schlimme Botschaft hat vermutlich dazu beigetragen, Viviani
zu der eigentümlichen Kundgebung seiner Gesinnungen zu bestimmen,
die demselben Jahre 1693 angehört. Bei zunehmendem Alter, ge-
schwächter Gesundheit und nähertretender Gefahr des Todes erschienen
ihm ~ das sind seine eigenen Worte — alle anderen Wege verschlossen,
um der Nachwelt gegenüber von den Wohltaten, die ihm im Leben
zuteil geworden, Zeugnis abzulegen. ^ So entschloß er sich, ermutigt
durch die Zustimmung des Erbprinzen Ferdinand, den lange gehegten
^ Brief Baldigianis vom 25. Jan. 1693, mitgeteilt in Favaro, Miscellanea
Galilciana inediti p. 456. Auf die auch gegen Galileis Wissenschaft erhobene
Anklage, von der hier berichtet wird, antwortet Viviani in den im Folgenden
zu berührenden im gleichen Jahr 1693 verfaßten Inschriften. Nachdem er
Galileis Verdienste um die Anwendung von Experimenten und geometrischer
Wissenschaft zur Begründung einer neuen Physik gerühmt, fährt er fort:
und dieses große Werk hat er immer mit solcher Mäßigung und so fromm
betrieben, daß seine philosophischen Lehren sich für diejenigen, die nicht
entweder verkehrt interpretieren oder mehr wissen wollen, als zu wissen not-
tut, nicht nur keineswegs schädlich, sondern in hohem Maße nützlich erweisen
werden."
^ Vergl. den Anhang der in der Note der folgenden Seite zitierten Schrift.
Die Stelle ist abgedruckt bei Nelli p. 856.
— 236 —
Gedanken einer Verherrlichung Galileis in Verbindung mit der schul-
digen Ehrenbezeugung gegen „den großen König Ludwig" in ab-
gekürzter Form und gewissermaßen in beschränkter Öffentlichkeit,
aber in tunlichster Beschleunigung zur Ausführung zu bringen. Wie
er vor allem übrigen in übertreibender Dankbarkeit ausspricht, hatte
das ehrenvolle Jaliresgehalt, das ihm Ludwig XW. gewährt, ihn in
den Stand gesetzt, ein Haus in der Via Amoris in Florenz zu erwerben
und nach seinem "Wunsche umzubauen. Die Außenseite dieses Hauses
sollte der Welt seine Gesinnung offenbaren, sie tut es bis auf den heu-
tigen Tag. Über dem Haupteingang sieht man eine von dem Bildhauer
Foggini nach einem älteren Original gefertigte Bronzebüste Galileis,
zu deren Seiten umfassende Inschriften, die dem königlichen Wohl-
täter danken, die Großherzöge Ferdinand und Cosimo als hohe Gönner
des Erbauers ehren, vor allem aber den Ruhm des Meisters verkünden,
in hohen Worten den Denker und Forscher, den Lehrer und Schrift-
steller wie den im Leben und Sterben gläubig-frommen Christen
Galilei preisen.
Acht Jahre später, im 80. Jahre seines Lebens, ließ Viviani im
Anhang seiner letzten, dem König Ludwig gewidmeten Schrift^, den
Wortlaut dieser Lischriften abdrucken, um, \Yie er sagt, auf diese
Weise dafür zu sorgen, daß ihr Inhalt sich unter den Auswärtigen,
die nicht auf Reisen gehen, verbreite und damit sie in unvergänglichem
Andenken der Gelehrten bleiben mögen, wenn auch einmal durch
die zerstörende Zeit oder nach dem Willen eines späteren Besitzers
die Marmorbuchstaben vernichtet werden soUten.
Durch ein besonderes Imprimatur für diesen Anhang hat die
Florentiner Inquisition auscb-ücklich auch dem Inhalt der Gedächtnis-
tafeln ihre Zustimmung ausgesprochen und die Verteilung gesonderter
Abdrücke gestattet.- Eine Beziehung der Inschriften zu der voran-
gehenden mathematischen Schrift Vivianis ist in der Tat nicht vorhan-
^ V. Viviani de locis solidis secunda divinati geometrica in quinque
libros iniuria temporum amissos Aristaei senioris geometrae Florentiae 1701.
2 Die Abdrücke erschienen unter dem Titel: Grati animi monumenta
Vincentü Viviani in praeceptorem Galilaeum lyncaeum, Ferdinandum II
et Cosmum III mm. dd. Etruriae et Ludovicum magnum GaUiarum et
Navarrae regem christianissimum uti fuerunt inscripta Florentiae, in fronte
aedium a Deo datarum anno salutis 1693. Florentiae apud Petriim Antonium
Porigonei.
— 237 —
den; dagegen liest man nicht ohne Nutzen auch für das Verständnis
des Anhangs die Widmung an der Spitze des Buchs. Unter den
Kuhmestiteln Ludwigs XIV. steht hier in erster Linie die Unermüd-
hchkeit in der Ausrottung innerer Ketzerei; der allerchristlichste
König wii'd als „schützender Genius für den orthodoxen Glauben"
gepriesen. Wer in solcher Weise die Aufhebung des Edikts von
Nantes als Heldentat feiert, was wird er der Welt von Galileis Kampf
für die von römischen Kongregationen verbotene Wahrheit zu sagen
haben ?
In der Tat, die Tafeln an dem Hause der Via Amoris scheinen
von solchem Kampfe und solcher Wahrheit nichts zu wissen. Von dem
Wenigen, was noch die Handschritt von 1654 teils berichtet, teils
durch Andeutungen verrät, ist im Verlauf des folgenden halben Jahr-
hunderts kaum die Andeutung übriggeblieben. In den einleitenden
Worten der ersten Inschrift, wie der Abdruck vom Jahre 1701 sie
wiedergibt, \md der Gedanl^e an den Copernicus kurz beseitigt, ohne
daß auch nur der gefährliche Name genannt würde. „Auf der steilen
Bahn zur Erforschung der Wahrheit", heißt es hier, „geleitete ihn
stets ein frommer Sinn, so daß er, was er über die Flut des Meeres
und das System des Philolaus nur zur Übung des Geistes (was be-
sonders sein Brief an (Jhristina von Lothringen beweist) ersonnen
hatte, willigen Gemüts der Rehgion zum Opfer brachte."
Nur zur Übung des Geistes! So weit war man also 60 Jahre
nach Galileis Tode gekommen! Dieselbe Gedächtnistafel, die mit
Eifer unbegründete, von neidischen Widersachern verbreitete Zweifel
an Galileis ehelicher Geburt widerlegt, die über die Stunde dieser Geburt
vermeintUch gewissenhafteste Berechnungen bietet, um außer Frage
zu stellen, daß sie mit der Todesstunde Mchelangelos zusammen-
traf, die der Welt über Galileis frommes Sterben in ängstlicher Um-
ständlichkeit Bericht erstattet — sie hat füi' das, was ihm „grandissimo"
hieß, nur das kurze verneinende Wort.
Daß auch hier Viviani sich selbst der eigentliche Zensor gewesen
ist, daß kein fremder Wille ihn genötigt hat, eine so unzweideutige
Verleugnung des Glaubens an die Bewegung der Erde seiner Lobrede
vorauszuschicken, beweist dem, der es bezweifeln möchte, das hand-
schriftliche Original seiner Veröffentlichung, das dem Inquisitor vor-
gelegen hat und, mit dessen Abänderungen und Streichungen ver-
sehen, noch heute in Florenz bewahrt wird. So gründlich hat Vi\iani
— 238 —
die Sclbstlvritik geübt, daß nur noch hier und dort ein übertriebener
oder der kii-chlichen Anschauung ^^^derstrebende^ Ausdruck dem Ver-
treter der Inquisition zu Bedenken Anlaß geben konnte, so, wenn der
Lobredner Galileis Lebenswandel „Heiligkeit atmen" sieht, oder wenn
er die verborgenen Dinge, die Galilei den Menschen enthüllt, ihrer
Existenz nach als „so alt, wie die Gottheit" — Deo coaeva — be-
zeichnet. Abgesehen von den Änderungen des Zensors an derartigen
Kleinigkeiten des Ausdrucks muß der gesamte "Wortlaut der Inschrift,
wie sie im Anhang der Schrift „de locis solidis" gedruckt ist und
damit alles, was in ihm der geschichtlichen Wahrheit -widerspricht,
als Vivianis geistiges Eigentum betrachtet werden; ersichtlich hat
er dem Verlangen, Galileis Leben ,,Heihgkeit atmen" zu lassen, wesent-
lich mehr noch als in der Lebensbeschreibung für den Prinzen Leopold
die Wahrheit, die er kannte, willig geopfert.
Es ist vielleicht nicht überflüssig, hier einen Zweifel auszuschlie-
ßen, der zugleich früheren Bemerkungen dieser Blätter gegenüber
sich erheben ließe und bei solchen Gelegenheiten zum mindesten
nicht ausdrückhch zu Worte gekommen ist.
Die geistige Entwicklung zweier Jahrhunderte trennt die Gegen-
wart von den Tagen, in denen Viviani seine Gedächtnistafebi entwarf;
liegt nicht in so unermeßlichem Wandel der Zeiten, der völligen
Unvergleichlichkeit der Becüngimgen des Lebens und Denkens, in
der Schwierigkeit, einer so fernen Vergangenheit gerecht zu werden,
ein di'ingender Grund, dem Manne gegenüber, dessen Leben \yie kein
anderes von selbstloser Pietät erfüUt gewesen ist, ein Urteil zurück-
zuhalten, das auf den Vonmrf bewußter Unwahrheit hinausläuft?
Oder kurz gesagt: ist denn verbürgt, daß Vivianis Äußerungen nicht
auf einer wohlbegründeten Überzeugung beruhten? Darauf ist vor
allem zu erwidern, daß ohne allzugründliche Erforschung der Quellen
Vivianis Landsleute, solange eine freie Meinungsäußerung in Italien
gestattet ist, als gewiß betrachtet haben, was eine solche Frage in
Zweifel stellt. Von den Vielen, die den letzten Schüler Galileis seit
jener Zeit getadelt und verteidigt, hat niemand als denkbar angesehen,
daß er nicht im innersten Herzen das Urteil von 1633 für ungerecht-
fertigt, den Verzicht, von dem er redet, für unmöglich gehalten und
an die Wahrheit der copernicanischen Lehre fest geglaubt hätte.
Was man in solcher Weise fast instinktmäß festgehalten, findet in
neueren Zeiten um so vollere Bestätigung, je mehr aus den übrig-
— 239 —
gebliebenen Briefen, Entwürfen und anderen privaten Aufzeichnungen
Vivianis wahre Gesinnungen bekannt werden.
Ein unzweideutiger Beweis dafür, daß seine gedruckten oder für
den Druck bestimmten Schriften in den Äußerungen über die verbotene
Lehre nicht seiner wahren Denkweise entsprechen, hat sich ergeben,
als man in neuester Zeit auf den Gedanken kam, den Wortlaut der
noch erhaltenen Inschriften an seinem Hause aufzunehmen und der
vermeintlich getreuen Wiedergabe derselben in der mathematischen
Schrift vom Jahre 1701 gegenüberzustellen. Der nach der Aufnahme
des Grafen Paolo GaUetti veröffentlichte Text^ deutet durch einzelne
unverständliche oder inkorrekt erscheinende Stellen an, daß der Zu-
stand der Erhaltung der Inschriften hier und dort einer wortgetreuen
Reproduktion erhebliche SchAvierigkeiten entgegenstellt.^ Mit völliger
Sicherheit aber läßt sich neben mannigfaltigen anderen Abweichungen
auch das der Vergleichung entnehmen, daß die Worte, in denen Viviani
die unwürdige Verleugnung bis zum äußersten treibt, ein Zusatz
des späteren Abdrucks sind. Davon, daß Galilei dem „System des
Philolaus" nur der Übung wegen seine Gedanken widmet, daß ins-
besondere der Brief an Christina von Lothringen diese Tatsache deut-
lich erweise, ist in den Original-Inschriften nicht die Rede; es fehlt
in denselben ebenso bei der Erwähnung der Entdeckungen an den
Planeten und der Bewegung derselben um die Sonne das vielsagende
Wort „tuto'', das diesen Teil der astronomischen Lehren Galileis
als erlaubt bezeichnet^, ohne Zweifel, weil die gleichen Tatsachen
in den Systemen von Tycho Brahe und Riccioli Raum finden. In
den Rücksichten, denen dieses Wort so unzweideutigen Ausdruck
gibt, lag vermutlich auch füi* Viviani die Veranlassung, im Abdruck
von 1701 auszumerzen, was er den schwer zugänglichen Tafeln an-
vertraute: daß Galilei in der Rotation der Sonne die Ursache der
^ Antonio Favaro Inedita Galilaeiana Estr. dal Vol. XXI delle
Memorie del Reale Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti, Venezia
1880 p. 37f.
' Schon Xelli fand die Inschriften ,,mezzi corrosi" und deshalb schwer
zu lesen. Seine Absicht, sie in Marmor reproduzieren zu lassen, scheint un-
ausgeführt geblieben zu sein.
^ Veneris sydus ac etiam Mercurii — — — proprio motu ab occasu
pariter in ortum, vetuti Mars, Jupiter ac Saturnus, Solis globum circumire
tuto Astronomos docuit.
— 240 —
Bewegungen „der Hauptplaneten ihres Systems" in gleicher west
östlicher Richtung erkannt habe.^
Bei alledem enthalten auch die Original-Inschriften keineswegs
eine Rechtfertigung dessen, was Galilei in copernicanischem Sinne
geschrieben, geschweige ein offenes Bekenntnis übereinstimmender
Gesinnung; vde der Wortlaut, den Viviani dem Druck übergeben
hat, legen sie höchsten Nachdi'uck auf Galileis kirchliche Gesinnung
und die Frömmigkeit, die er in seinen letzten Stunden bewährt hat;
nur darin, daß die echten Inschriften ganz verschweigen, was sie
der Wahrheit gemäß nicht sagen dürfen, äußert sich ein vergleichs-
weise freierer Sinn; eben darin aber, daß sie zu schweigen für an-
gemessen halten, wo die Zusätze des angeblich getreuen Abdrucks
den verehrten Meister ausdrücklich verleugnen, bekundet sich zu-
gleich, daß nicht eine mssenschaftliche oder kirchhche Überzeugung
Vivianis seinen unterwürfigen Äußerungen zugrunde gelegen hat.
Nein, in vollem Glauben an die Wahrheit der copernicanischen
Lehre, in der Gemßheit, daß Galilei bis an sein Lebensende sich von
dem gleichen Glauben nicht hat lossagen können, läßt er ihn das
Buch, in dem er den Inbegriff seiner Weltanschauung dargelegt, nur
zur Geistesübung schreiben, will er als seinen höchsten Ruhm ver-
künden, daß er willigen Gemüts der Religion seine Wissenschaft
geopfert hat. Schon dem Tode sich nahefühlend, glaubt dieser treueste
Schüler aUes, was ein Inquisitor fordern könnte, heuchelnd über-
bieten zu müssen, um dann endlich einmal in vollen Tönen alles
übrige verherrlichen zu dürfen, was Galilei der Welt ge-
geben hat.
Wir vermögen heute in dieser Verherrlichung innerhalb der
Grenzen des kirchlich Erlaubten keinen Gewinn zu erkennen, der
des gebrachten Opfers wert ist, aber wir würden uns der Ungerechtig-
keit schuldig machen gegen den Einzigen, der in jenen Tagen Galilei
zu rühmen gewagt hat, wenn wir unbeachtet ließen, was uns mit
seinem Opfer versöhnen kann. Sein Denken beeinflußt und beherrscht
das Bild des einsamen Grabes, in dem getrennt von der Gemeinschaft
gläubiger Christen in ungeweihter Erde die Gebeine des Meisters
1 Es ist hier nachzutragen, daß auch der oben in der Anmerkung auf
S. 235 mitgeteilte Widerspruch gegen das Urteil der Mönche über Galilei
als Physiko-Mathematiker zwar in den Original-Inschriften, aber nicht im
Abdruck von 1701 zu finden ist.
— 241 —
ruhen. Es gab keine Entsagung, die Viviani nicht auf sich genommen
hätte, um dieser Schmach ein Ende zu machen.
Er starb, ohne das Ziel seiner Wünsche erreicht zu haben, am
22. September 1703. Sein Testament ließ erkennen, daß er bis an
sein Lebensende die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, Galilei in der
Kirche Sa. Croce neben dem Grabdenkmal des ]VIichelangelo Buo-
narotti ein würdiges Monument errichten zu können und unter dem-
selben die Überreste seines großen Lehrers zur letzten Ruhe bestattet
zu sehen. „Sollte der Testator", so heißt es in dieser letztwilligen
Verfügung, „der lebhaft empfundenen Pflicht der Dankbarkeit gegen
seinen großen Lehrer im Leben nicht genügt haben, so hinterläßt
und verordnet er, daß sie alsbald nach seinem Tode erfüllt werde;
zugleich bestimmt er in betreff des eigenen Leichnams, daß derselbe
in der genannten Kirche von Santa Croce unter der Statue und dem
Denkmal des vorgenannten großen Galilei begraben werden soll,
neben oder unter dessen Gebeinen, sobald die Überführung derselben
nach jener Stelle stattgefunden haben wird; solange aber seine Ab-
sicht nicht zur Ausführung gebracht ist, will und verordnet er, daß
sein Leichnam neben dem des Herrn Galileo in dem ,, Noviziat der
Conventual-Minoriten"' genannter Kirche in vorläufiger Bewahrung
gehalten werde. ^
Weitere Bestimmungen des Testaments verfügen, daß die Aus-
führung des Monuments in Santa Croce nach den Entwürfen des
Bildhauers Giovanni Battiste Foggini, der bereits eine Statue Galileis
für denselben Zweck gefertigt hatte, unter der Leitung und Ober-
aufsicht von Agostino XelH und mit den Geldmitteln und dem Erlös
aus dem Mobiliarbesitz, die bei dem Tode des Testators sich vorfinden
würden, zu erfolgen habe.
Mehr als ein Menschenalter noch verging nach Vivianis Tode,
bis die öffentlichen Verhältnisse die Ausführung dieser Bestimmungen
gestatteten; solange noch ruhte in selbstgewählter Verbannung der
Schüler neben dem Meister in der abgelegenen Turmkammer von
Santa Croce. Der Letzte, an dessen edlere Neigungen Viviani Hoff-
nungen geknüpft hatte, Erbprinz Ferdinand, starb im Jahre 1713,
ohne zur Regierung gelangt zu sein; noch weitere zehn Jahre über-
^ A. Favaro Documenti inediti per la Storia dei Manoscritti Galileiani
nella Biblioteca Nazionale di Firenze. Roma 1886 p. 46 — 47. Das Testament
ist vom 7. Dezember 1689 datiert.
Wohlwill, Galilei. II. 16
— 242 —
lebte ilin der Vater, Großherzog Cosimo III. und mit diesem das
brutalste aller Regierungssysteme, das Toscana gesehen hat.
So wenig wie Viviani fand auch sein Erbe, der Abt Jacopo Pan-
zanini, den Mut, um Galileis willen mit solcher Herrschaft sich in
Widerspruch zu setzen; es scheint, daß er auf jeden Versuch, die
testamentarische Bestimnnmg zur Ausführung zu bringen, freiwillig
verzichtet hat.
Dagegen unternahm es im Jahre 1717, noch unter Cosimos Ee-
gierung, Salvini, Professor der Moralphilosophie an der Florentiner
Akademie, die Lebensbeschreibung Galileis, wie sie im Jahre 1654
Viviani für den Prinzen Leopold niedergeschrieben hatte, zum Ab-
druck zu bringen. So erfuhr denn die Welt im Jahre 1717, vier Jahre
nach der Veröffentlichung einer zweiten x\uflage der Xewtonschen
Prinzipia philosophiae, durch die für die copernicanische Lehre die
feste mechanische Grundlage gewonnen war, statt des erwarteten
Aufschlusses über Galileis Anteil an der völligen Enthüllung der großen
Wahrheit: daß ,,die ewige Vorsehung ihm gestattet habe, durch diese
Verirrung sich als Mensch zu zeigen".
Aber neben dieser Verleugnung, die noch immer für Italien ge-
boten war und die doch in Italien so wenig wie jenseits seiner Grenzen,
\ieUeicht weniger noch, ii'gend jemand für ernst gemeint hielt, empfing
die Welt zum erstenmal in Vivianis Biographie ein Bild von Galileis
Leben und Wirken, zwar vielfach künstlerisch ausgeschmückt und
von Begeisterung verklärt^, aber in der Hauptsache sorgsam aus den
Quellen geschöpft, wie sie nur dem „letzten Schüler" zu Gebote standen.
So bezeichnet Salvinis Veröffentlichung für Galileis Andenken
den Anfang einer Periode der Wiederbelebung. Schon im folgenden
Jahre erschien in Florenz, unter der Leitung zweier hervorragender
Mathematiker, eine neue, wesentlich vervollständigte Ausgabe der
Werke, an deren Spitze nochmals Vivianis Biographie. Die Vervoll-
ständigung der Florentiner Ausgabe umfaßte einen nicht geringen
Teil der bis dahin ungedruckten von Viviani gesammelten Schriften;
unter diesen erschien hier zum erstenmal der wichtige Brief über die
Entdeckimg der Fallgesetze, den Galilei an Paolo Sarpi gerichtet
hat, — der Name Sarpi blieb dabei ungenannt.
Auch in dieser zweiten Ausgabe fehlen die Schriften, die sich
1 8. Anhang I.
— 243 —
auf die copernicanischc Lehre beziehen. In der gelehrten Einleitung
von Tommaso Buonaventuri wird der „Dialoge" gedacht, um das
mißdeutende Wort eines Kritikers abzuwehren; aber der Verfasser
findet es angemessen, dabei selbst dun Namen des Buches ungenannt
zu lassen, nur von „anderen Dialogen" ist die Rede; und die Ansicht,
die nach den Worten des Verfassers Galilei in dem vierten dieser
„anderen" Dialoge vertritt, ist von ihm bis zur Unverständlichkcit
verdunkelt. Statt von einer Entstehung der Meeresflut durch die
Bewegung der Erde spricht er von der ,, Bewegung der Gewässer
durch das Primum mobile".
Noch immer waren die Dekrete gegen die copernicanische Lehre,
die kirchliche Verurteilung der Galileischen „Dialoge über die beiden
Hauptweltsysteme" in voller Kraft. Vergebens hatte Leibniz bei
seiner Anwesenheit in Rom dafür zu wii'ken gesucht, daß in einer
Angelegenheit, die ihm so völlig ungefährlich schien, der Wissenschaft
freier Raum gelassen, daß die Verdammungs urteile aufgehoben oder
doch nicht in Anwendung gebracht und so in der Stille beseitigt
würden. Wie vor Zeiten Galilei, wies auch Leibniz die einflußreichen
Männer, mit denen er verkehrte, darauf hin, daß es im Interesse der
Kirche liege, nicht bei Unwissenden die Meinung aufkommen zu
lassen, sie beschütze Unwissenheit und Irrtum. Klar erkannte der
große Mann, daß die Unterdrückung der Denkfreiheit wie ein Alp
auf den besten Geistern Italiens lastete, aber seine Bemühungen,
ihnen zu helfen, waren ohne Erfolg.^
Wenn man in Rom nach wissenschaftlichen Beweisen gefragt
hätte, so wäre Bradleys 1729 veröffentlichte Entdeckung der Aber-
ration des Lichts, durch die für alle Kundigen die Bewegung der Erde
um die Sonne außer Zweifel gestellt wurde, für die Notwendigkeit
eines Widerrufs entscheidend gewesen; es ist nicht bekannt, daß man
in den Kongregationen von derartigen Fortschritten der Wissenschaft
Notiz genommen hätte. Die „Dialoge über die beiden Hauptwelt-
systeme" blieben nach Bradleys Entdeckung noch ein Jahrhundert
hindurch ein verbotenes Buch. Dagegen scheint nach dem Tode
Cosimos III. Galileis Person gegenüber eine mildere Stimnmng Raum
gefunden zu haben. Von Einfluß ist dabei vermutlich gewesen, daß
^ Vergl. den Brief von Leibniz an Antonio Magliabecchi vom 30. Okt.
1699 in Clarorum Germanorum epistolae ad A. Magliabecchium nonnullosque
alioB.
16*
— 244 —
in Florenz der letzte Großherzog aus dem Hause der Medici einer
freieren Richtung zugeneigt war, und daß auch in Rom sowohl der
Papst wie der einflußreichste Kardinal dem Florentiner Hause der
Corsini angehörten, in dem eine wohlwollende Gesinnung gegen Galilei
bewahrt wurde. ^ Diese Verhältnisse ermutigten die Vormünder des
jungen Clemens IS^elli, an den im Jahre 1733 Vivianis Erbschaft ge-
fallen war, die Bestimmung des Testaments über die Errichtung
eines Denkmals für Galilei in der Kirche Santa Croce zur Ausführung
zu bringen. Die Vorbedingung dafür war auch jetzt noch die Zu-
stimmung der Inquisition. So begab sich im Juni 1734 der Kavalier
Neroni zum Florentiner Inquisitor, um zu erfahren, ob eine Anordnung
der römischen General-Kongregation der Errichtung im Wege stehe.
Da sich trotz sorgfältigen Suchens im Archiv eine solche Anordnung
nicht fand, richtete der Inquisitor, Bruder Paolo Antonio Ambrogi
an die General-Kongregation in Rom die Frage: wie er sich zu ver-
halten habe. Er versäumte nicht, dabei zu betonen, daß es sich um
ein Denkmal für jemand handle, der seiner notorischen Irrtümer
wegen verurteilt sei. Die Antwort lautete: „Der Inquisitor möge die
Errichtung des Denkmals ungehindert geschehen lassen, dagegen
möge er dafür sorgen, daß ihm die beabsichtigte Inschrift mitgeteilt
werde und sie der Heiligen Kongregation übermitteln, damit dieselbe
vor der Ausführung die angemessenen Befehle erteilen könne. "^
Drei Jahre später, am 12. März 1737, fand die feierliche Über-
führung der Überreste Galileis und Vivianis nach dem Ort des neu-
errichteten Mausoleums im linken Schiff der Kirche St. Croce statt.
Alles, was Florenz an Gelehrten und Freunden der Wissenschaft
umfaßte, hatte sich bei dieser Gelegenheit vereint, um in später Huldi-
gung eine fast hundertjährige Vernachlässigung zu sühnen. ^
Zur Erinnerung an den Tag, der ihr ein lange ersehntes Ende
setzte, wurde von den Mitgliedern der Florentiner Akademie an der
^ Zwei Corsini stehen unter der Zahl der 72 angesehenen Florentiner,
die unmittelbar nach Galileis Tode auf Vivianis Aufforderung Beiträge für
ein ehrenvolles Denkmal zeichneten.
2 Ed. Naz. XIX p. 398; Cioni, J. Documenti Galileiani del S. Uffizio
di Firenze 1908 p. 75—76.
' Über den Vorgang wurde ein ausführliches notarielles Protokoll auf-
genommen, das in Neblis Vita di Galileo Galilei p. 878 u. f. abgedruckt und
von Alberi XV p. 407 u. f. reproduziert ist.
— 245 —
Stätte, die bis dahin Galileis Grab umschlossen hatte, die folgende
Inschrift angebracht:
„Den Leib des großen Mannes, von dessen Geist herrliche Monu-
mente aller Orten den Sterblichen Kunde geben, haben fast ein Jahr-
hundert lang nicht ohne Tränen Gelehrte, Bürger und Fremde, soviel
ihrer in Florenz waren, ungeehrt hier liegen sehen. Im Jahre 1737
endlich, am 12. März abends, wurde er von hier entnommen, um
an würdigerem Orte bestattet zu werden."
Die Worte, die dem neuen Grabdenkmal unter der Statue Galileis
eingefügt wurden, lauteten:
Galileo Galilei
der Geometrie, Astronomie. Philosophie großer
Wiederhersteller,
keinem seiner Zeit vergleichbar,
ruhe hier in Frieden.
In der nüchternen Allgemeinheit dieser Lobeserhebungen hat die
Inquisition keinen Anlaß zum Widerspruche gefunden.
So war das Eis gebrochen. Für die Florentiner wenigstens hatte
das Urteil vom 21. Juni 1633 seine Schärfe verloren, seitdem die
Gebeine des verfolgten Mannes in die geweihten Räume aufgenommen
waren, in denen Niccolo Magliabecchi und Michelangelo Buonarotti
ruhten.
Auch jetzt noch war es nicht Florenz, sondern Padua, wo man
den Plan einer neuen Ausgabe der Galileischen Werke ins Auge zu
fassen wagte, in der die „Dialoge über die beiden Hauptweltsysteme"
nicht fehlen sollten. Es war der Abt Guiseppe Toaldo, der noch in
jungen Jahren sich die Aufgabe stellte, zu verwirklichen, was Viviani
gewollt und solange vergebens erstrebt hatte. Allerdings hätten der
Mut und die Ausdauer des einzelnen Mannes zur Ausführung einer
solchen Absicht nicht genügt, wenn nicht in Rom unter Benedikt XIV.
die Erkenntnis gereift wäre, daß die Verfügungen aus den Jahren
1616 und 1633 nicht länger aufrecht zu erhalten seien. Dem Namen
nach war es der Inquisitor von Padua, der Pater Paolo Antonio
Ambrogi\ dessen Erklärung die Venetianische Staatsbehörde über-
^ Es ist offenbar derselbe P. Ambrogi, der als Inquisitor von Florenz
im Jahre 1734 wegen der Errichtung des Denkmals für Galilei bei der römischen
Generalkongregation angefragt hatte. Vergl. M. Cioni Documenti GalUeiani
del S. Ufficio di Firenze p. 75.
— 246 —
zeuptP, daß Galilris Buch nichts enthalte, was dem heiligen katho-
lischtMi Glauhon zuwidcM-laiifo. und daß deshalb, da in ihm außerdem
auch nichts .u^eijen Fürsien und ,u:iite Sitten cfefunden wurde, der Druck
zu erlauben sei. Aber die Worte, die ati der Spitze des vierten Bandes
der Paduaner Ausi'abe dem Abdruck der ,,Dialop:o" vorangestellt
sind, bezeichnen in unzweideutiger Weise eine Entscheidung, wie sie
nur in Rom getroffen werden konnte.
„Dieser hochberühmte Dialog," sagt das Vorwort an den Leser,
„der so oft in unerlaubter Weise gedruckt worden, erscheint hier
endlich zum freien Gebrauch für jedermann mit den gebührenden
Erlaubnissen."
Wie immer die nachfolgeiulen Sätze diesen feierlichen Eingang
abschwächen mögen — indirekt wenigstens verkündet er eine Auf-
hebung des Verbots von 1633. Die Annahme, daß nur im Palast der
römischen Generalkongregation der Inquisition ein Beschluß in
diesem Sinne gefaßt sein könne, A\ird durch ein Protokoll bestätigt,
das erst vor kurzem aus dem xirchiv der römischen Inquisition ver-
öffentlicht worden ist.^
Das Protokoll vom 9. Oktober 1741 ergibt, daß der Inquisitor
von Padua in einem an die Gencralkongregation gerichteten Schrei-
ben vom 29. September mitgeteilt hatte: Die Drucker des Paduaner
Seminars haben ilm um die Erlaubnis zum Wiederabth-uck sämt-
licher Werke des Galileo Galilei ersucht, unter der Verpflichtung,
alle Erklärungen abzuckucken, die von der Heiligen römischen Kon-
gregation der Inquisition ihnen vorgeschrieben werden würden, und
unter den sonstigen in dem Briefe angegebenen Bedingungen. _
Als der Brief in Rom eintraf, befanden sich die Kardinäle der
Grencralkongregation außerhalb der Stadt, aber es scheint, daß
Papst Benedikt XIV., der seit Jahresfrist den Heiligen Stuhl einnahm,
eine sofortige Erledigung der Angelegenheit für angemessen gehalten
und deshalb ohne die Rückkehr der Kardinäle abzuwarten, einer
Kongregation der Konsultoren der Inquisition die Beantwortung des
1 Ed. Naz. XIX p. 292.
Das Protokoll war in der früheren Veröffentlichung von Auszügen aus
dem Archiv der römischen Inquisition von Silvestro Gherardi (1870) nicht
enthalten. Es Lst — soviel ich sehe — das einzige inhaltlich Neue, was die
autorisierte Veröffentlichung der Ed. Nazionale jener älteren unerlaubten
hinzufügt.
— 247 —
Schreibons übortratron hat. Es waren also nach dem Willen des
Papstes die Sachvorstäiidii^en dos Hoilij^on Officiunis, die in diesem
Falle nicht nur die Sachlae^e der Prüfung,' unterzon^en, sondern auch
selbständit: die iMifschcidinii; trafen. Sie boschlosson, dem Paduanor
Inquisitor zu erwidern: er müf^e den Druck der Galileischen Werke
erlauben, jedoch dabei die Kinhaltun"^ der Bedingungen fordern, die
in seinem IJriefe bezeichnet waren.
Die ,, Dialoge" sind in der Erwiderung der Konsultoron, wie sie
uns vorliof,^. nicht ausdrücklich angeführt, doch ist außer Frage, daß
durch den Beschluß, den Abdruck ,, aller Werke'" zu gestatten, die
Vertreter der röniisch(Mi (ieneralkoni^^reifatidii ihr Einverständnis
damit zu verstehen gaben, daß unter den übrigen auch das verbotene
Werk von neuem abgedruckt würde und daß dies unter den Bedingungen
geschehe, die dem Paduanor Inquisitor zweckmäßig erschienen.
Was waren die Bedingungen, unter denen im Jahre 1744 die
„Dialoge" als ein Buch, das nichts gegen den katholischen Glauben
enthielt, dem allgemeinen Gebrauch wieder zugänglich gemacht wurden
und denen der Abt Toaldo sich zu unterwerfen hatte, als er für seinen
vierten Band das Imprimatur erhielt?
Die Inhaltsübersicht sagt es in lakonischer Kürze. Sie lautet:
Condanna del Galileo
Dissertazione del P. Calmet
Giornata Prima
Giornata Seconda usw.
Dieser Angabe gemäß liest man an der Spitze des vierten Bandes
der Paduanor Ausgabe das Urteil der römischen Inquisition vom
21. Juni 1633 in Ricciolis lateinischer Übersetzung, dazu Galileis
Erklärung, durch die er die Lehre von der Beweguns: der Erde ver-
leugnet und verwünscht. Dann folgt die italienische Übersetzung
der Abhandlung des P. Augustin Calmet „über das Weltsystem der
alten Hebräer'' und dieser der Abdruck der vier Tage des Galileischen
„Dialogs über die beiden Hauptweltsysteme''.
Von besonderem Interesse ist in dieser Anordnung die Einschal-
tung der Dissertazione des P. Calmet z^^^schen der Abschwörungs-
formel und dem ..Dialog". Calmots Schrift erörtert in ähnlicher Weise
wie vor mehr als einem Jahrhundert Galilei und Kepler, Foscarini
und Campanella, daß die Heiligen Schriften in allem, was auf Fragen
— 248 —
der Physik und Astronomio Bezug hat, sich dem Verstand der Menge
anbequeme, auf die sie wirken wollen, was sie demgemäß an kosmischen
Vorstellungen enthalten, sei — wie an vielen Einzelheiten nach-
ge\\iesen wird — weit entfernt, dem System des Ptolemäos zu ent-
sprechen, stimme vielmehr im wesentlichen mit den ersten Anfängen
einer Weltauffassung überein, wie sie aus der Sinneswahrnehmung
des wissenschaftlich unbelehrten Menschen hervorgeht und deshalb
auch von den Vorstellungen der Philosophen anderer alten Völker
nicht wesentlich verschieden ist. In dieser wissenschaftlich betrachtet
rohen Auffassungsweise redeten auch die biblischen Schriften, weil
sie nur so für ihre höheren Zwecke möglichst zahlreiche Hörer ge-
winnen konnten. Es ist demnach diesen Schriften die Wahrheit in
Fragen der Wissenschaft nicht zu entnehmen, noch weniger aber
kann es deshalb gestattet sein, wenn spätere Forschungen als unrichtig
erscheinen lassen, was sie über natürliche Dinge aussagen, deswegen
ihre Berichte auch da für weniger glaubwürdig zu halten, wo sie ihren
eigentlichen Gegenstand, das Heil der Seelen berühren.
Was immer die Wissenschaft über die Bewegung der Erde lehre
— das war der Kern dieser Ausführungen — und wie weit demnach
ihre Ergebnisse sich von der Naturanschauung der Bibel entfernen
mögen: nimmermehr kann und darf daraus ein Grund entnommen
werden, an dem göttlichen Ursprung der Heiligen Schriften und an
der o\\igen Wahrheit dessen zu zweifeln, was sie in bezug auf die
Angelegenheiten des Glaubens lehren.
Offenbar war es dieser Grundgedanke, um dessentwillen die Ab-
handlung des Pater Calmet der kirchlichen Behörde vorzugsweise
geeignet erschien, zur Verhütung arger Mißverständnisse Galileis
„Dialogen" vorangestellt zu werden, sobald man für angemessen
hielt, ein Buch, das die Bewegung der Erde als Wahrheit zu erweisen
sucht, der Öffentlichkeit nicht länger vorzuenthalten. Schwerlich ist
man sich dabei klar darüber gewesen, daß durch die Auseinander-
setzungen des Pater Calmet gleichzeitig die Berechtigung der Dekrete
gegen die copernicanische Lehre und der Verurteilung Galileis wegen
Zuwiderhandlung gegen eben diese kirchlichen Entscheidungen in
Frage gestellt wurde und daß somit dem unbefangen Vergleichenden
die Möghchkeit geboten war, in der Sentenz an der Spitze des Bandes,
die noch jetzt den Glauben an die Bewegung der Erde mit den schwer-
sten Strafen der Kirche zu bedrohen schien, ein auf Irrtum begrün-
— 249 —
detes Urteil zu losen. War berechtigt und wahr, was der fromme
Benediktiner über die Xaturlehre der Bibel geschrieben hatte, dann
hatte die Inquisition mit Unrecht den Glauben an die Bewegung der
Kn\o als haeretisch betrachtet, mit Unrecht Galilei als der Ilaeresic
verdächtig verurteilt.
Von solcher möglichen Folgerung und Nutzanwendung hält sich
freilich das Vorwort des Paduancr Plerausgebers so fern wie möglich.
„Was die Hauptfrage von der Bewegung der Erde betrifft," heißt es
hier nach den schon angeführten einleitenden Worten, „so schließen
auch \dr uns dem Widerruf und der Verwahrung des Verfassers an
und erklären auf das feierlichste, daß diese Lehre nicht anders denn
als rein nuithematische Hypothese zugelassen werden kann und darf,
die dazu dient, gewisse Erscheinungen leichter zu erklären. Wir
haben deshalb die Inhaltsangaben am Rande beseitigt oder in hypo-
thetische Form gebracht, so weit sie nicht durchaus unentschieden
waren oder schienen, und aus demselben Grunde haben wir die Disser-
tation des P, Calmet hinzugefügt, in der der Sinn der Schriftstellen,
die auf diesen Gegenstand Bezug haben, dem allgemeinen katholischen
Glauben gemäß erklärt wird."
Ausdrücklich schließt der Herausgeber in seine Verwahrungen
die Zusätze ein, die er nach Galileis handschriftlicher Eintragung in
einem Exemplar des Paduaner Seminars in seinen Abdruck der
„Dialoge" aufgenommen hat; er wiederholt für diese, was er für den
ganzen Dialog erklärt hat, „weil er auch nicht im kleinsten von den
verehrten Vorschriften der Heiligen römischen Kirche abweichen will".
So sollte denn mit kirchlicher Erlaubnis der Dialog gelesen werden
können, wie Galilei ihn geschrieben hatte, aber auch jetzt noch nach
allen außerordentlichen Fortschritten der Wissenschaft sollte man
wie in Galileis Tagen, die Gründe für die Wahrheit kennenlernen
und für verboten halten, sie als Wahrheit anzuerkennen. Und der
Herausgeber vom Jahre 1744 unterwirft sich diesem Zwange, den
hundertunddroißig Jahre zuvor Galilei unerträglich gefunden und
doch ertragen hatte.
Belanglos ist — was aus den heute zugänglichen Quellen nicht
entschieden werden kann — , ob etwa Abt Toaldo, um das Wesent-
liche, die Aufnahme der Dialoge in die Gesamtausgabe zu erreichen,
im Geiste seines Zensors ausgedacht und angel)oten hat, was diesem
als Bedingung der Erlaubnis befriedigend erscheinen konnte, ob er
— 250 —
zögernd oder widerwillig seiner Forderung nachgegeben oder ob viel-
leicht in gemeinsamer Erörterung beider die seltsame Form der Ver-
öffentlichung zustande gekommen ist. Unwahre Verhüllung war in
jedem Falle auch jetzt noch die Voraussetzung, unter der die Wahr-
heit zu Worte kommen durfte, Unwahrheit, was gefordert und zuvor-
kommend oder widerstrebend zugestanden wurde. Wie wenig es
dem Herausgeber Ernst damit war, sich auch dem Sinne nach der
Entsagung der Abschwörungsformel anzuschließen, beweist schon der
Gedanke, der wohl auf seine Rechnung geschrieben werden muß:
neben dem unveränderten Text der ,, Dialoge" Galileis Inhaltsangaben
am Rande in hypothetische Form zu bringen und nötigenfalls zu
streichen, mehr noch die Ausführung dieses Gedankens. Wörtlich
ist allerdings in dem Abdruck der Dialoge das Versprechen des Vor-
worts erfüllt; wo irgend in den kurzgefaßten Angaben der Original-
Ausgabe über die Bewegung der Erde mit Zuversicht geredet, die
wirklichen oder vermeintlichen Beweise als überzeugende Bestäti-
gungen der Wahrheit gekennzeichnet werden, da ist durch die Korrektur
die Ge\dßheit zur Vermutung, der starke Beweis zur Wahrscheinlich-
keit abgeschwächt, die entschiedene Behauptung zur Andeutung der
Möglichkeit herabgedrückt, hier und dort vermittelst eingreifender
Änderung des Wortlauts, nicht selten durch Einschaltung oder Weg-
lassung eines einzelnen Worts, Wenn beispielsweise Galilei am Rande
den Inhalt seiner wichtigsten Ausführungen in die Worte zusammen-
faßt: wenn an den Fixsternen irgendeine jährliche Veränderung
wahrgenommen würde, so wäre die Bewegung der Erde unwider-
sprechlich be^^1esen — ist im Dialog von 1744 die völlig zuversicht-
liche Behauptung durch ein zwischen Vorder- und Nachsatz ein-
geschaltetes se in eine Frage verwandelt.^ Wo aber der Wortlaut
durch Abänderung, Einschaltung oder Auslassung eines einzelnen
Ausdrucks nicht leicht in gewünschter Weise verbessert werden kann,
so wenn Galilei sagt: „töricht erscheint, zu sagen, daß die Erde außer-
halb des Himmels ist"^ oder „die Sonne selbst bezeugt, daß die jähr-
liche Bewegung der Erde zukommt"^, da ist die Angabe am Rande
1 Quando nelle stelle fisse si scorgesse alcuna mutazione annua, se il
moto della Terra non patirebbe contradizione (Edizione Naziouale VII p. 413,
Ed. Padovana IV p. 275.
2 Ed. Naz. VII p. 292, Padovana IV p. 194.
3 Ed. Naz. VII p. 372, Padovana IV p. 248.
— 251 —
voUtsändig weggelassen. Jede vorgenommene Veränderung ist aber
an der betreffenden Stelle durch Sterne angedeutet; einer oder zwei
bezeichnen die Verbesserung, vier die vollständige Auslassung. Da
nun aber die Veränderungen nur die Inhaltsangabe betroffen haben,
während die Erörterungen, auf die sie sich beziehen, im ursprünglichen
Wortlaut stehengeblieben sind, so ist der Leser des Dialogs von 1744
nicht allein nicht gehindert, mit Galileis Beweisführung zugleich in
seinen Worten seine Schätzung der vorgetragenen Argumente keimen
zu lernen, zu erfahren, wo er nur vermutet, wo er glaubt und
wo er unwidersprechliche Wahrheit sieht, sondern er wird auch durch
die Sterne am Rande ausdrücldich auf die Stellen hingewiesen, in
denen mehr oder minder kräftig hervorgehoben wird, was für die
Wahrheit der Lehre von der Erdbewegung spricht; er braucht nur
der Andeutung der vier Sterne zu folgen, um zu finden, was zumeist
Galileis Überzeugung begründet und befestigt hat und wo er sie
lebhaft und rückhaltslos zum Ausdruck bringt.^ Und sollte er neu-
gierig zu wissen verlangen, wie die gestrichene oder veränderte Stelle
im Original gelautet hat, so kann er auch das ohne besondere Mühe
erfahren; denn in Galileis Register sind die Inhaltsangaben, wie sie
am Rande verzeichnet stehen, in alphabetischer Anordnung zusammen-
gefaßt, und dies Register ist auch in der Paduaner Ausgabe unver-
bessert abgedruckt.^
Darf man glauben, daß die Form, in der so tatsächlich die,, Dia-
loge" gedruckt wurden, nicht durchaus der Absicht der Inquisition
entsprach, so war doch die freiere Verwertung der einmal gewährten
Erlaubnis durch den Herausgeber ein verhältnismäßig Geringes gegen
das Zugeständnis, das man \vissentlich und ausdrücklich in Rom
wie in Padua dem Wandel der Zeiten, der Wissenschaft des achtzehnten
Jahrhunderts gemacht hatte. Mochte der Vf ortlaut der Bedingungen,
1 In einzelnen Fällen findet man die vier Sterne neben derartigen Aus-
führungen auch, wo das Original keine Inhaltsangabe hat, also auch zur An-
deutung der Zensur keine Veranlassung gibt.
^ Dem widerspricht die Angabe Venturis in seinen Memorie e Letterc
inedite di Galileo Galilei Modena 1821 Vol. II p. 118, nach der in der Paduaner
Ausgabe das Inhaltsverzeichnis weggelassen wäre. Ich muß dahingestellt sein
lassen, ob dies für einen Teil der Exemplare zutrifft. In dem mir vorliegenden
Exemplar der Hamburger Stadtbibliothek ist der Index der Original- Ausgabe
von 1632 vollständig abgedruckt.
— 252 —
an die man die Erlaubnis knüpfte, an die Erklärungen und die Dekrete
aus den Tagen Bellarmins und Urbans erinnern — die Lage der Dinge
hatte ihre Bedeutung verändert. Auch Galilei hatte sich bereit erklärt,
an seinem Werke zu ändern, wegzunehmen und hinzuzufügen, was
man verlangte; auch er hatte feierlich erklärt, daß er nicht für wahr
halte, was er als wahr erweist, und doch genügte, daß man fand: er
habe tatsächlich in seinem Buche die Bewegung der Erde verteidigt,
um ihn zu verurteilen und sein Buch auf die Liste der verbotenen
Bücher zu setzen.
Und nun erschien als ausreichend, daß dem verbotenen Buch
ein Abdruck des alten Verbots vorangestellt und ungefähr mit Galileis
Worten der Glaube an die Ki'aft seiner Beweisführung verleugnet
wurde, damit dem verbotenen Buch bescheinigt wurde, daß es nichts
gegen den katholischen Glauben und nichts gegen Fürsten und gute
Sitten enthalte und daß es deshalb mit allen kirchlichen und staat-
lichen Erlaubnissen gedruckt und gelesen werden könne.
Mit allen Zutaten und Verwahrungen beweist die Aufnahme der
„Dialoge" in eine Gesamtausgabe der Gahleischen Werke, daß die
Zeit der Befreiung auch für die italienische Wissenschaft gekommen
war; aber vollständig war freilich diese Befreiuung auch jetzt noch
nicht. Die Paduaner Ausgabe, die im größeren Teil ihrer di"ei ersten
Bände den Text der Florentiner Zusammenstellung vom Jahre 1718
getreulich reproduziert, druckt auch die historisch ergänzenden Ab-
schnitte ab, in denen hier die wichtigsten Tatsachen der Beobachtung
und der Erkenntnis mitgeteilt waren, durch die Galileis Nachfolger
seine Forschungen vervollständigt und im einzelnen berichtigt hatten.
Kaum irgendwo wäre zu derartiger Ergänzung dringendere Ver-
anlassung gewesen, als im Bereich der Forschungen, die den Gegen-
stand des hinzugefügten vierten Bandes bilden. Aber eine Zusammen-
stellung des Wichtigsten, was in diesem Gebiet nach Galileis Tode
geschehen w^ar, hätte von Fortschritten berichten müssen, durch die
der Glaube an die Wahrheit sowohl der täglichen ^vie der jährlichen
Bewegung der Erde sich in dem Maße verstärkt hatte, daß es kaum
noch eine Astronomie außerhalb der copernicanischen Lehre gab.
Von solchen Fortschritten reden, sie in ihrer Bedeutung würdigen,
hieß zugleich, ohne es auszusprechen, verständlich machen, daß man
mit Unrecht Galilei verurteilt hatte, der sich zur Aufgabe gestellt,
die Eärche vor irrtümlicher Entscheidung zu bewahren. Man versteht.
— 253 —
daß die Paduanor Ausgabe einen historisch ergänzenden Abschnitt
in ihrem vierten Bande nicht enthält.
Ohne Zweifel war es jene außerordentliche Erweiterung der wissen-
schaftlichen Erkenntnis, um derentwillen man in Rom im Jahre 1741
für angemessen hielt, den Abdruck der verbotenen „Dialoge" zu ge-
statten. Um des gleichen Grundes willen den Irrtum der früheren
Entscheidungen zuzugestehen, das Verbot ausdrücklich zurück-
zunehmen, hielt man nicht für zulässig. So ergab sich der dreifache
Widersinn einer Veröffentlichung, wie ihn der vierte Band der Paduaner
Ausgabe bietet, des wörtlichen Abdrucks eines verbotenen Buches,
das man durch die vorangestellte Sentenz für nach wie vor verboten
und doch in aller Form für erlaubt erklärte, der Einschaltung einer
autorisierten Erörterung über die Naturlehre der Bibel, die die Aus-
führungen der wörtlich mitgeteilten Sentenz der römischen General-
kongregation und des in ihr enthaltenen Verbots verfehlt erscheinen
ließ, der nachch'ücklichen Beschränkung der Zulassung der coper-
nicanischen Lehre auf hypothetische Benutzung in den Vorbemer-
kungen zu einem Buche, das in allen Teilen ihre Wahrheit verteidigte
und das in einem Augenblicke, wo man den Beweisen für die Wahr-
heit sich nicht länger zu entziehen vermochte.
Eine einfache Konsequenz der Überlegungen, die zur Entschei-
dung vom Jahre 1741 geführt hatten, war der Beschluß, den am
10. Mai 1757 im letzten Lebensjahr Benedikts XIV. die Kongre-
gation des Index faßte. Seit der Verurteilung der copernicanischen
Lehre hatten sämtliche Ausgaben des Index der verbotenen Bücher
im Anschluß an die namhaft gemachten Werke des Copernicus
und seiner bekanntesten Anhänger als gleichfalls verboten bezeichnet:
„sämtliche Bücher, die dasselbe lehren". Als nun im Jahre 1757 eine
neue Ausgabe des Index erforderlich geworden war, wurde unter
Zustimmung Benedikts XIV. beschlossen, dies allgemeine Verbot der
Bücher, die die Bewegung der Erde lehren, wegzulassen. Die im
folgenden Jahre erschienene neue Ausgabe des Index enthält dem-
gemäß das allgemeine Verbot nicht mehr; ausdiäicklich verboten
blieben dagegen wie zuvor das Werk des Copernicus, Keplers Epitome
Astronomiae Copernicanae, die Schriften des Foscarini und Didacus
a Stunica und Galileis Dialoge.
War denn nun verboten oder erlaubt, die Bewegung der Erde
zu lehren oder sich zur Lehre des Copernicus zu bekennen? — so
— 254 —
konnte zweifeln, wer in der Padiianer Ausgabe, ohne besonderer
kirchlicher Erlaubnis zu bedürfen, Galileis Beweisführung kennen-
lernte und dann doch aus eben diesem Band erfuhr, daß er Verbotenes
und von Galilei selbst Verleugnetes gelesen habe und daß man von
der Erdbewegung nur wie von einer mathematischen Hypothese reden
dürfe. Und mehr noch mußte er sich unlösbarem Zweifel preisgegeben
sehen, wenn er nunmehr erfuhr, daß keineswegs alle Bücher verboten
sein sollten, die von der Bewegung der Erde reden oder diese Bewegung
lehrend vortragen und daß doch Copernicus, Kepler und — trotz
der Paduaner Ausgabe — Galileis Dialoge verboten bleiben sollten.
So hat man in der Tat bis ins 19. Jahrhundert hinein gezweifelt.
Es fand sich in jenen Tagen unter den italienischen Gelehrten niemand,
der die Unwürdigkeit dieses Zustandes halber Freiheit stark genug
empfunden hätte, um auch nur in Worten sich dagegen aufzulehnen,
niemand, den Galileis Leidenschaft für die Wahrheit beseelte, nie-
mand, der auch nur wie Vincenzio Viviani in Furchtsamkeit und
Unterwürfigkeit unermüdlich das erstrebte Ziel verfolgt hätte.
Nur von einem Franzosen, dem Astronomen Lalande weiß man,
daß er im Jahre 1765 bei einem Aufenthalt in Rom sich dafür ver-
wandt hat, daß Galileis ,,Dialog"i aus der Zahl der verbotenen Bücher
gestrichen werde. Lalande berichtet, daß der Kardinalpräfekt der
Indexkongregation ihm auf eine Anregung in diesem Sinne ent-
gegnet habe: gegen Galilei sei ein Dekret der Kongregation des Hei-
ligen Officiums ergangen, das zuvor geändert werden müßte} Papst
Clemens XHL, dem Lalande davon sprach, schien ihm sehr geneigt,
„um der Wissenschaft und der Gelehrten willen" auf die Änderung
einzugehen, aber Lalande hatte nicht die Zeit, „eine Verhandlung
zum Ziele zu führen, deren Entscheidung von zuviel einzelnen Per-
sonen abhing".
Seine Erzählung beweist, daß im wesentlichen formelle Hinder-
nisse einer Beseitigung der Unsicherheit im Wege standen, unter
der auch nach der Aufhebung des allgemeinen Verbots italienische
Gelehrte zu leiden hatten, die sich mit der Kirche nicht in Wider-
spruch setzen w^oUten. Daß bis ins volle 19. Jahrhundert hinein
diese Unsicherheit, aber auch die Geistesabhängigkeit der Gelehrten
bestand, die an ihr den Hauptanteil hatte, beweist die Mailänder
1 Lalande sagt „Galileis Werke".
— 255 —
Ausgabe der Galilcischen Werke, die in ihrem 11. und 12. Bande
im Jahre 1808 die „Dialoge über die beiden Hauptweltsysteme"
in genau derselben Form und Umrahmung brachte, wie der vierte
Band der Ausgabe von Padua sie dargeboten hatte. Die Herausgeber
hatten, wie sie in einem Vorwort mitteilen, ursprünglich an eine
neue Anordnung der Werke gedacht, hatten sich auch dafür die Unter-
stützung tüchtiger Mathematiker gesichert; sie fanden aber, als sie
ans Werk gingen, das Unternehmen zu sch^nerig. Auf den Rat des
Abts Francesco Venini kamen sie zu dem Entschlüsse, von der
Paduaner Ausgabe in keiner Weise abzuweichen. So findet man denn
auch in dieser vierten Ausgabe vor den ,, Dialogen" das Urteil der
Inquisition, das sie verbietet, und Galileis Erklärung, in der er die
eigene Lehre verwirft und verwünscht, aber auch die Erklärung des
Paduaner Herausgebers, die sich dieser Verurteilung anschließt, und
die Abhandlung des Pere Calmet, der man entnehmen kann, daß
zur Verurteilung der copernicanischen Lehre und zum Verbot der
„Dialoge", die sie verteidigten, kein Grund vorhanden gewesen war.
Es ist kaum möglich, die stumpfe Indolenz, zu der unter der
Herrschaft der Inquisition das Geistesleben in weiten Kreisen des
italienischen Volkes hinabgedrückt war, schärfer zu charakterisieren
als durch diese gleichgültige Wiederholung der widersinnigen Ver-
öffentlichung von 1744 nach einem weiteren halben Jahrhundert des
gewaltigsten Fortschritts der Wissenschaft. Auch im Jahre 1808
hielt man sich in Mailand nur dann für sicher, nicht Unerlaubtes zu
wagen, wenn man über die damals gezogenen Grenzen nicht hinaus-
ging-
Und doch beweisen die Beispiele vereinzelter unabhängiger oder
wenigstens minder abhängiger italienischer Denker, daß es in jenen
Tagen auch unter der Herrschaft der Inquisition nur darauf ankam,
mehr zu wagen, um mehr erlaubt zu finden. Ohne von den kirch-
lichen Behörden behindert zu sein, wagte Guglielmini in Bologna,
durch Fallversuche die tägliche Bewegung, Calandrelli durch Be-
mühungen um die Bestimmung der Parallaxe der Fixsterne die jähr-
liche Bewegung der Erde als Wahrheit zu erweisen, so daß nun endlich
auch italienische Namen sich der langen Reihe der Forscher an-
schließen, die nach Galileis Tode fast ausschließlich außerhalb Italiens
die Erkenntnis des Copernicus zur festen Grundlage aUer natur\vissen-
schaftlichen AVeltanschauung erweitert hatten. Noch immer aber
— 256 —
war der Aufhebung des ganz allgemeinen Verbots nicht die unbedingte
Erlaubnis gefolgt, die halbe Befreiung nicht zur vollen Freiheit des
Denkens über das Weltgebäude ergänzt; eine neue Ausgabe des Index
vom Jahre 1819 brachte, wie ihre Vorgänger seit dem Jahre 1616,
die Titel der fünf Werke als nach wie vor verboten.
So konnte auch noch im selben Jahr 1819 der Meister vom Hei-
ligen Palast dem römischen Professor und Kanonikus Guiseppe Settele
für den zweiten Band seines Lehrbuchs der Optik und Astronomie
die Erlaubnis versagen, weil in demselben die Lehre von der Bewegung
der Erde nicht als bloße Hypothese, sondern als wissenschaftliche
Wahrheit vorgetragen war. Aber die Zeit war gekommen, in der
auch in Rom der Widerstand eines einzelnen Mannes genügte, um
die längst unhaltbar gewordenen Deki'ete aus dem 17. Jahrhundert
zu Fall zu bringen. Guiseppe Settele war kein wagemutiger, rück-
sichtsloser Vorkämpfer der freien Wissenschaft. Er hatte, ehe er
schrieb, sich an den Gehilfen des Kommissars der römischen Inquisition,
den Dominikanerpater Maurizio Olivieri mit der Frage gewandt, ob
er offen von der Bewegung der Erde reden könnte; er hatte sein
Buch geschrieben, nachdem Olivieri bejahend geantwortet hatte.
OUvieri war es dann, der ihn ermutigte, sich bei der Weigerung des
Padre Maestro del Sacro Palazzo nicht zu beruhigen. Auf seinen Rat
reichte Settele zunächst beim Papst ein Promemoria ein, in dem er
unter eingehender Begründung bat, die Inquisition zur Prüfung seines
Falls zu veranlassen. Seine Eingabe führte zu den entscheidenden
Beschlüssen vom September 1822, durch die in aller Form der Druck
und die Veröffentlichung solcher Bücher gestattet wurde, die nach
der gemeinsamen Ansicht der heutigen Astronomen von der Bewegung
der Erde und dem Stillstand der Sonne handeln.^
Li dem Promemoria, das Guiseppe Settele der Generalkon-
gregation der römischen Inquisition überreicht hatte, war zur Recht-
fertigung einer Entscheidung in diesem Sinne geltend gemacht, daß
sie keineswegs die entgegengesetzten zu Galileis Zeiten gefaßten
Beschlüsse als zu Unrecht ergangen erscheinen lasse, da die coper-
nicanische Lehre, wie sie im 19. Jahrhundert vorgetragen werde, eine
wesentüch andere sei, als diejenige, die man zu jener Zeit verurteilt habe.
^ Antonio Favaro, L'ultima fase della lotta contra il Sistema Copper-
nicano in Nuovi Studi Galileiani, Venezia 1891 p. 421 u. f.
I
— 257 —
Was dann zu weiterer Begründung dieser Ansicht angeführt wird,
sind fast ausschließlich solche Fortschritte in der astronomischen
und physikalischen Erkenntnis, die schon in der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts gewonnen waren, also Beweise für die zweifache
Bewegung der Erde, wie man sie mit gleichem Recht fast hundert
Jahre früher zur Rechtfertigung eines Beschlusses hätte anführen
können, wie er tatsächhch erst im September 1822 gefaßt wurde.
So kann uns heute die Genugtuung seltsam berühren, mit der der
Kanonikus Settele in seinem Tagebuch unter den Handlungen, die
ihm zur Ehre gereichen, in erster Linie anführt: daß er zu jenem ver-
späteten Beschlüsse der Inquisition Veranlassung gegeben habe.^ Aber
die Geschichte der beiden Jahrhunderte, die seit dem Verbot von
1616 verflossen waren, rechtfertigt seine Selbstzufriedenheit. Wohl
standen, als er dem vereinsamten Vertreter einer abgestorbenen Welt-
anschauung entgegentrat, alle Wissenden der Gegenwart hinter ihm,
aber er, als Einzelner, hat ernstlich gewollt und dadurch bewirkt,
was Leibniz und Lalande vergebens erstrebt hatten.
Daß es notwendig sei, dem Widerspruch gegen die Wissenschaft
ein Ende zu machen, hatte man in Rom begriffen, den begangenen
Irrtum einzugestehen, hat man sich nicht entschließen können. In
der Stunde, in der man den Glauben an die Bewegung der Erde für
erlaubt erklärte, beginnt das Bemühen, in neuer Weise durch unwahre
Darstellungen der geschichtlichen Sachlage das Verfahren gegen
Galilei und die Unterdrückung seiner Lehre als wohlbegründet er-
scheinen zu lassen. Zugleich mit der Nachricht von dem ersten be-
freienden Beschlüsse ließ der Sekretär des Heiligen Officiums den
Kanonikus Settele wissen, daß die Kongregation ihm anheimgebe,
in einer Einschaltung in seinem Buche Tatsachen anzuführen, die
zum Beweise dafür dienen, daß das copernicanische System, wie man
es zurzeit verteidige, von demjenigen verschieden sei, das man als
Gahleis Lehre verurteilt habe, das heißt, daß es nicht mehr die Ab-
surditäten in philosophischer Beziehung darbiete, wie man sie zu
jener Zeit darin fand; über die Abfassung dieser Einschaltung möge
er sich mit dem Barnabiten P, Grandi und dem P. Olivieri ins Ein-
vernehmen setzen. Settele konnte um so weniger Bedenken tragen,
dieser Forderung Folge zu leisten, als ja Argumente verwandter Art
1 A. a. 0. p. 430.
Wohlwill, GaUIei. II. 17
— 258 —
zugunsten der Aufhebung der Verbote bereits in dem Gesuch zur
Sprache gebracht waren, das er im Einverständnis mit dem P. Olivieri
der Inquisition überreicht hatte.
Es war ein Gedanke desselben P. Olivieri, unter dessen Einfluß
die Inquisition zu Setteles Gunsten entschieden hatte, der in seiner
pflichtgemäß eingeschalteten Rechtfertigung der alten Dekrete an
der Spitze steht. Falsch und schriftwidrig habe man damals die coper-
nicanische Lehre genannt, weil sie, philosophisch betrachtet, wider-
sinnig erschien, also keine Veranlassung gab, die dem Anscheine
nach widersprechenden Stellen der Schrift anders aufzufassen, als
bis dahin üblich gewesen war; dieser Widersinn in philosophischer
Beziehung sei erst durch Torricellis Entdeckung der ,, Schwere der
Luft" beseitigt worden, weil erst durch diese verständlich geworden,
daß die westöstliche Rotation des Erdkörpers nicht durch ein be-
ständiges Wehen östUcher Winde sich bemerkbar machen müsse usw.
Als unwahr muß die so begründete Rechtfertigung, die noch
eine Zeitlang in apologetischen Schriften eine RoUe spielt, gekenn-
zeichnet werden, weil sie mit dem, was uns über die Entstehung der
Dekrete von 1616 und die Verm-teilung von 1633 bekannt ist, im stärk-
sten Widerspruch steht, weil sie als Hindernis des Verständnisses
vermeintliche Konsequenzen anführt, die schon Galileis Betrachtungs-
weise ins Gebiet des Irrtums verwiesen hatte, als Vermittlerin besserer
Einsicht eine Entdeckung, die für diese Aufgabe ohne Bedeutung
ist^, aber neben diesem aUen auch deshalb, weil die angebüch ent-
scheidende Erkenntnis, um derentwillen im 19. Jahrhundert gestattet
sein soUte, was in der ersten Hälfte des 17. mit Recht verboten wurde,
in eben dieser ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts schon im zweiten
Jahre nach Galileis Tode aUer Welt bekannt geworden ist, ohne daß
weder damals noch in der Folgezeit Verteidiger oder Widersacher
der copernicanischen Lehre, geschweige die römische Inquisition ihr
die Bedeutung zugeschrieben hätten, die ihr vom P. Olivieri bei-
gemessen wurde.
Kann man im Ernst nicht glaublich zu machen versuchen, daß
ein früheres Bekanntwerden der meßbaren Größe des Luftdrucks
auf die Entscheidung der Qualifikatoren von 1616 und der Richter
^ Den Beweis dafür hat Gilberto G!ovi in seiner Schrift II S. Offizio,
CJopemico e Galileo. Torino 1872, besonders auf S. 12 — 19, gegeben.
— 259 —
•
von 1633 irgendwc4chon Einfluß ausj^eübt haben würde, so ist gleich-
wenig mit dem bekannten historischen Verlauf die Annahme in Ein-
klang zu bringen, daß die Kenntnis der Keplerschen Gesetze und
der Attraktionslehre Newtons, von denen gleichfalls Setteles Ver-
teidigung redet, die Inquisition gehindert haben könnte, jene Ent-
scheidungen gegen die copernicanische Lehre zu treffen und Jahr-
hunderte hindurch aufrecht zu halten. Wahrer ist, daß durch die
Folge derjenigen Entdeckungen, die sich als Beweise für die Tat-
sache sowohl der täglichen wie der jährlichen Erdbewegung betrachten
ließen, die copernicanische Lehre für die Welt eine andere Bedeutung
gewonnen hatte und somit gewissermaßen eine andere geworden war,
als zu Galileis Zeiten ; aber unwahr bleibt, daß ohne diese Entdeckungen
nicht schon zu Galileis Zeiten und nach Galileis Darstellung die größere
Wahrscheinlichkeit die neue Lehre empfohlen hätte, unwahr, daß es
irgend etwas, was den Namen wissenschaftlicher Prüfung verdient,
nicht Gleichgültigkeit gegen die wissenschaftlichen Gründe gewesen
wäre, was damals die Verurteilung möglich gemacht und beinahe
ein volles Jahrhundert nach der Entdeckung der Aberration des
Fixsternlichts in Wirksamkeit erhalten hat. Nicht die Beseitigung
einer physikalischen Absurdität der copernicanischen Lehre, sondern
die Einsicht in die Gefahren einer absurden Verleugnung der erwiesenen
Wahrheit war es, was endlich im hellen Tageslicht des 19. Jahr-
hunderts dazu führte, sich von der Nachtgeburt des siebzehnten
loszusagen.
17'
Anhang I.
Sagenhafte Ergänzungen der Jugendgeschichte.^
Den spärlichen wohlverbürgten Daten zur Jugendgeschichte
Galileis hat Vincenzio Viviani, sein Schüler und erster Biograph, eine
Eeihe anziehender Einzelheiten hinzugefügt, für die ein Zeugnis Mit-
lebender nicht erhalten ist, die man jedoch auf Grund jenes ältesten
Berichts allgemein als geschichtliche Tatsachen betrachtet und in
die Lebensbeschreibungen aufgenommen hat. Es bedarf der Recht-
fertigung, daß in der vorstehenden Erzählung von dieser hergebrachten
Auffassung abgewichen ist.
Vivianis ..Historischer Bericht über das Leben des Herrn Galileo
Galilei"^ ist in der Form eines Briefs an den Prinzen Leopold von
Toskana zwölf Jahre nach Galileis Tode geschrieben. Der Verfasser, der
während der drei letzten Lebensjahre seines großen Lehrers beständig
in dessen Nähe lebte, war kaum 20 Jahre alt, als Galilei starb. Als
Jüngling von besonderer Begabung war er durchaus befähigt gewesen,
dem greisen Denker in seiner bis zum Ende kaum unterbrochenen
Geistesarbeit zu folgen; er war daher ohne Zweifel berufen, aus eigener
Erinnerung in zuverlässiger Weise die unermüdüche Tätigkeit der
letzten Jahre zu schildern. Aber nicht minder war er als begeisterter
Schüler, dem der Eifer für den Ruhm und die Ehre des Meisters
zum Inhalt des eigenen Lebens wurde, für die Bearbeitung einer
Gesamtdarstellung seines Wirkens und Schaffens vor allen Übrigen
der geeignete Mann. Je vollständiger in neuerer Zeit durch die Ver-
^ Vergl. Bd. I, Kap. I u. II, sowie Nachträge S. 642 und die dort
zitierten beiden Abhandlungen: „Die Pisaner Fallversuche" und „Der Ab-
schied von Pisa".
2 Ed. Naz. p. 597—632.
— 261 —
öffentlichungen Antonio Favaros^ Vivianis Bemühungen um die Er-
haltung alles dessen, was von Galilei herrührt und auf ihn Bezug hat,
bekannt geworden sind, um so umfassender erscheint seine Vorberei-
tung auch für die Aufgabe des Biographen, um so mehr wird man
geneigt sein, seinen Versicherungen zu glauben, daß der Inhalt seiner
Schrift entnommen sei, „dem lebendigen Wort des Herrn Galileo
selbst, der Lektüre seiner Werke, den Unterredungen und Verhand-
lungen, die der Verfasser mit seinen Schülern gehabt, den Aussagen
derer, die ihm am nächsten gestanden, öffentlichen und privaten
Schriften, zahlreichen Briefen seiner Freunde und schließlich mannig-
fachen Bestätigungen und Vergleichungen, die das Mitgeteilte als
durchaus wahr und über jeden Widerspruch erhaben erweisen. "^
In gutem Glauben fügt Viviani diesen einleitenden Worten hinzu,
daß er seine Erinnerungen dargelegt habe „in historischer Keinheit
und vollkommener Treue". Ohne Zweifel ist er sich, als er diese
Worte schrieb, nicht bewußt gewesen, in wie hohem Maße überall,
wo Galileis Verhältnis zur copernicanischen Lehre in Betracht kommt,
die äußeren Rücksichten, die ihn im Schweigen wie im Reden bestimm-
ten, auch die historische Reinheit seiner Darstellung beeinträchtigen,
und wie eine Schilderung, die einer so tief in das Leben seines Helden
eingreifenden Richtung des Denkens und Wollens nicht gerecht wer-
den darf, als eine treue unmögKch gelten kann.
Wenigei noch als Klarheit über diesen Hauptmangel seines
„historischen Berichts" wird man bei Viviani Einsicht in die Gefahren
erwarten, die ihm als Geschichtsschreiber die eigene Begeisterung
bereitet. Für ihn konnte das „Leben Galileis schreiben" nichts anderes
bedeuten als: seinen großen Lehrer verherrlichen. Im voraus aus-
geschlossen ist daher für ihn der Gedanke, in der Auffassung ii-gend-
welcher Vorgänge des äußeren oder inneren Lebens von derjenigen
abzuweichen, die Galilei selbst in Briefen oder Schriften zum Aus-
druck gebracht hat, wie vielmehr ein jedes Wort der Beurteilung
seinen Schriften und Handlungen gegenüber, das nicht zugleich ein
Wort der uneingeschränkten Bilhgung wäre. Wie hätte in seinen
Vorstellungen die Möglichkeit Raum finden können, daß etwa in
^ A. Favaro, Vincenzio Viviani e la sua ,.Vita di Galilei". Atti del R.
Istituto Veneto di scienze etc. Tomo LXII parte II. p. 683 — 703.
- Ed. Naz. XIX, p 599.
— 262 —
einer der zahlreichen literarischen Fehden, deren er zu gedenken hat,
in noch so geringem Maße das Unrecht auf Galileis Seite zu suchen
wäre, daß, wo er als Entdecker auftritt, ein Zweiter neben ihm, ge-
schweige vor ihm gesehen oder vermutet haben könnte?
Aber der Einfluß, den das persönhche Verhältnis des Biographen
zum Helden seiner Erzählung ausübt, ist allem Anscheine nach ein
weitergehender. Durch Favaros Quellenforschung ist in mehreren
Fällen teils zweifellos bewiesen, teils wahrscheinlich geworden, daß
Viviani auch in bezug auf den wesentlichen Inhalt seiner Miiteilungen
unter verschiedenen ihm vorliegenden iVuffassungen des gleichen Vor-
gangs eine Auswahl trifft, ohne dies irgendwie anzudeuten, geschweige
seine Wahl zu rechtfertigen. In welchem Sinne er wählt, das zeigen
in charakteristischer Weise seine wechselnden Angaben über den
Tag der Geburt Galileis.
Aus dem Pisaner Kirchenbuch war mir zu entnehmen gewesen,
daß die Taufe am 19. Februar 1564 stattgefunden hat. Für- Tag und
Stunde der Geburt müssen in jenem Zeitalter in Ermangelung anderer
sicherer Nachweise die auf den Nativitäten der Astrologen verzeich-
neten Daten gelten, weil man auf deren Feststellung größte Sorgfalt
zu verwenden pflegte. Für Galilei liegen nicht weniger als fünf der-
artige Aufzeichnungen vor, die übereinstimmend den 15. Februar als
Tag der Geburt bezeichnen. Auch Viviani hat daher in seinem Be-
richt an den Prinzen Leopold eben diesen Tag angegeben. Er bemerkt
dabei, daß dieser 15. Februar drei Tage demjenigen vorhergegangen
sei, an dem im selben Jahr zu Rom der göttliche Michelangelo Buona-
rotti starb. ^ In einer späteren Veröffentlichung Vivianis ist dieser
dreitägige Zwischemaum beseitigt, als Tag der Geburt der Todestag
Michelangelos genannt. An diese Angabe knüpft sich alsdann ein
Dithyrambus zu Ehren der Stadt Florenz, die nach Gottes WiUen
eine ununterbrochene Reihe erlauchter und göttlicher Männer sehen
sollte, und der deshalb der Weltenschöpfer nur zwei Stunden nach
dem Tode des großen Wiederherstellers der Malerei, Bildhauerkunst
und Architektur diesen schmerzlichen Verlust ihrer Zierde durch die
Geburt Galileis, des glücklichsten Erneuerers, Vaters, Fürsten und
Führers der Philosophie, Geometrie und Astronomie ersetzte, auf
daß die hoch vor allen übrigen begnadete Stadt während neuer Lustren
1 Ed. Naz. XIX p. 599 Nota.
— 263 ~
durch die Trefflichkeit ihrer Bürger der ganzen Welt sich heilbringend
bewähre".^
Woher diese verbesserte Angabe? Viviani sagt es nicht; unter
den noch erhaltenen Materialien, die er für den Zweck seiner biogra-
phischen Studien gesammelt, findet sich neben dem Auszug aus dem
Pisaner Kirchenregister keine Urkunde, die den 18. Februar als Tag
der Geburt erwiese; die guten Gründe, die dafür sprechen, daß der
15. Februar das richtige Datum ist, machen mindestens zweifelhaft,
daß ein solches Dokument Viviani zu Gebote gestanden und ihn zur
Bevorzugung des späteren Tages veranlaßt hat; als glaublich muß
man daher betrachten — was mit Vivianis Gesinnung durchaus im
Einklänge stand — , daß ihm ein Datum nachträglich schon darum
als das wahi'scheinlichere galt, weil es den voUen Glanz einer wunder-
baren Veranstaltung auf die Geburtsstunde des großen Mannes fallen
ließ. So aufgefaßt, erscheint die Wahl des Tages, der noch heute
der zivilisierten Welt als Galileis Geburtstag gilt, als typisch für die
Bevorzugung des Üben*aschenden und Erstaunlichen in vielen Einzel-
heiten der Vivianischen Biographie, wie in den mannigfachen Ver-
änderungen und Zusätzen, die sowohl in der späteren Bearbeitung
der Lebensskizze wie in anderweitigen handschriftlichen und ge-
druckten Aufzeichnungen über Galilei zu finden sind.
Für solche Neigung, als geschichtlich wahr im Leben des Helden
vorzugsweise zu betrachten, was in höherem Grade der enthusiasti-
schen Auffassung entspricht, bot naturgemäß die Jugendgeschichte
das geeignetste Feld.
Aus dieser Periode sind uns — wie schon angedeutet — eine
Reihe von Tatsachen ausschließlich durch Vivianis Erzählung bekannt.
Daß er als der Einzige, der sich darum bemühte, aus jener fern-
liegenden Zeit manches in Erfahrung bringen konnte, was weder
in Galileis eigenen Aufzeichnungen irgendwie angedeutet, noch von
einem anderen seiner Zeitgenossen in Briefen oder Schriften mit-
geteilt oder als bekannt berührt wird, kann an sich nicht überraschen;
1 Aus dem Abdruck der Inschrift an Vivianis Hause in Viviani De locis
solidis, Aristaei senioris secunda divinatio, Florentiae 1701. p. 126. Zwischen
diese letzte und die frühere Angabe fällt die der verbesserten Ausgabe des
Racconto istorico, die den Geburtstag auf den 19. Februar verlegt. Vergl.
Ed. Naz. XIX p. 599 im Text. VermutUch folgt Viviani hier den Aufzeich-
nungen des Vincenzio Galilei (Ed. Naz. XIX p. 594).
— 264 —
auffällig erscheint jedoch, daß in keinem einzigen Falle diesen Er-
zälilungen aus der Jugendzeit etwas von dem Nebel einer fernliegen-
den Vergangenheit anhaftet. Da ist von Sagenhaftem, von der Un-
bestimmtheit einer von Mund zu Mund getragenen Überlieferung,
von abweichenden Darstellungen verschiedener Berichterstatter keine
Spur. Alle jene einzelnen Vorgänge und Erlebnisse, die naturgemäß
erst dann der Wiederauffindung und der Aufbewahrung wert erschienen,
als der Ruhm des gereiften Mannes den Einzelheiten seiner Lebens-
geschichte für die Zeitgenossen wie für die Nachwelt Bedeutung
verlieh, sind, frei von jedem Schein unsicheren Wissens, mit einer
Genauigkeit im einzelnen reproduziert, wie sie der Bericht eines
Augenzeugen nicht leicht überbieten könnte. Dafür ist zweierlei
Erklärung möglich. Entweder es rühren in Wahrheit diese Erzäh-
lungen von dem Einzigen her, der als Augenzeuge, sei es den Bio-
graphen, sei es seine Gewährsmänner in bestimmter Weise unter-
richten konnte, das heißt, von Galilei selbst, oder es ist der Biograph,
der dem überlieferten Inhalt die Form gegeben hat.
Man hat bisher nicht bezweifelt, daß das Erstere zuträfe, daß
also in allen denjenigen Teilen der vivianischen Biographie, für die
den Nachlebenden die Belege nicht mehr zu Gebote stehen, als Bürg-
schaft der Wahrheit die einleitenden Bemerkungen zu gelten haben,
in denen auf Gahleis lebendiges Wort in erster Linie Bezug genommen
und neben diesem die Mitteilungen seiner nächsten Angehörigen und
Freunde als Quelle des Berichts erwähnt werden.
Demgegenüber ist vor allem festzustellen, daß jene allgemein
gefaßten Bemerkimgen bei aller Bedeutung für das Ganze für keinen
einzelnen Teil der Biographie die Zurückführung auf Galileis persön-
liche Aussage gestatten; in der Erklärung, daß der größere Teil der
Mitteilungen seinen Worten entnommen sei, liegt keine Bürgschaft
dafür, daß auch nur eine einzige der Erzählungen aus der Jugend-
periode zu diesen Mitteilungen aus bester Quelle und nicht vielmehr
zu denen gehöre, die dem Biographen erst in späterer Zeit aus den
mehr oder minder deutlichen, mehr oder minde- treu bewahrten
Erinnerungen Nahestehender bekannt geworden sind. Aber selbst
dann, wenn man mit besserem Recht in Galileis mündlichen Mit-
teilungen während seiner drei letzten Lebensjahre die eigentliche
Quelle der Schilderungen aus der Jugendzeit suchen dürfte, würde
der Zweifel berechtigt bleiben, ob in der Auffassung des 18- oder
— 265 —
20jährigon begeisterten Jüngers das „lebendige Wort" des greisen
Meisters getreu ohne Zutat und Veränderung bewahrt ist. Eine ge-
nauere Untersuchung in dieser Beziehung ist den meisten Angaben
gegenüber dadurch erschwert, daß über die geschilderten Vorgänge
alle sonstigen Berichte fehlen. Um so mehr verdient eine kleine Zahl
von Fällen Beachtung, in denen durch Vergleichung der Mitteilung
des Biographen mit anderweitigen verbürgten Nachrichten eine Klar-
stellung des Sachverhalts ermöglicht und dadurch zugleich über die
Eigentümlichkeiten der vivianischen Berichterstattung Aufschluß ge-
wonnen wird.
Unter den hierher gehörenden Fällen ist auch der einzige der
ganzen Lebensbeschreibung, in dem für eine mitgeteilte Tatsache
ein Berichterstatter namhaft gemacht wird. Es geschieht das bei
Erwähnung der außerordentlichen Anziehungski-aft, die in Padua
Galileis mathematische Vorlesungen ausübten. „Bei seinen öffent-
lichen Vorlesungen über Mathematik", so lautet wörtlich Vivianis
Erzählung, „vereinigte sich eine so große Zahl von Zuhörern — noch
heute lebt die Erinnerung daran in Padua, wie dies durch einen hoch-
berühmten und gelehrten Mann verbürgt mrd, der dort vor Zeiten
Galileis Schüler gewesen ist — daß Galilei genötigt war, und dies sind
die Worte des Monsignor Bischof Barisone, den für seine Vorlesung
bestimmten Hörsaal zu verlassen und in dem großen, tausend Personen
fassenden Hörsaal der Artisten zu lesen, und da auch dieser nicht
genügte, sich in den doppelt so großen Hörsaal der Juristen zu be-
geben, und häufig sei auch dieser bis auf den letzten Platz gefüllt
gewesen. Ein solches Zuströmen und ein solcher Beifall ist zu keiner
Zeit auch nur annähernd einem anderen Lehrer der Paduaner Univer-
sität, auch bei Vorträgen über andere, dem allgemeinen Interesse
näherliegende Gegenstände zuteil geworden."^
Dieser Schilderung gegenüber belehrt uns der genaue Kenner der
Geschichte der Universität Padua, daß zu keiner Zeit in Padua Hör-
säle gewesen sind, die bis zu 1000, geschweige 2000 Zuhörer gefaßt
hätten. Von einem älteren Paduaner Gelehrten, von dem es gleich-
falls heißt, daß er mehr Zuhörer um sich versammelte, ,,als jemals
ein anderer", wird zu genauerer Bezeichnung seiner Beliebtheit er-
zählt: es genügten die Bänke nicht, auf denen 400 Studierende Platz
1 Ed. Naz. XIX p. 628.
— 266 —
zum Sitzen fanden, so daß über diese Zahl hinaus noch immer 50
oder mehr standen, um ihn zu hören. ^
Vivianis Zahlenangaben sind also ohne Zweifel übertrieben; aber
das könnte man in den Kauf nehmen, wenn nur die Hauptsache,
die Angabe über das Verhältnis der Zuhörerschaft Galileis zu der-
jenigen seiner Kollegen zu Bedenken keinen Anlaß gäbe. Man kann
in Galilei einen Lelirer sehen, wie die Welt keinen zweiten gekannt
hat, und doch für kaum glaublich halten, daß seine Vorträge über
die Elemente der Euklidischen Geometrie, über die Sphäre usw.
jemals einen annähernd so großen Hörerkreis zu fesseln vermocht
haben, wie diejenigen der namhaften Mediziner, Juristen und Philo-
sophen unter seinen Kollegen. Man braucht nur wenig mit dem
Geist der Wissenschaft und der Studien in jener Zeit vertraut zu sein,
um nicht in Zweifel zu ziehen, daß beispielsweise die Aristotelesvor-
lesungen des Cäsar Cremonini für die große Menge der Studierenden
Paduas in unvergleichlich höherem Maße bedeutsam waren, als die
Erörterungen Galileis über die „mechanischen Probleme". Galileis
außerordentliche Fähigkeit, Probleme der Naturlehre und elemen-
taren Mathematik auch dem gewöhnlichen Verstände zugänglich zu
machen, in Verbindung mit der künstlerischen Schönheit seines Vor-
trags wirkte naturgemäß vorzugsweise in dem engeren Kreise derer,
die in irgendeiner Weise veranlaßt waren, sich mathematische Kennt-
nisse anzueignen. Unter diesen bildeten nach Galileis eigener Mit-
teilung die Mediziner die Mehrzahl. Nun denke man sich unter den
Medizinern Paduas die Einsicht in die Bedeutung der Mathematik
für den ärztUchen Beruf so verbreitet, wie nur irgendwo in den medi-
zinischen Fakultäten unserer Tage, immerhin bleibt zu erwägen, daß
die mathematische Vorlesung zu den obligatorischen nicht gehörte,
daß sie für die Prüfungen nicht in Betracht kam, und daß diese Um-
stände auf die studierende Jugend des 16. und 17. Jahrhunderts
ungefähr in derselben Weise wirken mußten wie auf die heutige.
Man braucht nur zu lesen, was Viviani selbst von der Einführung
des jugendlichen Mediziners Galilei in die Mathematik erzählt, um
zu begreifen, daß es auch damals nichts weniger als die Regel war,
der Vorschrift des Hippokrates zu folgen. Selbst erfinden konnte
man jene Erzählung nicht, wenn die Beschäftigung mit der Mathe-
^ Vergl. A. Favaro, Galileo Galilei e lo studio di Padova I p. 140 — 141.
— 267 —
matik zu den Gewohnheiten der studierenden Mediziner gehört hatte.
So war es in Pisa und nicht anders offenbar in Padua; dafür zeugt,
daß nach dem Tode Molettis der Lehrstuhl der Mathematik in Padua
mehr als vier Jahre hindurch unbesetzt bleiben konnte, und daß auch
nach dem Abgang Galileis wiederum über drei Jahre vergingen, bis
ein Nachfolger ernannt wurde.
Mit dem Wahrscheinlichkeitsschluß, der sich bei Beachtung dieser
Verhältnisse ergibt, stehen die wenigen wohlverbürgten Einzelheiten,
die uns über Galileis Lehrtätigkeit erhalten sind, in Einklang. Es
mag hier nur der beiden Beschwerdeschriften gedacht werden, die
Galilei noch im Jahre 1609 an die Reformatoren der Universität ge-
richtet hat. Annibale Bimbiolo, außerordentlicher Professor der theo-
retischen Medizin, hatte seine Vorlesung statt (wie ihm vorgeschrieben
war) gleichzeitig mit den Konlmrrenten, in der Nachmittagsstunde ge-
halten, die für den Mathematiker reserviert war. Zweimal im Zeit-
raum eines halben Jahres legte Galilei gegen diese Ordnungswidrigkeit
Verwahrung ein, weil das Ausbleiben derjenigen von Bimbiolos Zu-
hörern, die zur selben Stunde seine Vorlesungen hören wollten, ihm
„eine sehr erhebliche Störung'' bereitete.^
Geben wir dem Annibale Bimbiolo als dem einen und keineswegs
vorzugsweise angesehenen der vier Professoren der theoretischen
Medizin den vierten Teil der Hörer seines Fachs, so sagt uns Galileis
Äußerung, daß ihm das Fehlen einer Zahl, die diesen vierten Teil
keinesfalls erreichte, sein Auditorium mangelhaft besetzt erscheinen
ließ. Eine Beschwerde solchen Inhalts, erhoben im letzten Jahr,
also auf dem Höhepunkt seiner Lehrtätigkeit, und wiederholt, nach-
dem ihm um außerordentlicher Verdienste willen die Professur auf
Lebenszeit übertragen war, genügt, um Vivianis Erzählung zu wider-
legen.
Aber wir kennen Tatsachen, die zur Entstehung so maßloser
und unwahrscheinlicher Schilderungen Veranlassung gegeben haben
können. Galilei spricht selbst gelegentlich^ davon, daß bei seinen
drei Vorlesungen über den neuen Stern vom Jahre 1604 mehr als
1000 Zuhörer zugegen gewesen seien. Eine ähnliche, vielleicht noch
1 Favaro, Galileo Galilei e lo studio di Padova II p. 287 u. 302. Ed.
Naz. X p. 236 f. u. 264f.
- In der Difesa .... contro alle calunnie ed imposture di Baidessar
Capra Ed. Naz. II p. 520.
— 268 —
Stärkcrc Überfüllung seines Hörsaals durch Studierende aller Fakul-
täten haben höchst wahrscheinlich die im Jahre 1610 gehaltenen Vor-
träge über die ersten teleskopischen Entdeckungen veranlaßt. Auf
diese Ausnahmefälle bezogen und beschränkt erscheint uns der ge-
schilderte außergewöhnliche Erfolg ebenso verständlich und glaub-
lich, \äe er als unwahrscheinüch betrachtet werden muß, wenn man
ihn für die regelmäßigen elementar-mathematischen Vorträge in
Anspruch nimmt. Es ist daher die Annahme gestattet, daß ein ur-
sprünglicher Bericht, der wahrheitsgemäß von nie dagewesenem Zu-
sanunenströmen der Studierenden in Galileis Auditorium redete,
sich auf den einen oder mehrere jener besonderen Fälle bezogen hat
und daß erst in der weiteren Überlieferung der Einzelfall zur Regel
und damit die geschichthche Tatsache zum Wunder umgestaltet
worden ist. Nun scheint dem strengen Wortlaute nach die Berufung
Vivianis auf das Zeugnis des Bischofs Barisone zu beweisen, daß,
wenn in Wahrheit in der angedeuteten Weise eine Umgestaltung
stattgefunden hat, dies schon in der Erinnerung des Paduaner Be-
richterstatters geschehen sein müsse, daß also Viviani die Nachricht
schon in der Form empfangen, wie er sie wiedergibt. Aber als gleich-
berechtigte Vermutung mindestens wird man hinstellen dürfen, daß
erst durch Vivianis Auffassung der gehörten und gelesenen Worte
die wesentliche Veränderung des Sinnes zustande gekommen ist. Wer
dies seinen Worten gegenüber für möglich hält, muß allerdings vor-
aussetzen, daß Viviani, wo es seinen großen Lehrer angeht,, nicht
allein zur Übertragung ins Wunderbare im Vorstellen und Glauben
geneigt, sondern darüber hinaus fähig gewesen ist, als Erzähler mit
dem Gehörten Erweiterungen und Ergänzungen zu verbinden, die
nicht in irgendwelcher Überlieferung, sondern nur in dem Glauben
an die alles überragende Größe seines Meisters ihren Ursprung haben.
In erstcrer Beziehung bietet die Erläuterung, die Viviani seiner Er-
zählung hinzufügt, klaren Nachweis. Das Wunderbare und Unglaub-
liche seines Berichts ist ihm ein Zeichen der Wahrheit; nichts anderes
sieht er in dem unerhörten Zudrängen der Wissensdurstigen bei
Galileis mathematischen Vorlesungen als die einfache Wirkung des
„übernatürlichen Talents", vermöge dessen er es verstanden, das
mathematische Erkennen über jede andere Weise wissenschaftlicher
Tätigkeit zu erheben. Wie weit dann weiter dem Biographen zu-
getraut werden darf, daß er überlieferte tatsächliche Mitteilungen
— 269 —
aus der Fülle dessen, was ihm möglich erscheint, vervollständigt und
so das Mögliche zur geschichtlichen Tatsache erhebt, wird durcli weitere
Beispiele darzulegen sein.
In seiner Schilderung des Paduaner Wirkens fortfahrend, gedenkt
Viviani der vielen Fürsten und großen Herren, die Galileis Unter-
richt gesucht haben; statt Namen zu häufen, will er nur den berühm-
testen nennen. Er „erinnert sich, gehört zu haben," ^ — das sind seine
Worte^, — „daß der große König Gustav von Schweden, der spätere
Kriegsheld, als Jüngling inkognito durch Italien gereist und bei dieser
Gelegenheit viele Monate hindurch mit seinem Gefolge in Padua
geweilt habe, wo ihn vor allem die neuen und überraschenden Ideen
und die überaus merkwürdigen Probleme fesselten, die Tag für Tag
von dem Herrn Galileo in den öffentlichen Vorlesungen, wie den
Zusammenkünften einzelner zur Bewunderung der Anwesenden vor-
getragen und gelöst w^urden; auch habe er in der eigenen Behausung
des großen Gelehrten (mit dem Vorteil, sich zugleich in den Schön-
heiten der toskanischen Sprache zu üben) von ihm die Vorträge über
die Sphäre, die Befestigungskunst, die Perspektive und den Gebrauch
einiger geometrischer und militärischer Instrumente hören wollen und
dabei den Fleiß und die Ausdauer eines wahren Schülers bewiesen
und schließlich durch ein äußerst reiches Geschenk die königliche
Majestät zu erkennen gegeben, die er zu verheimlichen gedacht hatte."
Über den geschichtlichen Kern dieser Erzählung sind nicht viele
Worte zu verlieren. Gustav Adolf ist niemals weder in jüngeren
noch in reiferen Jahren in Italien gewesen, er ist am 9. Dezember
1594 geboren, war also noch nicht 16 Jahre alt, als Galilei Padua
für immer verließ und hätte daher nicht sein Zuhörer sein können,
auch wenn er in Padua studiert hätte. Gelehrte Forscher haben einen
anderen Prinzen Gustav ausfindig gemacht, der rechtzeitig gelebt
und sich auch hinreichend lange Zeit außerhalb seiner Heimat auf-
gehalten hat, um Italien besuchen und Galilei hören zu können;
daß er dies in Wirklichkeit getan und dadurch den Ansprüchen genügt
hat, die man an Vivianis schwedischen Prinzen stellen muß, hat sich
weder in Schweden noch in Padua nachweisen lassen. Nun wird man
dem Biographen gern verzeihen wollen, daß er bei einer so interessanten
^ Die Erzählung findet sich auch bei Gherardini. Ed. Naz. XIX. p. 642.
- Ed. Naz. XIX, p. G29.
— 270 —
Mitteilung nicht als strenger Historiker untersucht, ob das, was er
dem Hörensagen nach erzählt, geschichtlich wahr sein kann. Aber
übersehen läßt sich nicht, daß er die "Wiedergabe dessen, was er „gehört
zu haben sich erinnert", durch sehr weitgehende Einzelheiten ergänzt,
die er sicherlich nicht gehört hat. Die Sage mag von königlichen
Geschenken gewußt haben — ein Verzeichnis der Vorlesungen, die
Gustav Adolf in Padua gehört, hat sie keinesfalls überliefert.
Vivianis Erzählung ist offenbar entstanden, indem er mit der
irgend woher entnommenen Überlieferung von einem Aufenthalt
Gustav Adolfs in Padua die eigenen Vorstellungen von Galileis Wirken
als Paduaner Lehrer verwebt, die ihn ohne Mühe erkennen ließen,
was ein Gustav Adolf jener Zeit dort hätte suchen können und was
ihn hätte fesseln müssen. Daß er dabei ganz und gar nicht trennt
und nicht erkennbar macht, was er gehört oder gelesen hat, und was
er aus eigener Phantasie hinzufügt, ist eine Eigentümlichkeit seiner
Erzählungs weise, der man immer von Neuem begegnet, wenn man
einmal darauf aufmerksam geworden ist.
Wie notwendig es ist, dies Element der Unsicherheit seinen völlig
bestimmt gehaltenen Behauptungen gegenüber in Betracht zu ziehen,
beweist seine Mitteilung über die Entdeckung der Sonnenflecken.
In Übereinstimmung mit Galileis Angabe in den Dialogen über die
beiden Hauptweltsysteme^ läßt Viviaiii die Entdeckung noch in Padua
stattfinden. Er bemerkt dazu: Galilei habe, um nicht in verstärktem
Maße den Haß der Peripatetiker gegen sich zu erregen, seine> Ent-
deckung zunächst nicht veröffentlicht, sondern nur einigen seiner
vertrautesten Freunde in Padua, Venedig und anderen Orten mit-
geteilt; in einer Note unter dem Text nennt er als diejenigen, denen
solche erste Mitteilungen gemacht wurden, die folgenden acht:
Monsignor Gualdo, Monsignor Pignoria, Don Benedetto Castelli, Fra
Paolo Sarpi, Fra Fulgenzio Micanzio, Filippo Contarini, Sebastiano
Venieri, Monsignor Agucchia. -
Geht man an derartige Angaben in der Voraussetzung, daß in
ihnen ein strenger Historiker zusammenfaßt, was er den ihm allein
zu Gebote stehenden Quellen entnehmen konnte, so scheint hier für
die Entdeckung in Padua, das heißt vor Ende August 1610, ein schwer-
1 Ed. Naz. VII. p. 372f.
2 Ed. Naz. XIX p. 611. Etwas anders bei Alberi XV, p. 344.
— 271 —
wiegendes Zeugnis vorzuliegen. Es ist jedoch leicht, zu zeigen, daß
man mit Unrecht — wie es geschehen ist — auf Vivianis Autorität
hin die acht von ihm genannten Namen als gleich viel Zeugen für die
Annahme einer Entdeckung vor der Übersiedlung nach Florenz be-
zeichnet.
Nur von einem der acht ist heute noch eine Aussage zugunsten
der Entdeckung in Padua erhalten. Das ist der an Galilei gerichtete
Brief des Fulgenzio Älicanzio vom 27. September 1631.^ Hätten Vivi-
ani — wie mau als möglich ansehen kann — von einem der anderen
Sieben bestätigende Aussagen zu Gebote gestanden, so ist wenig wahr-
scheinlich, daß er sie ungedruckt gelassen hätte, als er im Jahre 1656
für die erste Gesamtausgabe der Galileischen Werke die Belege für
Galileis Priorität in der Entdeckung der Sonnenflecken zusammen-
stellte.- Unter diesen 1656 gedruckten Belegen ist ein Auszug aus
dem noch heute erhaltenen Brief Micanzios das einzige Zeugnis
zugunsten der Entdeckung in Padua.
Es bleibt die Möglichkeit, daß Galilei selbst oder jemand, der
von ihm unterrichtet war, Viviani die Namen der vertrauten Freunde
i(enannt hätte, denen in Padua und Venedig im Sommer 1610 die
Sonnenflecken gezeigt wurden. Das ist offenbar die Meinung der-
jenigen Biographen, die Vivianis Aufzählung geschichtlichen Wert
beimessen. Aber auch diese Meinung erweist sich als unhaltbar,
denn unter den acht Zeugen sind mindestens zwei, deren noch heute
zugängliche Aussagen mit Vivianis Angabe in direktem Wider-
spruch stehn.
In einem Schreiben, das Paolo Gualdo am 4. Februar 1611, also
fünf Monate nach Galileis Abreise von Padua an diesen richtet, heißt
es^: „Ihr habt die Geheimnisse des Mondes, der Venus, des Merkur,
des Jupiter und des Saturn enthüllt, ich sehe nicht, daß Ihr bisher
Euch der Sonne nähert.'' Gualdo verneint demnach aufs bestimm-
teste die Kenntnis, die ihm von Viviani zugeschrieben wird.
Daß auch Monsignor Agucchia mit Unrecht als Zeuge für die
Entdeckung in Padua angeführt wird, ist aus seiner bekannten Aus-
sage über Galileis Demonstration der Sonnenflecken im Frühjahr
1 Ed. Naz. Xl\' p. 298—299.
- Seine Zusammenstellung ist wieder abgedruckt in der Paduaner Aus-
gabe U p. 197.
"■ Ed. Naz. XI p. 41f.
— 272 —
1611 ohne weiteres zu entnehmen. „Es ist schon mehr als ein Jahr
her" — so schreibt er am 16. Juni 1612 an Galilei^ — , daß Ihr mir
mündlich von den Sonnenflecken Kenntnis gegeben habt." So schreibt
man nicht, namentlich wo es sich um ein Zeugnis für Galileis Priorität
handelt, wenn die Mitteilung in Rom die zweite nach einer früheren
in Padua gewesen ist. Zum Überfluß besagt ein früherer Brief Aguc-
chias, daß er zum erstenmal in Rom im Frühjahr 1611 zu Galilei
in persönliche Beziehungen getreten ist.
Einem dreifachen Zufall verdankt man, daß derartige, Viviani
aufs schärfste widerlegende Aussagen in den Briefen Gualdos und
Ägucchias niedergelegt wurden, einer weiteren Zufälligkeit, daß eben
diese Briefe uns erhalten sind — um so mehr muß ihr Inhalt als voll-
gültiger Beweis dafüi- angesehen werden, daß Vivianis Aufzählung
wertlos ist, daß auch in diesem Falle seiner bestimmten Behauptung
keinerlei Wissen aus heute unzugänglichen Quellen zugrunde liegt.
Er überlegt und weiß zum Teil, an wen Galilei bei den Worten „in
Padua und Venedig sprach er mit verschiedenen darüber"^, gedacht
haben kann; aber seiner Gewohnheit gemäß schreibt er, als ob er
wüßte, wem Galilei in Padua und von Padua aus Mitteilungen über
seine Entdeckung gemacht hat.
Wichtiger, weil unmittelbar in die Geschichte des Galileischen
Geistes eingreifend, sind die Mitteilungen, durch die Viviani in seinem
berühmten Brief über die Erfindung der Pendeluhr die Erzählung der
Biographie über die Entdeckung des Isochronismus der Pendel-
sch'^^dngungen vervollständigt.
Die Biographie berichtet in aller Kürze: noch als Student habe
Galilei die bis dahin von keinem anderen wahrgenommene Anwend-
barkeit des Pendels zur Messung der Zeit entdeckt; die Veranlassung
dazu habe ihm die Beobachtung der Bewegung einer Lampe im Pisaner
Dom gegeben; durch genaueste Versuche habe er alsdann sich der
Gleichheit der Pendelschwingungen versichert.^
1 Ed. Naz. XI p. 205. Nicht als so schlechthin unmöglich wie bei Gualdo
und Agucchia, aber doch als im höchsten Grade unwahrscheinlich darf auf
Grund des bekannten Briefwechsels bezeichnet werden, daß CasteUi und
Pignoria von einer Entdeckung der Sonnenflecken in Padua in den Jahren
1610 — 11 Kenntnis gehabt haben.
2 Ed. Naz. VII, p. 372.
3 Ed. Naz. XIX p. 603.
— 273 —
Der fünf Jahre nach der Biographie geschriebene Brief über
die Erfindung der Pendehihr ergänzt^ diesen lakonischen Bericht in
vierfacher Beziehung. Aus der Studienzeit wird in bestimmterer
Angabe „ungefähr das Alter von zwanzig Jahren, um das Jahr 1583".-
Zur Tatsache der Beobachtung ist der Gedankengang hinzugefügt,
der ihr vorhergegangen ist; der Anblick der schwingenden Lampe
veranlaßt den jugendlichen Forscher, zu untersuchen, ob vielleicht
beim Hin- und Hergehen der Lampe die Zeiten, in denen sie große,
mittlere und kleinste Bögen durchläuft, die gleichen sein möchten;
es könnte, meint er, vielleicht die längere Zeit, die an sich zum Durch-
laufen des größeren Bogens erforderlich ist, durch die größere Geschwin-
digkeit ausgeglichen werden, die sich daraus ergeben müsse, daß die
Linie des größeren Wegs in ihren oberen Teilen eine stärker geneigte
war ; es scheint ihm daher der Mühe wert, die Dauer der Schwingungen
genauer zu prüfen; die Beobachtung bestätigt seine Vermutung.
Auch das Verfahren bei dieser Beobachtung ist mitgeteilt: Der
junge Galilei bedient sich zur ungefähren Bestimmung der Zeitdauer
der Schläge seines Pulses und des Takts der Musik.^
Endlich belichtet Viviani ausführlich darüber, was Galilei ge-
dacht und getan, nachdem er von seiner Beobachtung „ins Haus zurück-
gekehrt war".^ Er stellte durch Versuche fest, daß zwei Bleikugeln
an Fäden von völlig gleicher Länge aufgehängt, bei noch so verschie-
dener Ablenkung ihre ungleichen Bögen in gleicher Zeit durchlaufen,
daß Pendel von verschiedener Länge sehr verschiedene Schwingungs-
zeiten haben, während bei bestimmter Länge die Zeit aufs schärfste
bestimmt ist, daß endlich auch weder das absolute noch das spezi-
fische Gewicht des aufgehängten schweren Körpers bei bestimmter
Länge des Fadens die Schwingungsdauer beeinflußt, wenngleich die
besonders leichten Materien, wie z. B. der Kork, durch das Medium
der Luft, das jederzeit der Bewegung aller schweren Körper Wider-
stand leistet, leichter behindert und schneller zur Ruhe gebracht
werden.
Die kurze Notiz der Biographie konnte die Vermutung nahe-
legen, daß über die erste Entdeckung Galileis und ihre Veranlassung
1 Ed. Naz. XIX, p. 647—659.
- Ed. Naz. XIX, p. 648.
* Ed. Naz. XIX, p. 648f.
* Ed. Naz XIX, p. 649.
Wohlwill, Galilei. 11. 18
— 274 —
nur eine unbestininit<> Üborlioferung sich bis zu Vivianis Zeiten er-
halten liabe; der ausfülirlidio Bericht klingt dagegen nach ins einzelne
gehenden ^litteilungen, wie sie nur ein Augenzeuge geben konnte.
Dem entspricht die Versicherung Vivianis in den einleitenden Worten
seines Briefes von 1659: alles,vras er hier erzähle, sei dem fünf Jahre
zuvor geschriebenen kurzen Bericht über Galileis Leben entnommen
und dem, was er sich bewußt sei, aus dem Munde seines großen
Lehrers gehört zu haben. ^ Hält man sich an den Wortlaut dieser
Erklärung, so besagt dieselbe, daß die hervorgehobenen Ausführungen,
in denen der Brief vom Jahre 1659 über den Inhalt der Erzählung
vom Jahre 1654 hinausgeht, aus Galileis mündlicher Mitteilung
stammen.
x\uf Gahleis direkte Mitteilung wird demnach von Viviani ein
Bericht zurückgeführt, der in befremdender Weise mit einem ersten
Anfang selbständiger wissenschaftücher Erkenntnis im Jahre 1583
unmittelbar verknüpft erscheinen läßt, was im Entwicklungsgang der
Galileischen Forschung in zeitüch getrennte Fortschritte zerfällt und
zum größten Teil viel späteren Gedankenfolgen angehört. Das letztere
gilt insbesondere von den Envägungen, um derentwillen Viviani den
neunzehnjährigen Galilei den Isochronismus der Pendelschwingungen
erwarten läßt, ehe er ihn beobachtet hat. Um, wie Viviani will, als
möghch ansehen zu können, daß bei dem Fall in kreisförmiger Bahn
infolge der anfänglich stärkeren Neigung der Bahn die größere Länge
des Weges durch die größere Geschwindigkeit völlig ausgeglichen
\nrd, muß man nicht nur mit dem Gesetz der Fallgeschwindigkeit
auf geneigter Ebene bekannt, sondern auch in die Betrachtungs-
weise eingeweiht sein, die den Weg des als Pendel aufgehängten
Körpers in eine Folge geneigter Ebenen von stetig abnehmender
Neigung zerlegt oder vielmehr — da diese Betrachtungsweise von
GaUlei herrührt: es müßte diese seine Vorstellung, die nicht Ein-
gebung des Augenbhcks sein kann, also mit ihr die eigenthche Unter-
suchung über die Natur der Pendelschwingung nicht etwa an die
Beobachtung im Dom sich knüpfen, sondern ihr vorausgegangen sein.
Als käme es darauf an, den Widersinn einer solchen Erzählung noch
schärfer hervortreten zu lassen, bemerkt Viviani ausdrücküch, daß
der junge Galilei zu jener Zeit sein Auge noch der Mathematik nicht
1 Ed. Naz. XIX p. 648.
— 275 —
zuj2:e\vandt hatte. Bedarf es eines weiteren Beweises, um außer Frage
zu stellen, daß der Biograph diesen Teil seines vorvojlständigten Be-
richts nicht aus Galileis Munde empfangen hat?
Was dann die Angabe über die Versuche „im Hause" betrifft,
so widerspricht ein Teil dorselbon feststehenden historischen Tat-
sachen. In den älteren Schriften zur Bewegungslehre, die etwa sieben
Jahre nach den hier besprochenen Pendelversuchen entstanden sein
müssen, ist durchgehends die Unabhängigkeit der Fallgeschwindig-
keit von der Masse nur für Körper gleicher Art behauptet; für ver-
schiedenartige Materien glaubte Galilei damals sogar beweisen zu
können, daß ihre Fallgeschwindigkeit je nach dem Verhältnis des
Überschusses des Gewichts über das Gewicht des vordrängten Mediums
verschieden, also für eine Bleikugel in der Luft etwa elfmal so groß
sein müsse als für eine Holzkugel. Diese irrtümliche Vorstellung
findet ihren bestimmtesten Ausdruck in der Aufgabe, die Galilei an
das Ende seiner älteren Untersuchung über die schiefe Ebene stellt:
eine Ebene solcher Neigung herzustellen, daß von zwei Körpern
gleicher Größe, aber verschiedener Art derjenige, der bei senkrechtem
Fall sich schneller bewegen würde, auf dieser Ebene mit derselben
Gesch\nndigkeit fiele, wie der andere bei freiem Fall,^ Wer eine solche
Aufgabe stellt und überdies — wie Vivianis neunzehnjähriger Galilei
— über den Zusammenhang zwischen dem Fall auf schiefer Ebene
und der Sch^^^ngung des Pendels im Reinen ist, kann unmöglich seit
einer Reihe von Jahren beobachtet haben, daß das spezifische Gewicht
des schwingenden Körpers die Schwingungsdauer nicht beeinflußt.
Ausdrücklich hat überdies Galilei in seinem letzten Werke ausgespro-
chen, daß er längere Zeit hindurch eine imgleiche Fallgeschwindigkeit
verschiedenartiger Stoffe angenommen habe.
Das Gleiche gilt von den beiden Bemerkungen über die Verschie-
denheit der Wirkung des Luftwiderstandes auf unglcicli schnell-
bewegte wie auf ungleich dichte Körper. Es handelt sich dabei um
Betrachtungen, die im Zusammenhang einer vollständigeren Theorie
der Pendelschwingungen nicht fehlen durften, — so finden sie sich in
den 1638 erschienonon Discorsi; wenn aber Viviani eben diese Betracli-
tungen in das Jahr 1583 verlegt, so beweist das nur die erstaunlich
geringe Sorgfalt, die er auf die Zusammenstellung seines Berichts
1 Ed. Naz. I p. 301.
lt.*
— 276 —
vom Jahre 1659 verwandt hat. In der Tat wird man kaum fehl-
greifen, wenn man als eigentliche Quelle für die hier besprochenen
Ausführungen im einzelnen den Wortlaut eben jener Discorsi von
1638 betrachtet, dagegen für die kühne tJbertragung von Versuchen
und Gedanken aus diesem Werk in Galileis zweites Studienjahr sich
an jene andere Quelle hält, aus der das Verzeichnis der von Gustav
Adolf gehörten Vorlesungen und die Liste der Freunde herrührt,
denen Galilei von Padua aus über die Entdeckung der Sonnenflecken
berichtet hat.
Viviani berichtet also mit der Miene des ernsten Historikers
und mit der Einzelkenntnis des Eingeweihten über Versuche, die
Gahlei jener Zeit keinesfalls ausgeführt hat, wie zuvor über Gedanken,
die er nicht gehabt haben kann. Die Versuche wie die Gedanken,
die in dem Brief über die Erfindung der Pendeluhr dem neunzehn-
jährigen Galilei zugeschrieben werden, gehören ersichtlich der ent-
wickelten Lehre von den Pendelbewegungen an, wie sie an drei ver-
schiedenen Stellen der Galileischen Discorsi mitgeteilt wird. Daß
auch für Viviani in seiner Erzählung aus den Jugendjahren eben dieses
letzte Werk des Meisters oder doch seine Denkweise in der Periode
der höchsten Reife die Quelle gewesen ist, läßt sich unter anderem
daraus entnehmen, daß er dem Bericht über die ältesten Pendel-
versuche auch einen Satz eingefügt hat, der sich in Galileis Schriften
nirgends sonst als in dem letzten Teil der Discorsi von 1638 findet.
„Je größer die Geschwindigkeit des bewegten Körpers"", sagt
Gahlei bei der Erörterung über die Geschwindigkeit der Geschosse,
„um so gößer wd der Widerstand sein, der ihnen von der Luft ent-
gegengesetzt wd," und wie er dann zeigt, daß trotzdem die großen
Pendelschwingungen durch den Widerstand der Luft nicht merkhch
mehr verzögert werden als die kleinsten, so läßt auch Viviani aus den
beschriebenen Versuchen vom Jahre 1583 den neunzehnjährigen Be-
obachter schHeßen: daß bei verschiedenster Größe der Ablenkung
die Dauer der Sch\nngungen desselben Pendels durchaus die gleiche
sei oder daß zmn mindesten eine merkhche Verschiedenheit nicht
wahrgenommen und dem Hindernis der Luft zugeschrieben werden
könne, die dem schneller bewegten Körper mehr Widerstand leistet
als dem weniger schnellen.
Bekanntlich folgert Galilei in den Discorsi aus dem angegebenen
Gesetz des Luftwiderstandes, daß die Bewegung des in der Luft fallen-
— 277 —
den Körpers schließlich eine Gjleichförmifje werden muß. Die p^leiche
Behauptung wird in den älteren Abhandlungen de motu aufgestellt
und begründet, hier aber ausschließlich auf die Abnahme der ein-
geprägten Kraft zurückgeführt. Das Charakteristische dieser älteren
Anschauung ist, daß es eines Widerstands der Luft noch nicht bedarf,
um eine Verlangsamung der Bewegung zu bewirken. Daß Viviani
anachronistisch auch hier den neunzehnjährigen mit den Begriffen
des siebzigjährigen operieren läßt, veranschaulicht in besonderer
Weise die Willkür, mit der er Vorstellungen und tatsächliche Erkennt-
nisse aus späteren Perioden in die der jugendlichen Entvdcklung
überträgt.
Als willkürlich darf man wohl ohne Bedenken ein solches An-
ordnen und Gruppieren der Vorgänge bezeichnen, das nicht allein
auf geschichtliche Überlieferungen nicht zurückzuführen ist, sondern
geschichtlich Gegebenes unbeachtet läßt; es liegt jedoch keine Not-
wendigkeit vor, dem Biographen be\Mißte Verleugnung der Wahrheit zur
Last zu legen; vielmehr scheint hier neben jener mehrfach berührten
Neigung, als geschehen hinzustellen, was mutmaßlich oder möglicher-
weise geschah, als wesentliches Moment die unbegrenzte kindliche
Verehrung in Betracht zu kommen, die er seinem großen Lehrer zollt.
Viviani ist offenbar außerstande, an dem Gegenstand seiner leiden-
schaftlichen Bewunderung auch nur insoweit Kritik zu üben, als
dies erforderlich ist, um im Denken und Entdecken des großen Mannes
Stufenfolgen zu begreifen. Fast möchte man glauben, daß ihn eine
Vorstellungsweise schreckt, die notwendig dazu führen muß, der
erreichten Vollkommenheit gegenüber Momente der Unvollkommenheit
anzuerkennen. So läßt die Fortsetzung seiner Erzählung im Brief von
1659 allerdings die Entdeckung des Gesetzes der Pendellängen erst
in die Zeit nach dem Beginn der mathematischen Studien fallen,
aber im Zusanmienhang seiner Erzählung hört sich diese Angabe nur
\ne eine Entschuldigung dafür an, daß nicht auch diese Entdeckung,
bei der es sich um Quadratwurzeln handelte, sich in unmittelbarer
Folge den Beobachtungen im Dom zu Pisa anschloß.
Es darf hier hervorgehoben werden, daß niemand weniger als
Galilei selbst geneigt war, so ungeschichtliche Vorstellungen über den
Verlauf seiner Forschungen zur Geltung zu bringen; zu wiederholten
Malen gedenkt er der „tausende von Stunden", die er über den ein-
fachsten Problemen seiner Bewegungslehre gesonnen und gebrütet
— 278 —
hat. Viviani dagegen bietet nicht allein nirgends einen Aufschluß
über den hier angedeuteten denlavürdigen Gedankenprozei3, der zur
Begründung der heutigen Wissenschaft geführt hat, er negiert viel-
mehr in gewissem Maße jeden solchen Werdegang durch die Nicht-
erwähnung irgendwelcher Übergangsstufen und Irrtümer.
Als erwiesen darf nach den vorstehenden Erörterungen betrachtet
werden, daß Vivianis biographische Schriften in einer Reihe von Fällen
teils unrichtige, teils schlechthin unwahrscheinliche Angaben in zweifel-
loser Bestimmtheit der Erzählung einfügen; es erscheint dadurch
seinen Mitteilungen gegenüber Vorsicht und Zweifel auch da gerecht-
fertigt, wo nicht, wie in den besprochenen Beispielen, wohlverbürgte
Tatsachen und unzweideutige Aussagen den seinigen gegenüberstehen.
Nicht ohne nähere Prüfung wird man insbesondere alle diejenigen
biographischen Einzelheiten, die nur durch ihn bekannt sind, in der
bisher üblichen Weise als geschichtlich beglaubigt betrachten dürfen.
Eine solche Prüfung muß allerdings, sofern sie sich vorzugsweise
auf die Daten der Jugendgeschichte bezieht, dem Bedenken unter-
liegen, daß sie Erzählungen zu zergliedern versucht, bei denen es
kaum darauf ankommt, ob sie tatsächliche Vorgänge mehr oder minder
getreu reproduzieren, die vielmehr auch als sagenhafte Überheferungen,
wie sie dem Unbefangenen sich darbieten, die Jugendperiode des
großen Forschers in anschaulicher Weise illustrieren ; es erscheint wie
ein Eingriff in das Recht der Poesie, hier nach einem zugrunde-
liegenden wirkKchen Geschehen zu suchen.
Darauf ist zu entgegnen, daß trotz des unverkennbar sagenhaften
Charakters der hier zumeist in Betracht kommenden Erzählungen
dieselben fast allgemein im Vertrauen auf das Zeugnis Vivianis als
historische Angaben in den Zusammenhang der Biographie aufge-
nommen und darüber hinaus in der Geschichte der Physik für den Ent-
wicklungsgang der physikalischen Grundlehren verwertet worden sind
und daß auf diese Weise sowohl über den Lebensgang und den Charak-
ter Galileis wie über die Entwicklung des physikalischen Denkens
zweifellos Irrtümer in Aufnahme gekommen sind, deren Berichtigung
auch dann nicht überflüssig sein kann, wenn man aus irgendwelchem
Grunde für notwendig hält, die Jugendgeschichte Galileis in der Form,
die ihr Viviani gegeben hat, für immer zu bewahren. Immerhin wird
es der Prüfung wert sein, ob nicht etwa die von anekdoten- und sagen-
haften Bestandteilen gereinigte Geschichte an innerer Glaubwüi'dig-
._ 279 -
keit und Einheit gewinnt, was möglicherweise ihre Anfänge an poeti-
tischer Verklärung einbüßen könnten.
Es sind insbesondere drei Episoden des Vivianischen Berichts,
die für eine solche Prüfung in Betracht kommen. Zunächst die bereits
berührte ältere Form der Erzählung von den Beobachtungen im Dom
zu Pisa, Die Tatsache dieser Beobachtungen oder Wahrnehmungen
und die an sie geknüpfte Entdeckung des Isochronismus der Pendel-
schwingungen noch in der Zeit der akademischen Studien ist in den
vorstehenden Erörterungen als an sich dem Zweifel nicht unter-
liegend festgehalten. Auch für die Xotiz in dieser einfacheren Form
ist Viviani alleiniger Gewährsmann. Bei Gherardini, der mit Vorliebe
pikante Erzählungen gesammelt hat, ist von dem schwingenden
Kronleuchter nicht die Rede; man darf also annehmen, daß Gherar-
dini, der mit Galilei seit 1632 verkehrt, ihn nicht davon hat reden
hören; auch in den Erinnerungen des Sohnes Vincenzio Galilei, die
freilich auch von vielem anderen schweigen, ist der Pisaner Beobach-
tungen und Versuche nicht gedacht; aber ebensowenig sind sie von
Galilei selbst an irgendeiner Stelle seiner Schriften oder Briefe bei
Gelegenheit seiner Auseinandersetzungen über die Gesetze der Pendel-
schwingungen berührt. Dagegen findet sich in den 1638 veröffent-
lichten Discorsi im Zusammenhang mit der nachdi'ücklichen Dar-
legung der Ansicht, daß große und kleine Sch^^^ngungen des gleichen
Pendels gleiche Dauer haben, eine Bezugnahme auf schwingende
Kirchenlampen, die jedermann an Vivianis Erzählung erinnern muß.
Nachdem Salviati in der Kürze die Gesetze der Pendelbewegung
angeführt hat, sagt Sagredo^:
„Ihr gebt mir häufig Gelegenheit, den Reichtum und zugleich
die außerordentliche Freigebigkeit der Natur zu bewundern, indem
Ihr aus gewöhnlichen und, ich möchte sagen, auch gewissermaßen
niedrigen Dingen höchst merkwürdige und neue und sehr oft jeder
Einbildungskraft fernliegende Erkenntnisse entnehmt. Ich habe wchl
tausendmal auf Schwingimgen acht gegeben, insbesondere bei den
Lampen, die in manchen Kirchen von sehr langen Seilen herabhängen,
wenn dieselben unachtsamerweise von irgend jemand in Bewegung
versetzt wurden; aber höchstens habe ich aus solcher Beobachtung
entnommen, wie unwahrscheinlich die Meinung derjenigen ist, di(i
1 Ed. Naz. VIII p. I40f.
— 280 —
behaupten, daß derartige Bewegungen vom Medium, alsn von der
Luft, erhalten und fortgesetzt werden, aber daß ich daraus lernen
sollte, daß derselbe an einem hundert Ellen langen Seile hängende
Körper von seiner tiefsten Lage das eine Mal um 90 Grad, das andere
Mal um einen oder einen halben Grad abgelenkt, ebensoviel Zeit
gebrauchte, diesen kleinsten wie jenen größten Bogen zu durchlaufen,
darauf, glaube ich, würde ich nie gekommen sein."
Daß in irgendwelcher Weise zwischen dieser Sagredo in den Mund
gelegten Äußerung und dem, was Viviani berichtet, ein Zusanunen-
hang bestehen muß, leuchtet ein. Hat Galilei in Wahrheit in jungen
Jahren erlebt, was Viviani als Tatsache angibt, so hat er ohne Zweifel,
als er 50 Jahre später die Worte Sagredos niederschrieb, den Vorgang
im Pisaner Dom im Sinne gehabt; er hat aber ebenso gewiß die Jugend-
erinnerung, auf die er anzuspielen scheint, nicht in verständlicher
Weise zur Sprache gebracht, sondern sie geradezu versteckt, wie man
es nicht sorgfältiger bei Erlebnissen könnte, die dem Erzähler zur
Schande gereichen.
Solch absichtliches Verhüllen erscheint kaum verständlich bei
einem Manne, der es nie verschmäht oder gar ungebührlich gefunden
hat, sich des erfolgreichen Mühens wie des glücklichen Findens zu
rühmen, und doch wird man nicht leicht eine andere Deutung finden,
wenn es wirklich notwendig sein sollte, den wahren Sinn der etwa im
Jahre 1634 geschriebenen Worte einer iVnekdote zu entnehmen, die
im Jahre 1654 zum erstenmal erzählt '^ird.
Einfacher kann man allerdings in der an sich der Deutung nicht
bedürftigen früheren Äußerung den Ausgangspunkt für die Ent-
stehung einer Sage sehen, die Viviani als Schilderung eines geschicht-
lichen Vorgangs in seine Lebensdarstellung aufgenommen hat. Ein
Widerspruch gegen diese Auffassung kann jedenfalls nicht durch
den Hinweis auf die Autorität des „letzten Schülers" begründet
werden. Was wir von diesem wissen, läßt vielmehr als gewiß betrach-
ten, daß er unfähig gewesen wäre, eine ihm irgendwoher zugetragene
Erzählung nicht aufzunehmen, aus der so unverkennbar und in so
frühen Jahren der Genius des angebeteten Meisters hervorleuchtet.
Mit der Annahme, daß es sich in dieser Erzählung keineswegs
um einen geschichtlichen Vorgang handelt, steht anderseits im Ein-
klang, daß die wichtige Erkenntnis des Isochronismus der Pendel-
schwingungen in den Pisaner Schriften zur Bewegungslehre, also
— 281 —
mindestens sieben Jahre nach dem Zeitpunkt der angeblichen Ent-
deckung bei gegebener Gelegenheit nicht erwähnt wird. Einer pendel-
artigen Vorrichtung wird allerdings im Vorübergehen gedacht, als
eines Mittels, um experimentell zu beweisen, daß der schwerere Körper
die ihm eingeprägte Bewegung länger behält^; aber für die Ausführung
des hier beschriebenen Versuchs war es nicht nötig, zu wissen, daß
die Dauer der einzelnen Schwingung von der Weite derselben unab-
hängig ist.
Es ist außer Frage, daß Galilei bei denjenigen Versuchen, durch
die er etwa im Jahre 1604 oder kurz zuvor die Gesetze des freien
Falls ableitet oder bestätigt, sich des Pendels als Zeitmesser nicht
bedient hat; noch bei der Beschreibung solcher Versuche in den
üiscorsi von 1638 wird ausschließlich der Messung durch die Gewichte
des ausfließenden Wassers gedacht; es läßt sich begreifen, daß er
in dieser späten Mitteilung sein Verfahren genau so darstellt, wie es
bei den ursprünglichen Versuchen in Anwendung gebracht wurde,
also auch die schwerfällige Weise der Zeitmessung nicht durch die-
jenige ersetzt, die er inzwischen kennengelernt hat; als wenig wahr-
scheinlich muß dagegen betrachtet werden, daß er im Jahre 1604
das außerordentlich viel einfachere Mittel unbenutzt gelassen hätte,
wenn ihm zu dieser Zeit schon der Gedanke gekommen wäre, von
der theoretischen Erkenntnis des Isochronismus der Pendelschwin-
gungen die Anwendung zu machen, die ihm nach Viviani zwanzig
Jahre zuvor als unmittelbare Frucht der Beobachtungen im Dom
zu Pisa sich ergeben hätte.
Die Nichtbenutzung des Pendels bei den Fallversuchen legt die
Vorstellung nahe, daß es hier wie in so vielen verwandten Fällen für
die praktische Anwendung der erkannten Gesetzmäßigkeit eines
zweiten Erkennens bedurft hat, das einem nicht unerheblich späteren
Zeitpunkt angehört hat. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen,
ob diesen zweiten Schritt ein anderer vor Galilei getan hat. Gewiß
ist, daß auch in bezug auf die Verbindung beider Wahrnehmungen
Vivianis Aussage als unzuverlässig betrachtet werden muß.
Den Erzählungen über die Pendelforschung nahe verwandt sind
die Mitteilungen über das Verhalten des jungen Galilei zur Schul-
1 Ed. Naz. I p. 335 und 413.
— 282 -
Wissenschaft und zur Lehre des Aristoteles. Wie in jenen die wissen-
schaftliche Entdeckung in die Zeit vor dem Beginn jeder wissenschaft-
lichen Tätigkeit zu fallen scheint, so fällt die Äußerung des scharfen
kritischen Sinnes nach Vivianis Darstellung schon in die Tage des
Novizen von Vallombrosa: ,, langweilig, nutzlos und unbefriedigend"
dünlvcn ihn im logischen Unterricht „die dialektischen Termini, die
vielen Definitionen und Distinktionen, die Menge der Schriften, An-
ordnung und Inhalt des Vortrags. "^
Als er dann auf der Pisaner Universität die Vorträge über aristote-
lische Philosophie zu hören begonnen, kam ihm alsbald der Gegensatz
seiner eigenen Denkweise gegen die der herrschenden Schulweisheit
zum Bewußtsein; „er, den die Natur erkoren hatte, der Welt einen
Teil der Geheimnisse zu enthüllen, die so viele Jahrhunderte hin-
durch in dichtester Finsternis begraben lagen, weil die Geister in
sklavischer Abhängigkeit der Meinung, den Behauptungen eines ein-
zelnen folgten, er vermochte schon damals nicht, sich wie die anderen
blindlings dem fremden Verstände zu unterwerfen; freien Geistes,
wie er den Dingen gegenüberstand, meinte er, nicht so leichthin sich
auf die Aussprüche und Meinungen der alten wie der neueren Schrift-
steller verlassen zu dürfen, wo er durch Nachdenken und Erfahrung
der Sinne sich selbst befriedigen konnte. Er trat daher in den Disputa-
tionen über Sätze der Naturlehre oftmals denen gegenüber, die sich
verpfHchtet glaubten, jedes von Aristoteles geschriebene Wort aufs
strengste zu verteidigen und erwarb sich unter ihnen den Namen
eines Widerspruchsgeistes, weil sie es unerträglich fanden, die Lehren,
die sie sozusagen mit der Muttermilch eingesogen, in neuer Weise
mit Leichtigkeit bestritten und widerlegt zu sehen."-
Diese Schilderung, die im wesentlichen noch für die ein Viertel-
jahrhundert später beginnende Periode des Kampfes um die tele-
skopischen Entdeckungen passen würde, ist in einer späteren Bearbei-
tung der Biographie von Viviani in sehr charakteristischer Weise
verbessert und ergänzt worden. ^ Hier läßt er den kecken Studenten
nicht ,, oftmals", sondern ,, immer" den Anhängern des Aristoteles
widersprechen; zum Namen „Widerspruchsgeist", den er nach dem
ursprünglichen Wortlaut sich erwirbt, kommt in dem verbesserten:
1 Ed. Naz. XIX, p. 602.
2 Ed. Naz. XIX, p. G02f.
* Vergl. über diese Bearbeitung Ed. Naz. XIX, p. 597—598.
— 283 —
„als Belohnung für die von ihm entdeckten Wahrheiten der Haß"
der Verteidiger des Aristoteles; die Kühnheit und zugleich die Be-
deutung seines Auftretens wird nachdrücklich gekennzeichnet, indem
er seinen Widerspruch erhebt „als ein blutjunger Student" (giovanetto
studente), der, wie die Gegner sich ausdrücken, „noch nicht seinen
Kursus durchgemacht hat"; obgleich aber durch diesen Zusatz die
Szene der gelehrten Kämpfe noch bestimmter in die ersten Studien-
jahre verlegt \nrd, bringt der junge Galilei seine Entgegnungen nicht
nur, wie es der älteren Ausgabe genügte, „mit Leichtigkeit", sondern
auch „in durchaus überzeugender Weise" (con tanta evidenza) zum
Vortrag.
Die wesentliche Verschärfung des oppositionellen Verhaltens,
die in dieser \ierfachen Änderung liegt, ist wenig geeignet, Vivianis
Darstellung glaubhafter erscheinen zu lassen. Konnte die ältere Lesart
noch als eine stark verherrlichende Xachbildung wirklicher Vor-
gänge angesehen werden, so ergänzen die Verbesserungen das dort
Gegebene zum Bild des Jünglings von ,, übernatürlicher" Begabung,
für den es ein geistiges Werden nicht eigentlich gegeben und der
deshalb nicht irgendwelcher einführender Studien bedurft hat, um
neue Walirheiien zu entdecken, um in den Werken, die für die Mit-
lebenden den Inbegriff des Wissens darstellen, auf den ersten Blick
die leere Wortweisheit zu erkennen, um neue Weisen des Denkens
und Begründens der veralteten Dialektik gegenüberzustellen. Zugleich
aber machen die Varianten der späteren Bearbeitung in erhöhtem
Maße wahrscheinlich, daß Vivianis Bild nicht den Erinnerungen und
Aufzeichnungen des gewissenhaften Historikers entnommen, sondern
aus der Phantasie des Künstlers hervorgegangen ist, der nach Be-
dürfnis und I^eigung umgestaltet, was er gestaltet hat.^
^ In gleichem Sinne charakteristisch erscheint die Kürzung, die Viviani
in der verbesserten Handschrift seiner Biographie an der Schilderung der
Kindheit vorgenommen hat. Die ältere von Salvini und übereinstimmend
von der Paduancr Ausgabe mitgeteilte Lesart läßt den Knaben in seinen Spiel-
stunden „Alles, was ihm an Merkwürdigem und Sinnreichem zu Gesichte
gekommen war, nachbilden, wie es ihm durch den Kopf ging, oder v,-ie es
seine Schulgefährten von ihm begehrten, denen er deswegen ein beliebter
Kamerad gewesen ist". Die verbesserte Ausgabe hat das Begehren der Schul-
gefährten und diese selbst über Bord geworfen. Dafür sind aus den frülier
nur allgemein bezeichneten Nachbildungen in der späteren Bearbeitung
, »Mühlen, Schiffe und dergleichen" geworden.
— 284 —
Viviani hat allem Anscheine nach in seiner Schilderung des
kämpfenden Pisaner Studenten seine Vorstellung von den Ursprüngen
des Streits, der Galileis Leben erfüllte, verkörpert; für den blind-
verehrenden Schüler beginnt mit dem ersten Blick in ein aristote-
lisches Buch der "Widerspruch gegen den Aristoteles. Zu wesentlich
anderen Vorstellungen gibt die einzige aus Galileis Studienzeit er-
haltene Urkunde, das im ersten Band besprochene Kollegienheft,
Veranlassung. 1 Wie "wunderlich auch in den Vorträgen „über den
Himmel" der scholastische Meister spekuliere und disputiere — nirgends
zeigt das Heft, in dem der achtzehn- oder neunzehnjährige Student
seine Lehren eingetragen, eine Spur von jenem Widerspruchsgeist,
von dem Viviani so Erstaunliches zu berichten weiß; keine Bemerkung,
nicht ein bescheidenes Fragezeichen am Rande deutet an, daß der
Inhalt der Vorträge über die Schriften des Aristoteles für den jugend-
lichen Hörer Gegenstand der Kritik oder auch nur des leise sich
regenden Zweifels gewesen ist; geduldiger hat niemals ein Schüler
halb verstandene und unverstandene Weisheit nach Hause getragen.^
Selbst in den frühestens vier Jahre darauf entstandenen Ab-
handlungen und Dialogen zur Bewegungslehre sind es nicht allgemeine
kritische Bedenken, sondern wesentlich mathematische Betrachtungen,
an die ein Widerspruch gegen den Aristoteles sich knüpft; die Beschäf-
tigung mit der Mathematik hat offenbar den Ausgangspunkt der
neuen Denkweise und der Abwendung von der Schulgelehrsamkeit
gebildet, und darin liegt ein weiterer Beweis dafür, daß die Kämpfe
der jüngeren Jahre der Sage angehören.
Geschichtlich wahrscheinlicher wenigstens lautet der Bericht
über die Pisaner Lehrtätigkeit und die offene Bekämpfung des Aristo-
teles während dieser Periode. Die Schriften zur Bewegungslehre
beweisen, daß in dieser Zeit in der Gedankenwelt des jungen For-
schers der Gegensatz gegen die aristotelische Physik bereits eine ent-
scheidende Rolle spielt ; es ist also wohl denkbar, daß die neu gewonnene
Überzeugung schon damals auch sein äußeres Leben beeinflußt und
bestimmt hat. Ist aber das, was in dieser Beziehung Viviani erzählt,
auch mehr als nur ..sehr wohl denkbar?" Mit andern Worten: nötigt
1 s. Bd. I. S. 70ff.
- Wer wie einige italienische Gelehrte in dem ,, Kollegienheft" vielmehr
die erste eigene Arbeit Galileis sieht, wird dreifach unverständlich finden
müssen, was Viviani von kritischen Gelüsten erzählt.
— 285 —
lins Vivianis Bericht, zu «rlauben, daß ihm übor die Zeit der Pisaner
Professur Mitteilungen zu Gebote standen, die uns heute fehlen? oder
läßt sich annehmen, daß er hier — wie in so manchen andern Fällen —
nur das, was ihm in der Vorstellung gewiß erschien, ohne Benutzung
der sonst üblichen Wege zur geschichtlichen Wahrheit in die Bio-
graphie hinübergenommen hat?
jN'icht zu bezweifeln ist vor allem, daß wie für uns, auch fürViviani
(h'e handschriftlich erhaltenen Abhandlungen „de motu" die Haupt-
quelle für die Kenntnis jener Zeit gewesen sind. Man braucht aus
seiner Erzählung nur einige Worte wegzulassen, um in ihr im wesent-
lichen einen kurzen Bericht über den Hauptinhalt der Abhandlungen
zu lesen.
„In der Erkenntnis, daß zur Erforschung der Naturerscheinungen
mit Notwendigkeit eine wahre Einsicht in die Natur der Bewegung
erforderlich ist" — so schreibt Viviani — , „gab Galilei damals sich
ganz dem Nachdenken über diesen Gegenstand hin; so wurden in
jener Zeit
von ihm mit Hilfe von Experimenten und durch strenge Beweise und
Erörterungen sehr zahlreiche, auf die Bewegung bezügliche Lehren
des Aristoteles als falsch er\\iesen, die bis zu jener Zeit als durchaus
klar und keinem Zweifel unterliegend angesehen waren, wie unter
anderm, daß die Geschwindigkeiten von Körpern derselben Materie,
aber ungleicher Schwere, wenn dieselben sich dm-ch dasselbe Medium
bewegen, keineswegs dem Verhältnis ihrer absoluten Schwere ent-
sprechen, wie Aristoteles es angibt, sondern daß dieselben vielmehr
sich alle mit gleicher Geschwindigkeit bewegen —
und daß ebensowenig die Geschwindigkeiten desselben Körpers in
verschiedenen Medien im umgekehrten Verhältnis mit den Wider-
ständen oder Dichtigkeiten dieser Medien stehen, was er aus der
offenbarsten Absurdität der Konsequenzen ableitete, zu denen im
Widerspruch mit der Sinneswahrnehmung die Behauptung des Aristo-
teles führen müßte." ^
Das alles könnte offenbar auch ein heutiger Leser der Pisaner
Abhandlungen geschrieben haben; erst die beiden, im vorstehenden
durch Striche bezeichneten Zusätze machen aus dem Referat über
eine Schrift eine Erzählung aus dem Leben ihres Verfassers.
1 Ed. Naz. XiX. p 606.
— 286 —
An der ersten Stelle, wo davon die Rede ist, daß Galilei als Pisaner
Dozent Behauptungen des Aristoteles als falsch erwiesen, schaltet
Viviani ein: „zur großen Bestürzung aller Piiilosophen".
Für den unbefangenen Leser enthalten diese fünf Worte die
Schilderung einer tatsächlich ausgeübten Wirkung. Wir wissen bereits,
(laß Viviani mit ungefähr den gleichen Worten auch den Eindruck
wiedergeben würde, den seiner Überzeugung nach Galileis Gedanken
hervorrufen mußten, wenn immer sie den Peripatetikern bekannt
wurden. Der Zusatz beweist daher höchstens, daß Viviani darüber,
daß der wesentliche Inhalt der Handschrift in die Öffentlichkeit
drang, keinen Zweifel gehegt hat.^
Bestimmter ist in der zweiten Einschaltung als Tatsache hin-
gestellt, daß die Polemik der Abhandlungen den Gegenstand öffent-
licher Vorträge und Diskussionen gebildet hat. Dem Satz von der
gleichen Geschwindigkeit ungleich schwerer Körper fügt Viviani hinzu :
„und das bewies er durch wiederholte Versuche, die von der Höhe
des Glockenturmes zu Pisa herab in Anwesenheit der übrigen Dozenten
und Philosophen und der ganzen Studentenschaft ausgeführt wurden,"^
Es ist nicht möglich, klarer auszudrücken, daß nach der Meinung
des Berichterstatters das Erzählte wirkhch vorgefallen ist, man wird
daher zunächst geneigt sein, den Gedanken weit abzuweisen, daß
auch hier nur die lebendige Einbildungskraft des Biographen aus
der Vorstellung, die er den Abhandlungen ,,über die Bewegung"
entnommen, einen geschichtlichen Vorgang gestaltet hat.
Gewiß ist, daß für Vivianis Erzählung jede anderweitige Be-
stätigung fehlt und daß dies Fehlen keinenfalls als unerheblich an-
gesehen werden kann. Denn es schweigen über den völlig außergewöhn-
lichen Vorgang auch diejenigen, die ihn zu berühren die bestimmteste
Veranlassung hatten. Das gilt insbesondere von Jacopo Mazzone,
der als Galileis nahe befreundeter Kollege in der Zeit der Pisaner
Professur im zweiten Kapitel des 1. Bandes^ genannt ist. Ihm gegen-
^ Eine vollständige Analogie zu den fünf Worten bieten diejenigen,
die Viviani seiner Angabe, Galilei habe das Pendel zur Messung des Puls-
schlags benutzt, hinzufügt; es verstand sich ganz von selbst, daß, wenn er
in Wahrheit diese Erfindung gemacht hat, dies „con istupore e diletto de
medici di que' tempi" geschah.
2 Ed. Naz. XIX, p. 606.
ä s. Bd. I, S. 114f.
— 287 -
über hat Galilei schon damals aus seinen Bedenken ^egen die aristo-
telische Physik kein ilehi gemacht; diese Bedenken sind der Gegen-
stand freundschaftlicher Disputationen zwischen beiden Gelehrten ge-
wesen, in denen Mazzone den Aristoteles verteidigte. ^ Es ist daher
ebenso unwahrscheinlich, daß diesen Mann öffentlich angestellte Ver-
suche des Freundes, die in einem Hauptpunkt den Aristoteles ent-
scheidend widerlegten, gleichgültig gelassen hätten, wie es undenkbar
ist, daß sie ihm unbekannt geblieben wären,
Nun hat aber Mazzone im Jahre 1597, also fünf Jahre nach
dem Scheiden Galileis von Pisa, in seinem Buche „de comparationc
Aristotelis et Piatonis" auch der Naturlehre des Aiistoteles ein-
gehende Besprechungen gewidmet. Er war inzwischen, wie Galilei
mit Genugtuung anerkannt hat, aus einem unbedingten Verteidiger
zum mindesten ein ernster Zweifler geworden; der ordentliche Pro-
fessor der aristotelischen Philosophie stellt in einem besonderen Ab-
schnitt seines Buchs eine Reihe von Irrtümern zusammen, denen
Aristoteles in seiner Physik verfallen ist, weil er die Bedeutung der
Mathematik für die Begründung der Naturlehre nicht in gebührender
Weise gewürdigt hat. Unverkennbar liegen dieser Kritik die Unter-
suchungen Benedettis zugrunde; in der Ausführung selbständig, nicht
selten auch selbständig irrend, folgt Mazzone sowohl in der Auswahl
der Sätze, die er bemängelt, wie im wesentlichen in der Begründung
seines Widerspruchs dem Gedankengang des Turiner Mathematikers;
in mehreren Fällen sind Benedettis „Disputationen gegen den Aristo-
teles" am Rande als Quelle angeführt, so bei der ausführlichen Wider-
legung der Behauptung, daß im leeren Raum die Bewegung keine
Zeit erfordern würde. Als einen Irrtum, der mit diesem nahe zusammen-
hängt, führt Mazzone den Satz an: daß die Fallgeschwindigkeiten
verschiedener Körper gleicher Art sich nach dem Verhältnis der
Größe richten; er behauptet in Übereinstimmung mit Benedetti und
Galilei, die er nicht nennt, daß vielmehr im gleichen Medium bei
verschiedenster Größe Körper derselben Ai't mit gleicher Geschwin-
digkeit fallen.
Wenn irgendwo, durfte man in diesem Zusammenhange eine
Bezugnahme auf die Versuche erwarten, die nach Viviani alle Philo-
^ Vergl. Galileis Brief an Mazzone vom 30. Mai 1597. Ed. Naz. II
p. 197.
— 288 —
sophen in Bestürzung versetzt hatten; aber Mazzone begnügt sich
damit, auf Grund des archimedischen Prinzips für seine Behauptung
einen Beweis abzuleiten, den er leicht und überzeugend findet^; er
schweigt von Versuchen, die dem Ergebnis der mathematischen Er-
örterung zur Bestätigung dienen könnten.
Wie Mazzone im Jahre 1597, so schweigt trotz dringender Ver-
anlassung, zu reden, im Jahre 1612 der Pisaner Peripatetiker Giorgio
Coresio von Galileischen Versuchen. Coresio gehörte zu denjenigen
Schulgelehrten, die sich berufen fühlten, gegen Galileis Discorso
intorno ai Galleggianti in die Schranken zu treten. Bei Erwähnung
der Galileischen Ansicht über die Fallgeschwindigkeit ungleich großer
Körper bemerkt Coresio: dies habe vor Galilei Mazzone gelehrt, sein
Ii-rtum sei vielleicht daraus hervorgegangen, daß er den Versuch nur
vom Fenster aus gemacht habe, von dem aus, weil es niedrig lag,
alle schweren Körper vielleicht gleichschnell zu Boden fielen; er aber
(Giorgio Coresio) habe ihn von der Höhe des Campanile des Pisaner
Doms herab ausgeführt und habe die Behauptung des Aristoteles
bewährt gefunden, daß von derselben Materie das Ganze, „wenn
seine Gestalt der Gestalt des Teils proportioniert sei", schneller als
dieser falle.^
Nicht nur für Coresio, sondern für die ganze Schar der verbün-
deten Florentiner und Pisaner Gegner mußte von Galileis älteren
Fallversuchen jede Spur verloren gegangen sein, wenn sie darauf
verzichteten, eine solche direkte Widerlegung des Versuchs -durch
den besseren Versuch gegen ihn auszubeuten. In der Tat wider-
sprechen sie alle seiner Lehre, aber keiner gedenkt seiner Versuche.
Aber ein Zeugnis für Versuche, wie Viviani sie beschreibt, ist
auch bei Galilei selbst nicht zu finden. Die Pisaner Abhandlungen
zur Bewegungslehre, wie der Dialog über den gleichen Gegenstand
widerlegen die Lehren des Aristoteles, begründen Galileis Ansicht
über die Fallgeschwindigkeit, aber was sie von Erfahrungen in gleichem
Sinne sagen, entspricht sehr wenig den Erwartungen, die der Bio-
graph hervorgerufen hat. Wer nach Vivianis Erzählung darin vor
^ Mazzones Beweis, der in Wahrheit nichts weniger als überzeugend
ist, läßt Benedettis Vorbild unbenutzt; dagegen erinnert er stark an einen
— gleichfalls unzureichenden — Begründungsversuch in Galileis Handschrift
de motu.
" Ed. Naz. IV p. 242.
— 289 —
allem das Verdienst des jungen Forsehers sieht, daß er die Unver-
einbarkeit der aristotelischen Lehre mit leicht zu erprobenden Wahr-
nehmungen zum Bewußtsein bringt, ihre Naturwidrigkeit an schla-
genden Beispielen dartut, wd sich schon dadurch enttäuscht sehen,
daß gerade bei der Lehre von der Fallgeschwindigkeit die Pisaner
Handschrift einer Überschätzung der Erfahrung als Mittel zur Er-
gründung der Wahrheit entgegentritt. Zwar beginnt Galilei mit dem
Hinweis auf Konsequenzen der aristotelischen Lehre, die der Augen-
schein als "widersinnig erscheinen läßt. „Wenn von einem hohen Turm
zwei Steine herabgeworfen werden, von denen der eine doppelt so
groß ist wie der andere, wer wird wohl glauben, daß, wenn der kleinere
in halber Höhe des Turms ist, der größere schon die Erde erreicht
haben wird? Oder wenn aus der Tiefe des Meeres ein sehr großer
Balken und ein kleines Stück aus demselben Holz gleichzeitig auf-
zusteigen beginnen — wer möchte behaupten, daß der Balken hundert-
mal schneller die Oberfläche des Wassers erreichen wd?"i Das aber
ist auch alles, was er von Erfahrungen sagt, als wichtiger und allein
entscheidend bezeichnet er die theoretische Untersuchung. „Wir
wollen", sagter^, „mehr mit Gründen als mit Beispielen operieren,
denn was wir suchen, sind die Ursachen der Erscheinungen, die uns
die Erfahrung nicht gibt." Demgemäß wird auch in der darauf-
folgenden Ableitung der eigenen Lehre ebensowenig wie bei Benedetfci
und Mazzone auf Versuche Bezug genommen. Nur zur Veranschau-
lichung der Tatsache der gleichen Geschwindigkeiten großer und kleiner
Körper gedenkt Galilei nochmals der schwimmenden Hölzer; daß
aber, was diese glaublich erscheinen lassen, aus Fallversuchen sich
unmittelbar ergibt, ist weder in den ausführlichen Abhandlungen,
noch in dem zusammenfassenden Dialog irgendwo ausgesprochen.
Und doch werden in eben diesen Schriften tatsächlich ausgeführte
Fallversuche mehrfach erwähnt; auch eines hohen Turms wd ge-
dacht, von dem aus sie angestellt sind; man kann es auffällig finden,
daß Galilei diesen nicht bestimmter bezeichnet, doch liegt darin kein
Grund, zu bezweifeln, daß der Pisaner Campanile gemeint ist; im
übrigen aber sind die Versuche von dem, was man nach Vivianis
Bericht „die berühmten Pisaner Fallversuche" nennt, wesentlich ver-
schieden; sie suchen zum Teil die Antwort auf Fragen, die für die
1 Ed. Naz. I p. 263.
Wohlwill, Galilei. II. 19
._ 290 —
heutige Wissenschaft nicht mehr vorhanden sind. So erörtert Galilei,
weslialb von zwei fallenden Körpern der leichtere anfangs schneller
fällt; er widerspricht der Erklärung des Hieronynius Borrius; nach
dieser müßte der leichtere Körper nicht nur zu Anfang, sondern immer
schneller fallen; „die Erfahrung aber", sagt Galilei^, „zeigt das Gegen-
teil: es ist wahr, daß das Holz im Anfang seiner Bewegung sich schneller
bewegt als das Blei; aber bald darauf wird die Bewegung des Bleis
so sehr beschleunigt, daß es das Holz hinter sich läßt und wenn beide
von einem hohen Turm herabfallen, demselben um eine große Strecke
vorauseilt, und dieses habe ich oftmals durch den Versuch erprobt."
Was diese Versuche bestätigen, ist also einerseits die iiTtümlich
von Galilei wie von den Anhängern des Aristoteles angenommene
größere Anfangsgeschwindigkeit des fallenden Holzes, andrerseits die
auch von Aristoteles behauptete größere Durchschnittsgeschwindig-
keit des fallenden Bleis.
So ausdrücklich, wie in diesem Falle, werden in keinem andern
die Versuche als von Galilei selbst ausgeführte bezeichnet; doch hat
man offenbar an seine eigenen Wahrnehmungen auch dann zu denken,
wenn er nur in allgemeinen Ausdrücken bemerkt, daß beim Fallen
der Körper von einem hohen Turm herab bestimmte Erscheinungen
beobachtet werden ; es geschieht dies zweimal in den Abhandlungen
und einmal in dem Dialog.
Galilei glaubt bewiesen zu haben, daß die Fallgesch'windigkeiten
verschiedenartiger Stoffe sich wie die Überschüsse der Getsdchte
gleicher Räume über diejenigen gleichgroßer Räume des Mediums
verhalten. „Aber diese Verhältnisse", sagt er, „werden von dem-
jenigen, der den Versuch macht, nicht beobachtet; denn wenn man
zwei Körper solcher Beschaffenheit, daß der eine doppelt so schnell
als der andere sich bewegen müßte, von einem Turm herabfallen
läßt, so wird der schnellere sicher nicht doppelt so schnell die Erde
erreichen."^
1 Ed. Naz. I p. 334.
- Ed. naz. I p. 273. Galilei wird durch diesen Widerspruch der Er-
fahrung keineswegs in seiner Ansicht unsicher; die Abweichung erscheint
ihm als notwendig zusammenhängend mit der oben erwähnten vermeintlichen
Wahrnehmung, nach der im Anfang der Bewegung die Geschwindigkeit des
leichteren Körpers die größere ist; und dafür findet er eine völlig befriedigende
Erklärung in seiner Theorie der Fallbeschleunigung.
— 291 —
Hier ist es also die eigene, aus archimedischer Lehre abgeleitete
Theorie Galileis, der sein Versuch widerspricht.
An einer andern Stelle behauptet er gegen Aristoteles, daß,
wenn auch die natürliche Bewegung des fallenden Körpers bis ins
Unendliche fortdauern könnte, darum doch die Geschwindigkeit
nicht unendlich zunehmen müsse, vielmehr werde für jeden Körper
nach angemessener Dauer des Falls die Bewegung eine gleichförmige
werden ; ließe man Körper von größerem Gewicht von der Höhe eines
Turms herabfallen, so würde allerdings bis zum Erreichen der Erde
Beschleunigung wahrgenommen, da der Weg und die Zeit zu kurz
sei, um die dem Körper eingeprägte Ki'aft zu verzehren. ^
Es ist durchaus glaublich, daß dieser Behauptung, die fast mit
denselben Worten im Dialog reproduziert wird^, wirkliche Beobach-
tungen zugrunde liegen; daß dieselben zur Widerlegung der aristote-
lischen Ansicht keineswegs brauchbar gewesen sind, erhellt ohne
weiteres.
Die in den Pisaner Schriften erwähnten Fallversuche sind dem-
nach im vollsten Gegensatz zu denjenigen, die Viviani beschreibt,
Hilfsmittel der stiUen unabgeschlossenen Forschung, zur öffentlichen
Demonstration vor Uneingeweihten selbst dann nicht geeignet, wenn
dabei vom Kampf gegen den Aristoteles ganz abgesehen wäre, für
diesen aber aus dem einfachen Grunde nicht verwendbar, weil die
Ergebnisse mit aristotelischen Lehren nicht im Widerspruche stehen.
Es ist nicht zu bezweifeln, daß Galilei neben den hier erwähnten
Versuchen auch solche über die Fallgeschwindigkeiten gleichartiger
Körper von verschiedener Größe angestellt hat; daß er sie nicht an-
führt und dadurch gerade dem Hauptpunkt der aristotelischen Lehre
gegenüber den Erfahrungsbeweis schuldig bleibt, erklärt sich einfach,
wenn man in Betracht zieht, daß Versuche im lufterfüllten Raum
auch bei sorgfältiger Ausführung Abweichungen von der theoretischen
Forderung völliger Gleichheit der Geschwindigkeiten ergeben mußten,
für die Galilei damals keine genügende Erklärung zu Gebote stand.
Konnte darin für ihn eine Veranlassung liegen, mit dem unbefriedigen-
den Ergebnis die Versuche selbst in seinen Aufzeichnungen unerwähnt
zu lassen — wieviel mehr mußte die Unzuverlässigkeit des Experi-
1 Ed. Naz. I p. 329.
- Ed. Naz. I p. 406—407.
19 =
— 292 —
nicnts ihn hindern, sie zum Gegenstand einer öffentlichen Demon-
stration zu machen!
Es ist kaum nötig, hinzuzufügen, daß die Versuche, von denen
Viviani berichtet, ebensowenig wie in der ältesten in irgendeiner der
späteren Schriften Galileis erwähnt werden. Auch die bestimmte
Aufforderung, die in den angeführten Worten des Giorgio Coresio
lag, gab Galilei keine Veranlassung weder zur kritischen Äußerung
über die neuen Experimente, noch zur Erinnerung an die eigenen
mehr als zwanzig Jahre älteren. Unter Galileis Zusätzen zur ungedruck-
ten Gegenschrift seines Freundes Castelli nimmt der letztere auf Coresios
gegen Mazzone gerichteten Tadel Bezug; in bestimmten Ausdrücken
gibt er dem alten Pisaner Freunde gegen den unwissenden Kritiker
recht, aber auch bei dieser Gelegenheit gedenkt er der eigenen Ver-
suche nicht. ^
Als erwiesen darf daher betrachtet werden, daß der Erzählung
von der öffentlichen Pisaner Demonstration zur Widerlegung der
aristotelischen Lehre kein geschiclitlicher Vorgang entsprochen hat.
Um zu erklären, wie sie entstanden ist, hat man keine andere Wahl,
als anzunehmen, daß entweder Viviani einer älteren, heute spurlos
verlorenen Überlieferung folgt, die ihm interessant genug erschien,
um üir gegenüber das unzweideutige Zeugnis der Pisaner Abhand-
lungen unberücksichtigt zu lassen, oder daß er in freier Kombination
aus dem -sviderstrebenden Material derselben Abhandlungen in der
Demonstration vor den versammelten Studenten und Professoren
ein Seitenstück zu den häuslichen Experimenten vom Jahre 1583
geschaffen hat.
i^un hängen aber die Fallversuche in Vivianis Darstellung aufs
engste zusammen mit der Gesamtschilderung der kurzen Periode
der Pisaner Professur; sie erscheinen nur als ein Moment in dem großen
Unternehmen Galileis, durch akademische Vorträge die aristotelische
Lehre zu bekämpfen; diese Vorträge wiederum werden als der Höhe-
punkt seiner Pisaner Tätigkeit hingestellt; sie sind es, die ihm Ruhm
und Anerkennung bei den Einsichtigen erwerben, die zu Eifersucht
und Übelwollen gegen ihn die Schulgelehrten aufregen und seinem
Wirken in Pisa das Ende bereiten. Von diesem allen — wewohl es noch
heute zum Bilde des historischen Galilei zu gehören scheint — gilt,
1 Vergl. Ed. Naz. IV p. 285.
— 293 —
was von den öffentlichen Versuchen dargetan ist: es ist nicht besser
verbürgt als dies.^; obgleich es sich dabei in erster Linie um Vorgänge
handelt, die für die Universität Pisa und einen großen Teil ihier
Angehörigen von eingreifender Wichtigkeit waren, um Angriffe schwer-
wiegender Art gegen die einflußreichsten Persönlichkeiten, wie gegen
das System und den Geist der herrschenden Wissenschaft, so hat
doch weder Freund noch Feind auch nur durch eine Andeutung das
Gedächtnis dieser Dinge der Nachwelt aufbewahrt. In der Literatur
zur Geschichte der Universität Pisa und ihrer Gelehrten ist das Inter-
mezzo voller Kampf und Leidenschaft nicht vorhanden.
Es ist daher um so weniger möglich, in der Schilderung Vivianis
eine wahrheitsgetreue Darstellung der Pisaner Periode zu sehen, je
mehr dieselbe auch an innerer Wahrscheinlichkeit zu wünschen übrig
läßt. Für einen Viviani lag allerdings nichts Erstaurdiches darin,
wenn im Angesicht des jungen Löwen den Veteranen der Gelehr-
samkeit das Wort des Widerspruchs auf der Lippe verstummte, wenn
sie in schweigendem Zorn nach jVIitteln suchten, ihn unschädlich zu
machen, und da der gerade Weg ungangbar schien, zu Intriguen ihre
Zuflucht nahmen; wer die Literatur der neueren peripatetischen
Schule oder auch nur die gegen Galilei gerichteten Schriften der
späteren Zeit durchblättert hat, weiß, daß eine Wii'kung öffentlicher
antiaristotelischer Vorträge, wie sie nach Viviani stattgefunden hätte,
mit dem eigentlichen Wesen der Schulgelehrsamkeit jener Tage, das
in Wortweisheit wurzelt, nicht vereinbar ist. Eine Widerlegung, die
eine Zurückweisung auch nur erschwert oder gar eine unwiderstehliche
Überlegenheit, die sich die Anerkennung erzwingt — das sind Vor-
stellungen, die im Gedankenkreis der Jünger des Aristoteles keinen
Raum fanden; schon das Nichtvorhandensein irgendwelcher dispu-
tierenden Entgegnungen könnte daher als Wahrscheinlichkeitsbeweis
dafür gelten, daß ein öffentlicher Angriff Galileis, wie ihn Viviani
schildert, niemals erfolgt ist.
Mit diesem Hauptgegenstand der Pisaner Lehrtätigkeit, im Sinne
einer sagenhaften Überlieferung, würde dann freilich auch die Glorie
ve^sch^^^ndcn, die über jenen Tagen zu schweben schien; die Anerken-
nung der wenigen Kundigen wird dem Wissen und dem Gedanken-
flug des jungen Mathematikers sicherlich nicht gefehlt haben, die
Dankbarkeit einer kleinen Zahl von wißbegierigen Schülern mag dem
unvergleichlichen Lehrer zeitweilig: den Druck einer kaum erträdichen
— 294 —
Lage erleichtert haben; aber Kuhm und Ehren, die zu giftigem Neid
die wohlbestallten ,, Philosophaster" erregten, gehören derselben Phan-
tasie an, die aus dem bescheidenen Dozenten der Mathematik den
siegreichen Bekämpfer des Aristoteles gestaltet hat.
Der Schilderung Vivianis gegenüber treten uns aus den Bruch-
stücken des Briefwechsels mit dem Marchese dal Monte aus den
Jahren 1589—92 die Züge eines Bildes entgegen, in dem für Neid
und Eifersucht der Angriffspunkt nicht vorhanden ist. Der Zustand,
in dem dal Monto den Freund ,, nicht sehen kann", ist für den unbefaur
genen Leser schlechthin der des mißachteten Genius, des zu schlimm-
ster Nahrungssorge verurteilten Forschers. Dieser Dämmcrungs-
zustand, in dem die Leuchte des kommenden Tages kaum von den
höchsten Höhen herab sichtbar wird, ist offenbar für Vivianis begeister-
ten Sinn etwas Unfaßbares; er begreift eine Zeit, in der dem wunder-
baren Manne gegenüber die Abneigung der Schlechten und Törichten
die Neigung der Guten und Klugen überwiegt, nicht eine Periode
der stillen inneren Vorbereitung, an der die Außenwelt keinen Teil
hat und der sie deshalb ohne Haß und Liebe gegenübersteht. Einfach
erldärt sich nach dal Montes Briefen, daß Galilei mit dem Abschied
von Pisa eine unhaltbare und aussichtslose Lage aufgibt; statt dieser
natürlichen Lösung bedarf Viviani eines komplizierten Apparats, denn
bei ihm gilt es nicht, den kaum beachteten jungen Mathematiker,
sondern den ruhmreichen Gegner des Aristoteles zu entfernen; nicht
genug, daß ihm Feinde und Neider erstehen, die darauf bedacht
sind, sich seiner zu entledigen — eine neue rühmliche Tat des
Helden muß ihnen das Mittel geben, ihren Plan zur Ausführung zu
bringen.
Für die Erzählung dieses im Text erwähnten Vorgangs hat man
eine geschichtliche Grundlage bisher vergebens in den Florentiner
Archiven gesucht; nur eine scheinbare Bestätigung bietet die an-
nähernd übereinstimmende Ausführung des Kanonicus Gherardini.
Niccolö Gherardini hatte als Prior der Parochie von S. Margherita
a Montici, zu der Galileis Villa gehörte, während der sieben letzten
Lebensjahre des Gefangenen von Arcetri mit diesem in freundschaft-
lich nachbarlichem Verkehr gestanden. Erinnerungen an diese Zeit
hat er seiner eigenen Aussage gemäß dreizehn Jahre nach Galileis
Tode, das heißt 1655 aufzuzeichnen begonnen, als er erfuhr, daß
man damit umgehe, das Leben und die Taten des großen Mannes zu
— 295 —
schreiben.^ Durch diese ZoitbcstimimiiiEf scheint allerdinojs aus-
^eschlusseii, daß Viviani seine Aufzeichnungen hätte benutzen können;
um so wuhrscheinlidier ist, daß Gherardini zu denen f^ehürt hat, die
er befragte, als es ihm darauf ankam, von allen, die Galilei nahe-
gestanden, authentische Mitteilungen über sein Leben zu erlialten, und
daß er von seinen Erzählungen benutzt hat, was ihm glaublich erschien.
Mit der Annahme, daß auch für die Differenz mit dem Prinzen
Giovanni Gherardinis Erinnerungen Vivianis Quelle gewesen wären,
sind die Abweichungen beider Erzählungen wohl vereinbar. Gherar-
dini nennt den Namen des Prinzen, Viviani redet nur von einer „hohen
Persönlichkeit''; es ist begreiflich, daß er sich hier in dem Brief an
einen Fürsten aus dem Mediceischen Hause auf eine Andeutung
beschränkt. Viviani eigentümlich ist die nähere Bezeichnung der
]\Iaschine, die der hohe Herr in Vorschlag gebracht; Gherardini sagt
ausdrücklich: er wisse nicht, welcher Art sie war; Viviani weiß, daß
es eine Maschine zur Ausbaggerung des Hafens von Livorno war;
darin ließe sich ein Beweis für ein Wissen aus moderner Quelle finden,
wenn nur nicht der Fälle so viele wären, in denen der „letzte Schüler"
zeigt, daß es für ihn keine unbestimmten tatsächlichen Angaben
gibt, weil er keine Schwierigkeit kennt, der unbestimmten Überlieferung
bestimmte Form zu geben.
Auch von anderweitigen Gegnern in Pisa ist Gherardini nichts
bekannt, er weiß daher nichts davon, daß durch diese Prinz Giovanni
Galilei feindlich gestimmt wurde. „Was weiter nach Galileis ungün-
stigem Urteil folgte" — schließt er^ — , ,,weiß ich nicht, doch weiß
ich, daß der Widerspruch dem Herrn Don Giovanni nicht angenehm
war; in Ausdrücken lebhaften Unwillens zeigte er, wie sehr das Urteil
ihn verdroß. Galilei fürchtete weiteres und nahm seinen Abschied."
Viviani eigentümlich ist demnach auch die Verwertung des Vorgangs
als Mittel für die Zwecke der eifersüchtigen Peripatetiker und die
auf diese Weise gewonnene Verbindung zwischen dem Auftreten
gegen Aristoteles und der Entlassung aus Pisa. Wie jene Kämpfe
und Verfolgungen, muß auch die Verbindung zwischen den vermeint-
lichen Feinden und dem Prinzen Giovanni als Kombination des
Biographen angesehen werden.
1 Ed. Naz. XIX p. 633—646.
- Ed. Naz. XIX p. 638.
— 296 —
Gherardinis Erzählung enthält an sich nichts Unwahrscheinliches,
in seinen biographischen Aufzeichnungen ist jedoch nachweislich so
^'ielfach Wahres mit Falschem vermischt, Früheres mit Späterem
verwechselt und auch in einfachen Dingen so mancherlei unzweifel-
haft IVIiß verstandenes mitgeteilt, daß man nicht leicht als wohlver-
bürgt betrachten kann, was auf seine Erinnerungen als erste Quelle
zurückzuführen ist. Wer Galilei den neuen Stern vom Jahre 1604
durch das Fernrohr beobachten läßt, der kann auch in bezug auf den
Zeitpunkt, dem ein Gutachten angehört, das eine Jahrzehnt mit
dem andern vertauschen.
Daß mit der Erzürnung des Prinzen Giovanni zu den an sich
ausreichenden wohlbekannten Umständen eine zweite (bei Viviani
eine dritte) Ursache der Veranlassung zum Verzicht auf die Pisaner
Professur hinzukommt, erhöht nicht die Wahrscheinlichkeit des Be-
richts; der stärkere dramatische Effekt, mit dem Gherardinis und
in erhöhtem Maße Vivianis Erzählung den Abschluß der Pisaner
Periode zur Darstellung bringt, läßt sie der Einbildungskraft befrie-
digender, aber in gleichem Maße mehr den sagenhaften Bestandteilen
der Jugendgeschichte zugehörig erscheinen.
Als eine mögliche Veranlassung für die Entstehung der Episode
vom Prinzen Giovanni mag hier Erwähnung finden, daß Differenzen
zwischen dem Prinzen und Galilei zwei Jahrzehnte nach Galileis
Abschied von Pisa unzweifelhaft bestanden haben. Das geht schon
daraus hervor, daß von den damals veröffentlichten Galilei. feind-
lichen Schriften zwei der bösartigsten, die Dianoia des Francesco
Sizzi und der Discorso apologetico des Lodovico delle Colombe dem
Prinzen Giovanni gewidmet sind. Beide Verfasser rühmen sich in
den Zueignungen des besondern Wohlwollens des Prinzen. Aber der
Schrift delle Colombes ist überdies zu entnehmen, daß in dem Streit
um die schwimmenden Körper im Jahre 1611 Prinz Giovanni zu
Galileis erklärten Gegnern gehört, also auf der Seite der Ignoranten
gestanden hat. Wer in der Episode der Jugendgeschichte historische
Wahrheit liest, kann — wie es geschehen ist — in diesem späteren
Verhalten des Prinzen Giovanni die Frucht eines in zwei Jahrzehnten
nicht abgeschwächten Grolls erkennen. Hält man sich jedoch an
die soeben erwähnten Tatsachen als die einzigen wohlverbürgten
Daten über Beziehungen zwischen Galilei und dem Prinzen Giovanni,
so wird man sie genügend finden, um die geringe Urteilsfähigkeit
— 297 —
des Prinzen in wissenschaftlichen und technischen Fragen zu erweisen
und dadurch zugleich begreiflich zu machen, daß mit Notwendigkeit
das Zusammentreffen beider Männer am Florentiner Hofe nach Galileis
Heimkehr zur Entstehung eines Mißverhältnisses führen mußte, auch
wenn zur Zeit der Pisaner Professur keiner der beiden vom andern
gewußt haben sollte.
Bemerkenswert ist, daß die in Sizzis und dclle Colombes Schriften
enthaltenen gesicherten Zeugnisse für die unfreundlichen Beziehungen
der späteren Periode weder von Viviani noch von irgendeinem andern
Biographen erwähnt werden; es steht also bei ihnen gewissermaßen
die problematische Differenz aus dem Jahre 1592 an der Stelle der
historischen aus den Jahren 1610/11. Daß auf dem Wege der Tradition
aus dieser jene sich gestaltet haben könne, wird sich nicht bestreiten
lassen, wenn man sieht, in wie einfacher Weise in Vivianis Biographie
die viel bedeutsamere Übertragung des großen Kampfs gegen die
Peripatetiker in die Jugendzeit vollzogen ist.
Die ]\Iitwirkung der Phantasie des Berichterstatters bei derartigen
Umgestaltungen geschichtlicher Vorgänge illustrieren in eigentüm-
licher Weise die Zutaten und Abänderungen, mit denen Vivianis
Nachfolger bis in die jüngste Zeit seine Erzählung und in ihr zumeist
die sagenhaften Bestandteile ausgestattet haben.
Anliaus: II
ö
Untersiicliimgeii über das Yatikanmaiiuskript der
beiden Iiiqiiisitiousprozesse Galileis.
A. Ergebnisse meiner Untersuchungen über das Protokoll vom
26. Februar 1616.
Bis zum Bekanntwerden der Akten des gegen Galilei geführten
Inquisitionsprozesses im Jahre 1867 hat man ganz allgemein bei
aller Sympathie für den Verteidiger der Wissenschaft sich das Urteil
seiner Eichter angeeignet, daß die über ihn verhängte Strafe formell
durch ein Vergehen seinerseits gerechtfertigt gewesen sei.^ Das Werk
über die Bewegung der Erde, das er im Jahre 1632 veröffentlichte,
war allerdings von der Zensur nach langen Verhandlungen gebüligt,
aber — so argumentiert die seit mehr als zweihundert Jahren all-
gemein bekannte und oftmals abgedruckte Sentenz — die Erfaubnis
war erschhchen und deshalb ungültig: Galilei hatte für die Form,
in der er Zeugnisse für die Wahrheit der copernicanischen Lehre trotz
des kircliMchen Verbotes zusammenstellte, die Zustimmung der römi-
schen Zensur erbeten und erlangt, aber er hatte bei dieser Gelegenheit
verschwiegen, daß im Jahre 1616, als die Schriftwidrigkeit der coper-
nicanischen Lehre ausgesprochen wurde, ihm persönlich unter An-
drohung des Inquisitionsprozesses auferlegt worden war, fortan diese
Lehre nicht aUein nicht für wahr zu halten und zu verteidigen, sondern
dieselbe auch in keiner Weise in Wort oder Schrift lehrend vorzutragen.
Als ich im Jahre 1869 die Akten in der unvollständigen, von
Henri de L'Epinois veröffenthchten Ausgabe kennen lernte, fand ich,
daß dieselben allerdings in dem auf die Verhandlungen von 1615/16
1 Vergl. Kap. VII.
- 299 —
bezüglichen Teile das vielbesprochene Verbot enthalten; bei näherer
Prüfung wurde ich jedoch auf den eigentümlichen Umstand auf-
merksam, daß eine päpstliche Verordnung vom 25. Februar 1616 ein
formelles Verbot des angedeuteten Inhalts nur für den Fall vorschrieb,
daß Galilei der Aufforderung, seine Ansicht aufzugeben, den Gehor-
sam verweigerte, während am 26. Februar der Aufforderung des Kar-
dinals unmittelbar und, ohne daß ein Widerspruch Galileis dazu
die Veranlassung gäbe, die Mitteilung des strengeren Verbots durch
den Inquisitionskommissar sich anschließt, daß also in der Verhängung
dieses später als entscheidend betrachteten Verbots etwas aus-
geführt \Wrd, was der Anordnung des Papstes nicht entspricht.
Die tiefgreifende Abweichung in dem Inhalt der Verordnung
vom 25. Februar und dem des Protokolls vom 26. über die Ausführung
habe ich mit besonderer Rücksicht auf die geschichtlichen Bedin-
gungen, unter denen die betreffenden Vorgänge stattfanden, ein-
gehend charakterisiert.^
Die hier als Tatsache hingestellte Behauptung, daß an einen
Widerspruch Galileis der Mahnung des Kardinals Bellarmin gegen-
über nicht zu denken sei, habe ich später in der ersten Abhandlung
gegen Friedlein eingehend begründet.^
Die Bedenken gegen das Protokoll vom 26. Februar, nach dem
geschehen sein soll, was der Papst nicht gewollt hat, was auch sonst
durch die Verhältnisse in keiner Weise gerechtfertigt erscheint, werden
verstärkt durch das Zeugnis der Beteiligten.
1. Des Kardinals Bellarmin, der aussagt, daß Galilei nur das
Delo-et der Indexkongregation und was sich daraus ergibt, mit-
geteilt sei.^
2. Galileis selbst.
Ich bespreche
a) seine Berichte vom März 1616^,
b) sein Verhalten nach 1616^,
c) seine Aussagen in den Verhören und seine Verteidigung 1633^
^ E. Wohlwill, Der Inquisitionsprozeß des Galilei. Berlin 1870, p. 5 — 15.
2 Zeitschrift für Math. u. Physik, Literaturztg. 17. Jg. (1872), p. 12f.
^ Wohlwill, Der Inquisitionsprozeß des Galilei, Berlin 1870, p. 16 — 22.
* a. a. O. p. 23—26.
5 a. a. O. p. 26—30, 77.
6 a. a. O. p. 31—50.
— 300 —
(Galilei selbst stellt, ohne es klar zu wissen, das Zeugnis des Kar-
dinals Bellarmin dem Protokoll vom 26. 2. gegenüber). Er redet,
wie 1616, so 1633, als habe er anderes als die Ermahnung des Kar-
dinals Bellarmin nie gehört. Nichts deutet an, daß er von einem
speziellen Verbot des Inquisitionskommissars weiß. Seine Erklämngen
enthalten implicite (nur implicite, weil ihm der "Wortlaut desselben
nicht mitgeteilt wird) einen Widerspruch gegen die Authentität des
Protokolls vom 26. Februar, oder vielmehr den zweiten Teil desselben.
Es entsteht der Verdacht, daß dieser zweite Teil unecht, das
Verbot, das ausschließlich durch den Wortlaut eben dieses zweiten
Teils uns zur Kenntnis gebracht wird, niemals ergangen ist.
Eine Untersuchung über die Form des Protokolls^, das den Befehl
verzeichnet, ergibt, daß dieselbe in keiner Weise geeignet ist, den
Inhalt gegen den erhobenen Verdacht zu schützen.
Aber in eben diesem uns vorliegendem Dokument haben allem
Anscheine nach auch Galileis Richter das entscheidende Zeugnis für
die Tatsache des Verbots von 1616 gefunden^, und eben dieses Ver-
bot ist es in der Tat, wie man seit langer Zeit weiß, das ihnen die juri-
stische Handhabe zu Galileis Verurteilung geboten hat. Sie haben
es in diesem Sinne verwertet, obwohl ihnen der Widerspruch gegen
den Inhalt des Protokolls, wie er aus seinem eigenen Wortlaut, aus
den Erklärungen Galileis und dem Zeugnis Bellarmins sich ergibt,
schwerlich entgehen konnte; sie haben ihn unberücksichtigt gelassen,
sie beseitigen insbesondere die Berufung Galileis auf das Zeugnis
BeUarmins durch eine durchaus sophistische Wendung.^ Sie haben
also Galilei auf Grund eines juristisch wertlosen, seinem Inhalt
nach verdächtigen, von ihnen, soviel die Akten ergeben, niemals
näherer Prüfung unterworfenen Aktenstücks verurteilt.
Dies der wesentliche Inhalt meiner Aufstellungen vom Jahre
1870. Ich habe damals geglaubt, sehr bald eine Geschichte des Pro-
zesses veröffentlichen zu können, und bin dämm nicht auf die nahe-
liegende Frage eingegangen: wie soll man sich denken, daß die all-
mächtige Inquisition der Fälschung bedurft hat, um zu verurteilen
und zu strafen, was unter allen Umständen ein Vergehen gegen Dekrete
1 a. a. 0. p. 69—75.
2 a. a. 0. p. 54—57.
3 a. a. O. p. 57—63.
— 301 —
der höchsten kh-chlichen Behörden war, und deshalb den Verdacht
ketzerischer Denkweise rechtfertigte? Eine Antwort auf diese Frage
gehört allerdings in den Zusammenhang einer Erörterung, die Galileis
Prozeß als auf Fälschung beruhend darstellen will. Ich hebe hier
nur das Wichtigste hervor, Galilei hat anfangs eine Abänderung
oder Aufhebung des Dekrets von 1616 bei Papst Urban VIII. betrieben.
Als diese sich nicht erreichen ließ, hat er einen Modus gesucht, alles,
was er über die Bewegung der Erde gedacht, zu veröffentlichen,
ohne in der Form gegen das Dekret zu verstoßen. Über diesen Modus
hat er und der Zensor seines Buchs oder einer von ihnen mit dem
Papste verhandelt, und der Papst hat ihn genehmigt. Die Zusätze,
die er um dieses Zweckes willen zu seinem Buche gemacht, die Vor-
rede und der Schluß, waren verabredet. Sie waren die Bedingungen,
unter denen das Imprimatur gewährt wurde. Alles dieses, speziell
der Anteil, den der Papst an den Vorverhandlungen über den Druck
nahm, wird durch Schriftstücke, die in den Akten bewahrt ^verden,
außer Frage ges teilt. ^
Als dann das Buch erschien, war es Galileis Gegnern nicht schwer,
zu zeigen, daß Vorrede, Zusätze und Schlußwort völlig durchsichtige
Verhüllungen der rein copernicanischen Absicht waren. Es kam
dazu die Verdächtigung, daß Galilei durch die Überweisung des
päpstlichen Arguments an den „im ganzen Buch wenig geachteten"
Simplicio den Papst selbst geringschätzig behandelt habe.
Die Aufgabe der Richter war, die Täuschung und das Vergehen
gegen den Papst, resp. die Verletzung des Dekrets von 1616 zu strafen,
ohne Rücksicht auf die Mitschuld des Zensors und des Papstes zu
nehmen, und dabei doch Formen eines ordentlichen Prozesses in
gewissem Maße zu wahren. Dazu hat das Verbot von 1616 geholfen,
das alle Vorverhandlungen über den Druck der Dialoge als unerlaubt
und deshalb für Galileis Rechtfertigung wertlos erscheinen ließ.
Die formelle Motivierung einer Verurteilung, durch die dem
Widerspruch: „Ihr verurteilt und straft, was Ihr selbst ausdrücklich
gestattet habt?" im voraus begegnet wurde, war unerläßlich, wo das
Urteil sofort der Öffentlichkeit übergeben wurde und überdies die
^ Der Anteil, den der Papst an den Vorverhandlungen genommen,
wird am stärksten durch die zuerst von Pieralisi (Urbano VIII e Gaüleo
Gaülei, Roma 1875, p, 82 ff.) abgedruckten Worte fol 393 Nel fine ausge-
sprochen, in denen Aufnahme des päpstUchen Arguments befohlen wird.
— 302 —
spezielle Kücksicht auf den gefügigen Florentiner Hof einen formell
nicht angreifbaren Prozeß, durch die Sentenz verbürgt, erforderlich
machte. Wenn man sagt: sie hätten's auch anders machen können,
so habe ich nichts dagegen. Ich behaupte nur, so haben sie es gemacht.
Dies war der Weg, den sie tatsächlich eingeschlagen haben, um eine
Verurteilung in scheinbar rechthcher Form zustande zu bringen. Und
dieser Schein des Eechts hat alle Welt getäuscht, bis die Veröffent-
lichung der Akten eine Prüfung des entscheidenden Dokuments
ermöglichte.
Meine Ansicht über den Wert dieses Dokuments fand unmittel-
bar nach dem Erscheinen meines Buchs eine überraschende Bestäti-
gung durch die Veröffentlichung Gherardis^, der im Jahre 1848 im
Palast der Inquisition die Protokolle der Generalkongregation des
heiligen Offiziums mit Rücksicht auf Galileis Prozeß geprüft hatte.
Unter diesen war der Bericht des Kardinals Bellarmin über den Vor-
gang vom 26. Februar 1616, der durchaus mit meinen Schlüssen
übereinstimmte. Der Kardinal berichtet, daß er Galilei ermahnt,
seine Meinung aufzugeben, und daß Galilei sich dabei beruhigt habe.
Das ist der Vorgang, wie er sich erwarten ließ und wie er in Überein-
stimmung mit der Anordnung des Papstes vom 25. Februar statt-
gefunden haben muß, wenn nicht — was niemand behauptet — , und
Bellarmin verneint, Galüei der Mahnung gegenüber auf seiner Ansicht
bestanden hat.
Gherardi hat aus diesem Aktenstück, das er gleichfalls dem
„Protokoll" vom 26. Februar gegenüberstellte, unter Berücksichti-
gung des von Galilei produzierten Zeugnisses des Kardinals Bellarmin
und der Verhöre von 1633 den bestimmten Schluß gezogen, daß
das Protokoll vom 26. Februar als Fälschung zu betrachten sei.
p. 42 : io m'ardisco prof erire : d'avere gia accumulati argomenti da
vendere per provare, aUa gente di buona fede: „che la relazione tratta
dal processo deve tenersi per alterata, contrafatta, falsata, fino dal
tempo, principalmente, del pleno e vero processo di Galileo,
cioe nel 1632—33.
1 Darüber speziell M. Cantor, Zeitschrift für Math. u. Physik 1871,
Literaturzeitung S. 1 — 9, vergl. meine Ausführungen in der ersten Abhand-
lung gegen Friedlein, Zeitschrift für Math. u. Physik 1872, Literaturzeitung
S. 12 f., wo ich die Authentizität der Gh.s Dekrete prüfe.
— 303 —
Gherardi hatte nichts von mir, ich nichts von ihm gewußt. Meine
Schrift erschien im Juni 1870^, die seine im Juni und Juli desselben
Jahres. Beide hatten wir im Laufe des vorhergehenden Jahres —
Gherardi am 20. Mai in Bologna, ich in Hamburg — über die Resul-
tate unserer Untersuchungen kleineren Kreisen Bericht erstattet. Für
mich ist nach der Bestätigung durch das Gherardische Dekret Kr. 6
ein Zweifel an der Wahrheit meiner Annahme, daß das Protokoll
vom 26. Februar gefälscht sei, nicht mehr möglich gewesen.
Ich übergehe die Diskussionen der folgenden Jahre, an denen
ich nur durch die beiden Erwiderungen auf Friedleins Kiitik teil-
genommen habe.^
1876 erschreckte mich das Erscheinen des Geblerschen Buchs",
das mir in allem zustimmte, mich dabei bis auf den letzten Bluts-
tropfen ausschrieb, und mir in der Schilderung des Prozesses auf
Grund meiner Annahme zuvorkam, während ich doch in seiner Dar-
stellung wichtiger Teile meiner Auffassungsw^ise durchaus Wider-
sprechendes finden mußte. Durch die völlige Nichtberücksichtigung
von Galileis Werken, speziell Unkenntnis der Dialoge, Beschrän-
kung auf die Daten des Briefwechsels, der seinen eigentlichen Wert
nur als Ergänzung der Werke gewinnen kann, erscheint Geblers
schön lesbares Buch in vielen Beziehungen als Geschichtsdarstellung
unhaltbar. Seine Ansicht in der Torturfrage wurde leider für mich
die Veranlassung, längere Zeit an die Bearbeitung dieses abscheu-
lichsten aller Zeitdiebe zu wenden.
Unmittelbar vor der Veröffentlichung meines Buchs über die
unglückliche Torturfrage erschien der Bericht Geblers über seine
Vergleichung des Vatikanmanuskripts mit dem wichtigen Ergebnis,
„daß sich der Verdacht einer nachträglichen Entstehung der ,, Auf-
zeichnung" vom 26. Februar gegenüber der äußeren Beschaffenheit
dieser Annotation als nicht stichhaltig erwiesen habe".*
Gebier hatte bei dem vollständigen Abdruck der Akten, die er
^ Das Vorwort des ,,Inq.-prozesses" ist vom Febr. 1870 datiert.
2 Zeitschrift für Math. u. Physik 1872, 17. Jhg., Literaturzeitung p. 9ff.,
p. 81 ff.
2 K. von Gebier, GaUleo Galilei und die römische Curie. Stuttgart 1876.
* Gebier schreibt 15. XI. 1877: „eine Fälschung ist materiell un-
möglich" (sie).
— 304 —
veröffentlichte, die unmittelbar vorher erschienene neue Ausgabe des
selben Aktenhefts von Henri de L'Epinois^ benutzen können. Diese,
die im übrigen der Geblerschen erheblich nachsteht, bot eine sehr
wertvolle Ergänzung derselben in einer Reihe von Faksimiles, unter
denen dasjenige der Aufzeichnungen vom 25. und 26. Februar 1616
von höchstem Interesse war.
Ich habe tatsächlich in diesem Faksimile, das mir in photo-
lithographischem Abdi'uck vorlag, längere Zeit von dem Gesuchten
nichts erkennen können. Als ich aber anfing, meine Aufmerksamkeit
speziell auf die Stelle zu richten, wo der Wortlaut der Aufzeichnung
vom 26. Februar mit der Wendung: ,,et successive ac incontinenti"
den vöUig unerwarteten Inhalt einleitet, wurde ich mehr und mehr
gewahr, daß die eben hier beginnenden drei letzten Zeilen des Blattes
höchst eigentümlich abweichende Formen der Buchstaben in größerer
Zahl, daneben mancherlei unverständliche Unreinheit an verschie-
denen Stellen enthalten. So entstand die Vorstellung: diese drei
letzten Zeilen stehen über und in den Trümmern einer älteren Schiif t ;
der folgende größere Teil der Aufzeichnung auf dem darauffolgenden
Blatte ist auf 1616 weiß gelassenem Papier nachträghch hinzu-
gefügt.
Eine umständliche Ausführung dieser Ansicht habe ich in auto-
graphierter Mitteilung Freunden und Gegnern zugesandt. Wenn es
bedenklich schien, solche Erörterungen auf die Photolithographie
eines in unbekannter Weise gewonnenen Faksimile zu begründen,
so rechtfertigte doch der Umstand, daß Abweichungen, Verkrüppe-
lungen und unmotivierte Unreinheiten der Schrift, wie sie in den
drei Zeilen des Faksimiles sich häuften, in andern Teilen desselben
gar nicht oder durchaus vereinzelt gefunden wurden, die Annahme,
daß dieser Sonderstellung der drei Zeilen des Faksimile eine ähn-
liche Sonderstellung des gleichen Textes im Originahnanuskript
entsprechen würde, daß insbesondere die wesentlichen Differenzen
in den Buchstaben, die mir das Faksimile zeigte, von irgend etwas
herrühren müssen, was auch im Original sich findet.
Meine Ausführungen in Verbindung mit Äußerungen meiner Privat-
briefe wurden von v. Gebier in der Augsburger Allgemeinen Zeitung
^ Henri de l'Epinois, Les pieces du proces de Galilee (Roms et Paris,
Palme) 1877.
— 305 —
ungenau A^iedei^egeben und gröblich verhöhnt.' Eine rein sachlich
gehaltene Entgegnung schickte mir die Redaktion der Augsburger
Zeitung als zur Aufnahme ungeeignet zurück. Ich habe nicht ver-
sucht, sie anderweitig an die Öffentlichkeit zu bringen.
Weit besser als ,, Freund" Gebier behandelte mich der ent-
schiedene Gegner Henri de L'Epinois.^ Er bot mir zu weiterer Prüfung
meiner Vermutung eine Originalphotographie der Aufzeichnungen vom
25. und 26. Februar an und lud mich ein, bei seiner Anwesenheit
in Paris im Herbst 1878 die in seinen Händen befindlichen Original-
Kliches in Augenschein zu nehmen.
Die Photographie, die ich Herrn de L'Epinois verdanke, zeigte
mir, daß meine Annahme über das Verhältnis des photolithographier-
ten Faksimile zum Original berechtigt war, obgleich mehrere der
im ersteren wahrgenommenen Sonderbarkeiten und Unreinheiten in
der Photographie sich nicht wiederfanden; die wichtigsten Abwei-
chungen stimmten in beiden Reproduktionen annähernd überein,
dazu kamen aber in der Photographie in überraschender Deutlichkeit
namentlich unter dem Worte ,,constituto" Überreste anderer Buch-
staben, die im Faksimile nicht vorhanden waren (und auch in der
Photographie erst sichtbar wurden, nachdem ich eine zweifellos ab-
sichtlich darüber gepinselte oder gewischte gelbliche Bedeckung
beseitigt hatte).
Ich bin dann zur Zeit der Pariser Ausstellung 1878 der Einladung
des Herrn de L'Epinois gefolgt, habe bei ihm die Klischees gesehen
und in denselben alles wiedergefunden, was mir in der Photographie
meine Ansicht zu bestätigen schien. Ich habe auch Herrn de L'Epinois
alle diese Einzelheiten gezeigt. Er hat mir zum mindesten nicht
widersprochen und hat ebenso ohne Widerspruch mein Bedenken
dagegen angehört, daß der größere Teil der Aufzeichnung vom
26. Februar auf einem Blatte steht, das höchstwahrscheinlich im
Jahre 1616 mit dem vorhergehenden nicht verbunden gewesen ist.
Herr de L'Epinois hat mir dann angeboten, mich zu dem größten
französischen Paläographen Delisle zu führen, damit ich diesem meine
Hypothese vortrage.
^ Augsburger Allgemeine Zeitung 25. — 27. Feb. 1878; ferner „Gegen-
wart" 1878, Nr. 18, 19, 24, 25.
- Revue des questions historiques 1878, p. 242 — 248.
Wohlwill, Galilei. H. 20
— 306 —
Im guten Glauben an meine Sache bin ich darauf eingegangen.
Ich habe aber bei dieser Gelegenheit erfahren, daß eine kurze Mit-
teilung derart, wie sie in kurzer Zeit gegeben werden kann, da, wo
jede Vorbereitung durch speziellere Kenntnis der Streitfrage fehlt,
und mehr noch, wo, me es hier der Fall war, dem Vortragenden und
seiner Sache nur mit geringem Vertrauen begegnet wird — nicht
einmal zu verständiger Erörterung, geschweige zur Verständigung
führen kann. Ich mußte mich darauf beschränken, Herrn Delisle
zu sagen, aus inneren Gründen richtet sich ein Verdacht gegen die
Echtheit der hier stehenden Zeilen; ich finde, daß die Beschaffen-
heit der Schrift in eben diesen Zeilen den Verdacht bestätigt, und
ihm dann die von mir bemerkten Einzelheiten zu zeigen. Herr Delisle
fand dieselben vöUig unerheblich und wiederholte einmal über das
andere: „je ne vois rien du tout." Seine Prüfung und Abweisung war
so rasch, so wenig dem entsprechend, was ich von der Vergleichung
eines Gelehrten ersten Kanges erw^artet hatte, daß ich, als Herr de
L'Epinois vorschlug, nach dem Protokoll vom 26. Februar auch das
Dekret vom 16. Juni 1633 vorzunehmen, sofort antwortete: „0 non
merci!"
Wie ernst Herr de L'Epinois selbst diese Verhandlung genommen
hat, ergibt sich einigermaßen daraus, daß, als er bald darauf meine
Abhandlung über das eben berührte Dekret vom 16. Juni 1633 Ivriti-
sierte, er das absprechende Urteil Delisles ohne weiteres so anführt,
als ob es meinen Vermutungen über dieses Dekret gegolten
hätte. ^
Die Verhandlung mit Herrn Delisle hat mich in keiner Weise
gefördert, in keiner Weise irreführen können. Weitere Aufklärung
in der gleichen Richtung, wie ich sie schon dem gedruckten Faksimile,
dann den Photographien entnommen, kam mir dagegen
1. aus einer Mitteilung in der Magia Naturalis von I. Baptista
Porta. Da Gebier sehr bestinmit erklärte, daß von Radierungen
keine Spur im Original zu erkennen sei, die Reste einer früheren
Schrift mir aber nicht minder bestimmt in den Reproduktionen ent-
gegentraten, so mußte die Beseitigung des verschwundenen alten
Textes in anderer Weise stattgefunden haben. Darüber gab Porta
Aufschluß. Er klärt darüber auf, daß man zu seiner Zeit imstande
1 Revue des questions historiques 1879, p. 223 — 232.
— 307 —
gewesen ist, auf chemischem Wege Schriftzeichen zu beseitigen und
das Papier alsdann so zu bearbeiten, daß eine neue Schrift an die
Stelle der alten gesetzt werden kann.^ Nun bedurfte ich der Radie-
rungen nicht.
2. Aus von Geblers Mitteilungen über die Verbindung der Blätter
des Vatikanmanuskriptes. Es ging daraus hervor, daß der letzte
entscheidende Teil des Protokolls vom 26. Februar 1616 auf einem
Blatte steht, das für diesen Zweck höchstwahrscheinlich zu dieser
Zeit nicht zur Verfügung gestanden hat und unter allen Umständen
in der Art dieser Benutzung ein neues Verdachtsmoment bietet.
Meine früheren Wahrnehmungen in Verbindung mit der histo-
rischen Belehrung durch Porta und dem Aufschluß v. Geblers über die
Zusammenfügung der einzelnen Dokumente zum Aktenheft gewährten
mir die Möglichkeit, eine in sich konsequente und klare Ansicht über
den Modus der Fälschung auszubilden. Meine Photographie enthielt
genug, um in mir die Richtigkeit dieser Ansicht zur Gewißheit zu
erheben. Aber es bedurfte der Vergleichung des Originals, um jeden
Zweifel über den Wert der Photographie für die Beurteilung zu be-
seitigen und außerdem durch den Augenschein die Anordnung der
Teile der Aufzeichnung vom 25. und 26. Februar im Aktenheft noch
genauer kennen zu lernen, als die Angaben der Berichterstatter ge-
statteten. Dazu habe ich im Oktober und November 1891 bei einem
Besuch im geheimen Archiv des Vatikans Gelegenheit gehabt. Ich
fasse nun zusammen, was sich mir im Zusammenhang mit den früheren
Wahrnehmungen und Betrachtungen bei der Prüfung des Original-
manuskripts der Aufzeichnungen vom 25. und 26. Febniar 1616
ergeben hat.
Schon im ersten unvollständigen Abdruck der Akten, den de
L'Epinois herausgegeben hat, fand sich die Angabe, daß die Aufzeich-
nungen vom 25. und 26. Februar 1616 auf zwei Seiten aufeinander-
folgender Blätter eingetragen sind. Auf meine Anfrage teilte mir
schon damals Herr de L'Epinois mit, daß — mit den Worten: „Totius
^ Porta, Magia Naturalis, Francof . 1597; lib. XVI. De ziferis cap. XI.
p. 567: aperi epistulam supra speculum vitreum cui desit bracteola, supra
epistolam pone albam chartam, sub vitro lumen — — — , atramentum
tempera ad similitudinem scripti, et supra apparentes characterum ductus
lineas ducito.
20*
— 308 —
congi'egationis" beginnend — der größere Teil der Aufnahme vom
26. Februar auf der Vorderseite des zweiten Blattes (988) stehe, das
vorhergehende auf der Rückseite von Blatt 987.
Aus von Geblers Mitteilungen über die Verbindung der Blätter
des Aktenheftes war alsdann der weitere Aufschluß zu entnehmen,
daß die beiden aufeinanderfolgenden Blätter nicht ursprünglich mit
einander verbunden gewesen sind. Das zweite, mit 988 (379) bezeich-
nete Blatt gehört nämlich zu einem aus sechs Bogen bestehenden
Heft, auf dessen ersten Blättern das Verhör des Denunzianten Caccini
eingetragen ist; speziell ist 988 das achte Blatt, das heißt das zweite
des fünften Bogens, dessen erste Hälfte (Blatt 966) das vorletzte der
für jenes Verhör benutzten Blätter ist. Zvrischen den nach dem Ab-
schluß des Verhörs übrigbleibenden Blättern sind andere zum Prozeß
gehörige Aktenstücke eingeheftet und zwar zwischen dem sechsten
und siebenten Blatt vier Briefe, zwischen dem siebenten und achten
zwei Briefe, zwei vom Florentiner Inquisitor übersandte Kopien
von Zeugenverhören, alsdann die der Begutachtung der Konsul-
toren unterworfenen Thesen über die copernicanische Lehre und
endlich ein Bogen, auf dessen erster Seite die gutachthche Entschei-
dung und die Unterschrift der theologischen Konsultoren der Inqui-
sition zu lesen sind. Auf der vierten Seite eben dieses eingehefteten
Bogens findet sich die Aufzeichnung vom 25. Februar 1616 und der
Anfang derjenigen vom 26., deren Fortsetzung und Schluß dann
auf einem Blatte des verbindenden Heftes folgen.
Die Art der Registrierung über die Vorgänge vom 25. und
26. Februar, die sich auf diese Weise ergibt, ist eine sehr auffällige.
Aus der Bezifferung der Seiten des Aktenhefts — dieselbe umfaßt
die Zahlen 950—992 — ersieht man ohne weiteres, daß die Akten
des ersten Galileischen Prozesses ursprünglich den Bestandteil einer
größeren Sammlung gebildet haben; für diesen Zweck, wie überhaupt,
um einer zuverlässigen Aufbewahrung willen, mußten die unzusammen-
hängenden Dokumente durch Heftung zum Ganzen verbunden werden.
Wann wird das geschehen sein? Antwortet man ohne Rücksicht auf
den vorliegenden FaU, so vdrd man als wahrscheinlich bezeichnen
müssen, daß es frühestens nach dem Abschluß des Prozesses geschah;
man heftet in wohlüberlegter Ordnung eine abgeschlossene Sammlung
von Papieren, aber man befestigt nicht Brief nach Brief oder Urkunde
nach Urkunde, \Nie sie einlaufen und vollzogen werden, z^^'ischen
— 309 —
den Blättern eines fertigen Heftes. Nimmt man an, daß demgemäß
auch mit den Akten von 1615/16 verfahren, daß also nicht das am
24. Februar jedenfalls noch freie Blatt, am 25. oder 26. durch Ein-
nähen an seinem jetzigen Platze befestigt worden ist, so war am
26. Februar die Einlage, auf deren letzter Seite das Protokoll von
diesem Tage beginnt, mit dem Blatte, auf dem es fortgesetzt und
zu Ende geführt wird, in keiner Weise verbunden. Es wäre also die
Fortsetzung auf einem Blatte des vorhandenen Aktenheftes nur ein-
getragen in der bestimmten Erwartung, daß vor demselben die Ein-
lage durch Einnähen später befestigt werden würde. Ein solches
Eintragen im Hinblick auf die später zu bewerkstelligende feste
Verbindung der Blätter entspricht sicherlich anderweitig üblichen
Verfahrungsweisen nicht wesentlich besser als das regelmäßige Ein-
nähen jedes frisch einlaufenden Dokuments an geeignet erscheinen-
der Stelle der Aktensammlung. Denkbar bleibt immerhin, daß in
der einen oder der andern ungewöhnhchen Weise das eigentümlich
geteilte Ganze, das uns vorKegt, ordnungsmäßig, also im Jahre 1616,
zustande gekommen wäre. Daß aber diese befremdende, erdenklichem
Zweck nicht entsprechende Weise der Teilung und Verbindung auch
in den beiden Aktensammlungen des Vatikanmanuskripts ausschheß-
lich an einer Stelle vorkommt, die um ihres Inhalts willen der Fäl-
schung dringend verdächtig ist, daß es gerade der an sich unglaub-
liche Befehl im Munde des Inquisitionskommissars ist, den wir in so
völlig außergewöhnlicher Weise registriert finden, muß demjenigen,
dem die Unglaub Würdigkeit der Aufzeichnung außer Frage steht,
sofort als weitere Bestätigung des Verdachts erscheinen: Wir sehen
den größeren Teil des unglaubhaften Inhalts auf einem Blatte ein-
getragen, das bei gewöhnlicher Registrierungsweise im Jahre 1616
für diesen Zweck gar nicht zur Verfügung stand.
Was in dieser Beziehung v. Geblers Notizen über die Verbindung
der Blätter des Vatikanmanuslvripts zu entnehmen war, läßt sich bei
dem Zustande der Handschrift, wie ich ihn im Oktober 1891 vor-
gefunden habe, durch den Augenschein nicht mehr bestätigen. Aus
dem Aktenheft in papierenem Umschlag, wie es von Gebier beschreibt,
ist ein kräftiger Pappband geworden, das Werk des Buchbinders
hat den Untersuchungen über die Verbindungsweise der Aktenstücke
ein Ziel gesetzt. Von den breiten Überresten weggeschnittener Blätter,
deren Gebier gedenkt, ist ein Teil beim Binden völlig verschwunden.
— 310 —
Mit Sicherheit in irgendeinem Falle zu erkennen, welche getrennten
Blätter Teile desselben Bogens sind, welche Blätter zwischen denen der
größeren für die Verhöre benutzten Hefte eingeschaltet sind, ist mir
nicht möglich gewesen, und ich glaube nicht, daß es anderen ohne
Zerstörung des Einbands möglich sein wird. Es wüi-den daher bei
der Erörterung von derartigen Fragen auch fernerhin die Angaben
von Geblers über die Verbindung der Blätter zugrunde zu legen sein.
Diese Angaben sind in allen Einzelheiten von Berti bestätigt. Daß
sie in völlig zuverlässiger Weise wiedergeben, was der Zustand
der Handschrift im Frühjahr 1877 zu erkennen gestattete, darf als
verbürgt betrachtet werden. Was insbesondere die hier in Betracht
kommenden Blätter 987 und 988 (der ältesten Numerierung) betrifft,
so hat ihre Verbindung mit andern Blättern des Aktenheftes für von
Gebier den Gegenstand besonders aufmerksamer Nachforschungen
gebildet. Er führt das (oben benutzte) Ergebnis als entscheidenden
Beweis dafüi' an, daß die Blätter 987 und 988 schon 1616 vorhanden
gewesen, also keinesfalls später eingefügt sind, und bedient sich dieser
Wahrnehmung in seiner Beweisführung gegen die Annahme der
Fälschung; man wird also seiner Angabe den Wert eines unverdäch-
tigen Zeugnisses nicht absprechen.
Auffälliger noch als durch diese Angaben erscheint die Verteilung
der Aufzeichnung vom 26. Februar 1616 auf zwei aufeinanderfolgen-
den Blättern, wenn man sie im Aktenheft selbst vor Augen hat. Man
erkennt auf den ersten Blick, daß die erste Seite völlig ausreichenden
Kaum für das ganze Protokoll geboten hätte, wenn nicht der Notar,
statt die ganze unbeschriebene Seite zu benutzen, seine Aufzeichnung
nur wenig oberhalb der Mitte begonnen hätte. Sagen wh- es ohne
Umschweife: der Anfang der Aufzeichnung an eben dieser Stelle
entspricht der Vorausberechnung des Baumes, wie er bei üblicher
Schreibweise für die päpstliche Anordnung vom 25. Februar und für
einen Berieht über den Vorgang vom 26. genügt hätte, sofern derselbe
nicht anders verlief, als er nach der JVIitteilung des Kardinals Bellarmin
tatsächlich verlaufen ist; und der Notar, der auf der unbeschriebenen
Seite die obere Hälfte unbenutzt ließ, hat offenbar, als er zu schreiben
begann, ein weiteres nicht gekannt und nicht erwartet. Daß er auf
eine Mitbenutzung des folgenden Blattes, auch wenn es ihm zur Ver-
fügung gestanden hätte, nicht rechnet, veranschaulicht überdies die
zunehmende Zusammendrängung, die ungleich engere Folge der
— 311 —
Zeilen und der Buchstaben auf der ersten Seite im Vergleich mit der
bequemen Ausbreitung der Fortsetzung auf dem oberen Teil der
zweiten. Auf den gleichen Raum von drei Zentimeter kommen auf
Seite 987'' fünf Zeilen, auf 988^ nur vier; die Länge der Zeilen in dem
auf 987^ registrierten Teil der Aufzeichnung vom 26. Februar beträgt
16,2—19 Zentimeter (von den beiden oberen abgesehen, 16,2—16,6),
in der Fortsetzung auf 988'' 15—15,5 von der obersten abgesehen
15 cm), die Zahl der Buchstaben pro Zeile auf der ersten Seite 50—60,
auf der zweiten 39—49.
Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß überdies der Abschluß der
Aufzeichnung auf der letzten Seite eines Bogens, zu dessen Inhalt
dieselbe in näherer Beziehung steht, nicht nur mit dem, was wir aus
allgemeineren Gründen rationell nennen, sondern auch mit der Regi-
strierungsweise, wie sie in den beiden Aktenheften des Galileischen
Prozesses als die übliche oder doch ausnahmslos geübte erscheint,
im besten Einklang stehen würde.
Auch die räumliche Verteilung auf den beiden Seiten entspricht
demnach dem Verdacht, daß ein älterer Wortlaut teilweise durch
einen inhaltlich abweichenden ersetzt und dann auf dem zweiten
früher unbeschriebenen Blatte in erforderlicher Weise ergänzt
worden ist.
Die Frage, ob dieser Verdacht zunächst der Handschrift des
zweiten Blattes gegenüber haltbar erscheine, muß m. E. unbedingt
bejaht werden. Hat eine Fälschung stattgefunden, so darf man an-
nehmen, daß dabei, um die Täuschung zu ermöglichen, die Ver-
meidung irgendwie auffälliger Abweichungen von den Schriftzügen
des verbundenen ersten Blattes erstrebt worden, daß man also nach
besten Kräften eben diese Vorlage nachgeahmt hat. Die gestellte
Frage kann also nur den Sinn haben: Geht die offenbar vorhandene
Ähnlichkeit der Schrift auf beiden Seiten über das hinaus, was durch
geschickte Nachahmung zu erreichen ist?
Schriftkundige mögen entscheiden. Ich glaube, daß es unmög-
lich ist, mehr als eine allgemeine durch Nachahmung zu erzielende
Übereinstimmung zu behaupten. Diese war wesentlich dadurch
erleichtert, daß eine nicht geringe Zahl von Worten auf beiden Seiten
vorkommt, bei der Nachbildung also ohne jede Übertragung der Buch-
staben zu kopieren war. Die Zahl solcher Worte war höchstwahr-
scheinhch noch größer zu jener Zeit, als der ursprüngliche Text der
— 312 —
ersten Seite noch unverändert vorlag, ganz abgesehen davon, daß
in andern Teilen der Aktensammlung ein größerer Vorrat von
Worten in den Schriftzügen der Protokollisten von 1616 zur
Verfügung stand. ^ j\Iit der mehr oder minder großen Übereinstim-
mung bei diesen beiderseits vorkommenden Wörtern hängt der all-
gemeine Eindruck der iÜmlichkeit der Schrift zusammen. Sie ist
ähnlich, aber sie erscheint doch nicht als dieselbe. Von dem scharf
ausgeprägten Charakter der Schrift auf Folio 987 weichen beispiels-
weise das Congreg.^^* der ersten, die Stelle als con ipsü procedetur
in der vierten, das pntibus ibide der sechsten, das Cypri et Augusti
der siebenten Zeile von Fol. 988 nicht unerheblich ab.
Dazu kommen generelle Verschiedenheiten. Ich hebe hervor
(zum Teil nach der Autographie von 1877):
1. Die durchschnittliche Verschiedenheit in der jN'eigung der
Buchstaben gegen die Linie der Schrift. Folio 987 (378) gewährt
den Gesamteindruck einer mehr schrägen, Folio 988 (379) den einer
mehr steilen Schrift. Die genauere Vergleichung ergibt, daß bei aller
Mannigfaltigkeit der Neigungen der einzelnen Striche auf beiden
Blättern die Melirzahl der starken graden Striche auf dem zweiten
von der Senkrechten ungleich weniger abweichen als die entsprechen-
den auf dem ersten Blatte. Es würde nicht schwer sein — wenn man
die Zeit daran wenden wollte — für dieses Verhältnis der Schrift auf
beiden Seiten einen nach Maß und Zahl bestimmten Ausdruck zu
gewinnen. Der Unterschied tritt sehr bestimmt hervor, wenn man die
korrespondierenden Striche solcher Buchstaben verlängert, die sich
auf beiden Seiten und an verschiedenen Stellen der ersten wieder-
holen. Man vergleiche (s. ilbb. 1) in solcher Weise den Hauptstrich
des P in dem viermal vorkommenden oponem oder opinionem, alle
Buchstaben des gleichfalls viermal vorkommenden supradictus und
insbesondere den starken Strich im G des viermal auf der ersten,
einmal auf der zweiten Seite vorkommenden Galileus. Auch ohne
Messung erkennt man, daß sich kein G der ersten Seite dem wesent-
lich abweichenden der zweiten soweit nähert wie das — ohnehin
verdächtige — auf Zeile 2 von unten.
1 Ich bin der Meinung, daß das Verhör des Pater Caccini von der Hand
desselben Notars herrührt ^vie die Aufzeichnung vom 25. Febr. und der Anfang
des Protokolls vom 26.
Wühhvill, Galilei. II.
\ aus
Fol. 987
J
♦^yi^^K-vfu-«i'nÄ
aus
Fol. 988
\ aus
Fol. 987
c^^^^^ aus Fol. 987
vorletzte
Zeile
^^Ji^^^^. aus Fol 988
Abbildung 1
C7^ , r/^T ■ aus
\^yyruro^JiJf
aus
Fol 988
"^ aus Fol. 987
^ aus Fol 988
<^
Abbi/dung 2.
Die Schriftproben stellen Photographien dar, die den Facsimiles de l'Epinois'
fs. S. S04) entnommen sind.
Verlag von Leopold "Voss, Leipzig.
— 313 ~
Die Bedeutung der hervorgehobenen Verschiedenheiten ist ein-
leuchtend. Die durchschnittliche Neigung der Schrift entspricht bei
einer festen Hand ohne Zweifel einer gewissen Gewohnheit des Schrei-
benden, von der Abweichungen nur in beschränktem Maße und vor-
zugsweise bei getrennten Schriftstücken vorkommen. Der Fall, daß
in dem ersten und zweiten Teil derselben amtlichen Aufzeichnung
oder gar desselben Satzes auf zwei unmittelbar einander folgenden
Seiten bei sauberer Schrift Verschiedenheiten wie die hier vorliegen-
den zu erkennen wären, wd kaum jemals vorkommen.
Ist kein Irrtum, was ich bei oft wiederholter Vergleichung ge-
funden zu haben glaube, daß die Schrift des ProtokoUisten im Ver-
hör des Pater Caccini mit der des größeren Teils der Aufzeichnungen
auf Folio 987 identisch ist, so bestätigt die durchgehends hervor-
tretende gleichartige und mit Folio 987 übereinstimmende schräge
Schrift dieses ProtokoUisten die Annahme, daß die Abweichung auf
988 keine zufällige ist.
Gebier und andere haben behauptet, die Abweichung in der
Neigung der Schrift könne durch eine Änderung in der Lage des
Papiers hervorgerufen sein. Ich glaube, daß jeder, der in dieser Be-
ziehung eine feste Gewohnheit sich angeeignet hat, durch den Ver-
such sich überzeugen wird, daß ein solcher Einfluß der Lage des Buchs
entweder gar nicht oder nur in äußerst geringem Maße besteht, daß
insbesondere nie bei jemand, dessen Schrift gewohnheitsgemäß schräge
ist, durch solche äußere Veranlassung Schriftstücke Zustandekommen
werden, die deutlich den Charakter der steilen Handschrift zeigen.
Ich bewahre als Ergebnis eines Experiments in dieser Beziehung
ein Schriftstück, das Professor Cantor in Heidelberg auf meinen Wunsch
bei sehr verschiedenen Lagen des Papiers aufgesetzt hat. Professor
Cantor war damals in der Hauptsache nicht meiner Meinung, aber
der Winkel seiner Schrift ist in vier verschiedenen Lagen des Papiers
genau der gleiche geblieben.
Ich betone, daß ich nur von durchschnittlicher Neigung oder
von derjenigen rede, die bei so vielen Buchstaben vorkommt, daß
durch dieselbe der Charakter der Schrift sich bestimmt; man braucht
nicht lange zu suchen, um neben dieser Mehrzahl auch auf Folio 987
steilere, auf Folio 988 schrägere Striche zu finden; in sehr eigentüm-
licher Weise stimmen auch in bezug auf die Neigung der Striche
einige beiderseits vorkommende Worte überein, so die Worte sol sit.
— 314 —
mundi, et imobilis, et terra moveatur, S, Offieii, testibus, und doch
ist auch hier Verschiedenheit, die mit Nachahmung zusammen-
hängen kann, ersichtlich.
2. Der einfachen Schreibweise des Notars auf dem ersten Blatte
entspricht es, daß auch die langausgezogenen Buchstaben oder die
am Schlüsse der Worte befindlichen über das allgemeine Gleichmaß
imr ausnahmsweise hinausgehen, und daß in Übereinstimmung damit
auch die sehr häufig vorkommenden Abkürzungskurven ihrer Mehr-
zahl nach vom Anfang bis zum Ende in beinah gleicher Stärke
verlaufen; nur in einzelnen Fällen erkennt man in der etwas zu-
nehmenden Breite am Schlüsse des Bogens den Druck, den der Schrei-
bende ausgeübt. Dagegen finden sich auf Folio 988 in den lang-
gezogenen Buchstaben und Abkürzungszügen fast ausnahmslos der
zweite Teil der Kurve erheblich — bis zum vierfachen des ersten —
verstäi'kt, und nur vereinzelt treten die gleichmäßig gezogenen Ab-
breviaturen auf; dieselben sind überdies in der Regel erheblich größer
als bei gleichen oder ähnlichen Buchstaben auf FoHo 987 und treten
in dieser zwiefachen Abweichung viel anspruchsvoller aus dem Rahmen
der übrigen Schrift hervor.^
Ich bin der Meinung — und andere haben mir das Gleiche aus-
gesprochen, ehe ich mich ihnen gegenüber geäußert hatte — , daß
die hier hervorgehobene Abweichung in der Schreibweise auf Folio
988 vorzugsweise der Annahme entspricht, daß hier die gleichartigen
Schriftzüge der ersten Seite nachgeahmt sind.
Es fragt sich nun, ob die sichtlich vorhandene Ähnlichkeit über
das' Maß dessen hinausgeht, was durch geschickte Nachahmung
zu erreichen ist, oder ob die Älmlichkeit so groß ist, daß sie Identität
der Handschrift erweist und dadurch gegenüber dem gewichtigen
Argument, das in der Verbindung beider Blätter und der Außergewöhn-
hchkeit der Registrierungsweise liegt, in Betracht kommt, wobei vom
unwahrscheinlichen Inhalt abgesehen werden darf. Sobald anerkannt
ist, daß die Ähnlichkeit durch Nachahmung zu erreichen war, also
von Seiten der Handschrift hier ein ausschlaggebender Widerspruch
nicht vorhanden ist, treten die übrigen Argumente mit verdoppelter
Kraft in die Schranken, und entscheidend als Beweis der Fälschung
^ S. die beiden immobiles, dazu das i für in auf Abb. 2. Die entsprechen-
den Kvirven sind durchweg auf fol. 988 größer; vgl. auch das Zeichen für quod.
— 315 —
erscheint dann die Beschaffenheit der drei letzten Zeilen der
ersten Seite.
Die drei letzten Zeilen von Folio QST".
Ich nehme an, daß hier der ursprüngliche — mit Gherardis
Dekret übereinstimmende — Text beseitigt und durch den jetzt
vorhandenen ersetzt ist. Die Beseitigung durch Radierung ist, wie
mich der Augenschein belehrt hat, so gut wie ausgeschlossen; das
Papier ist sehr dünn, daß nirgends durchscheinende Steilen sind,
hat schon von Gebier gesagt. Aber man bedurfte der Radierung
nicht. Johann Baptista Porta lehrt in der zweiten Ausgabe seiner
Magia Naturalis Lib. XVI. de ziferis cap. X pag. 565 e papyro literas
abstergere und dann aliquid in absterso loco scribere.
Sein Verfahren, wörtlich eingehalten, wird schwerlich ohne
besondere Kunstgriffe zum Ziel führen. Aber das Prinzip ist aus-
reichend. Es wird durch Säure mit einem Pinsel die Tinte beseitigt,
dann das Papier an der betreffenden Stelle neu geleimt. Daß Porta,
um Mißbrauch zu verhüten, unvollständig beschreibt i, scheint aus
der Vorrede pag. 544 hervorzugehen. Jedenfalls ist sein Verfahren
leicht so zu modifizieren, daß der gewünschte Erfolg — speziell ohne
Zerstörung des Papiers — erreicht wird, ohne daß dabei Mittel in
Anwendung kämen, die dem Ende des 16. Jahrhunderts nicht zu
Gebote standen.
Ich habe nach einigen Vorversuchen das folgende Verfahren
brauchbar gefunden: Ich bestreiche die (mit Gallustinte hergestellte)
Schrift mittelst einer Federfahne mit einer Mischung aus konzen-
trierter Salzsäure (1,19 spez. Gew.) und dem gleichen Volumen Wasser,
wiederhole dies bis nahe zum Verlöschen der Schrift, ziehe dann
das Papier (oder den betreffenden Teil desselben) durch dieselbe
Säure unter gleichzeitigem Bestreichen mit der Gänsefederfahne,
übergieße dann A^iederholt mit Wasser, um die Säure zu beseitigen
und trockne in mäßiger Wärme; dann ziehe ich durch eine Mischung
von Alaun und Leim, tropkne, behandle nochmals mit der Leim-
mischung und trockne nochmals. Es ist dann das Papier zum Be-
schreiben völlig geeignet.
Das Maß der Wirkung der Säure hängt (abgesehen von ihrer
Stärke und Art) von der Beschaffenheit des Papiers, der Schrift
^ Vielleicht weiß er auch unvollständig.
— 316 —
usw. ab; sie ist zuweilen so vollständig, daß kein Überrest zu erkennen
ist. In anderen Fällen bleiben mehr oder minder teils mit schwacher
Tintenfärbung sichtbare Schriftrückstände, teils völlig entfärbte Ein-
drücke im Papier. Reste von beiderlei Art sind durch die neue Schrift
an gleicher Stelle der Wahrnehmung zu entziehen, indem sie entweder
geradezu überschrieben oder für die neuen Buchstaben mit verwertet
werden. Im letzteren Falle werden — da die neue Schrift nur aus-
nahmsweise an gleicher Stelle die gleichen Buchstaben gebraucht,
durch Verbindung der neuen mit den alten abweichende Formen
der Buchstaben resultieren. Es werden neben den neuen Buchstaben
nichtverständhche Striche und Anhängsel bleiben und es können
endlich, wenn nicht genau die gleiche Linie der Schrift eingehalten
wd, oder, wie das naturgemäß vorkommt, die Lücken zwischen
den Worten der zweiten Schrift nicht mit denen der ersten zusammen-
fallen, in den Lücken Buchstaben sichtbar und namentlich durch die
Photographie wahrnehmbar werden, die für den neuen Zusammenhang
bedeutungslos sind. Es hängt dies alles damit zusammen, daß die
Säure zwar die Tinte mehr oder minder vollständig wegnimmt, aber
die Eindrücke der Feder im Papier erhalten bleiben und deshalb
überall da gesehen werden, wo sie stark genug sind und die neue Schrift
sie nicht bedeckt. Aus der Natur des Verfahrens geht hervor, daß
zwar durch Überreste der bezeichneten drei Arten die stärksten
Indizien für die vorgenommene Veränderung gewonnen werden können,
daß aber in der Regel eine auch nur teilweise Wiedererkennüng der
älteren Schrift bei einiger Vorsicht und Geschicklichkeit des Fäl-
schers ausgeschlossen bleiben wird. Die Eigentümlichkeit des Ver-
fahrens bedingt ferner, daß Fälschungen dieser Ait der Wahrnehmung
vollständig entgehen, wenn nicht auf die Schrift der betreffenden
Stelle speziellste Aufmerksamkeit verwandt wird.^
Meine Forschung in Rom hatte die Aufgabe, festzustellen, ob
das, was an Überresten der bezeichneten Art die Photographie zu
^ Ob mittelst geeigneter Behandlung, vielleicht Bestreichen mit GaUäpfel-
auszug die alte Schrift wieder herzustellen ist, bleibt zu untersuchen; denkbar
ist, daß durch Säure und Waschung auch das Eisen vöUig entfernt ist, dann
ist Wiederherstellung durch Gerbsäure nicht zu erwarten, aber Eisen-
chloridlösung wird wahrscheinlich immer teilweise durch Papier
zurückgehalten.
— 317 —
bieten schien, im Original übereinstimmend vorhanden war, ferner
weitere durch die Photographie nicht reproduzierte feinere Einzel-
heiten aufzufinden. In beiden Beziehungen hat der Erfolg meinen
Erwartungen entsprochen.
Ich verzeichne demnach im folgenden:
1. Abweichende Formen der Buchstaben in den letzten drei
Reihen von Folio 987.
2. Mit der gegenwärtigen Schrift nicht zusammenhängende Buch-
stabenreste und Schriftzeichen.
3. Rückstände der früheren Schrift an unbeschriebener Stelle,
die, weil vollständig entfärbt, nur bei besonderer Aufmerksamkeit
als eingraviert in der Handschrift wahrzunehmen sind.
1. a) Der untere Teil des ersten s— in der drittletzten Zeile — in
successive, der bis in das 111.°^° der zweiten Reihe hineinreicht; das
Original zeigt hier deutlich einen nach unten gehenden Buchstaben,
den ich als ein p ansehe.
b) Der Anfang des Wortes m."^*^ — in der vorletzten Zeile — ;
der vorderen Kurve des großen I entspricht nichts in den beiden Formen
des sonst noch sechsmal auf gleicher Seite vorkommenden Wortes
und der Schreibweise des I in dem Verhör des Caccini, sie ist unver-
ständliche Zutat.
c) Das durch den großen Klecks verdeckte D vor Card." ist D
überhaupt nur in der Möglichkeit; in den vier Fällen, wo außerdem
noch Ulm. D. Card, vorkommt, hat der Buchstabe D ungefälu* die
dreifache Ausdehnung, ist überdies jedesmal mit dem darauffolgenden
Card.^'^ verbunden, was hier nicht nur fehlt, sondern unmögKch ist.
Der Schein eines D entsteht eigenthch nur dadurch, daß das Wort
zwischen 111.™" und Card'', nur Domino sein kann.
Im Original findet sich da, wo wir den Hauptkörper des D zu
sehen glauben, nichts als ein ovales Loch, dem links ein schräger für
das D verwendbarer Strich anhaftet; der rechts anhaftende, aufwärts
führende Strich, den die Photographie deutlich zeigt, hat keinen
rechten Sinn.
d) Das große P vor Comiss.^ ist kein P, wie es irgendwo sonst
vorkommt; es ist weit eher ein L. Die Verdickung in dem Haupt-
strich hat etwas Künstliches.
— 318 —
e) Die drei ersten Buchstaben des pred.**' und das Herausfallen
derselben aus der Linie der Schrift; man vergleiche das in gewisser
Beziehung ähnliche Pred, vorletztes Wort der fünfletzten Zeile.
f) Das p des pnti (zweites Wort der letzten Zeile), die unregel-
mäßig verdickte Abkürzungskurve vor dem p kommt nirgends ähnlich
vor und hat im Zusammenhang der sonstigen Schreibweise keinen
Sinn.
Diesen sechs durch keine Deutung zu beseitigenden Abweichungen
schließen sich als minder erheblich in der vorletzten Reihe das C
des Card.^^ mit gebrochener Kurve und das Co des Comiss^ an. Beide
Zeichen könnten so vorkommen, kommen aber nicht vor, dazu das
S'°' drittletztes Wort der letzten Zeile.
2. Mit der gegenwärtigen Schrift nicht zusammenhängende Buch-
stabenreste und Schriftzeichen.
a) Das schon unter 1. a) hervorgehobene p-artige Zeichen am
und unter dem s des successive.
b) In einer Senkrechten liegende Punkte, die mitten durch das
erste 1 des .111.'"° (zweite Zeile) gehen.
c) Damit zusanmienhängend (nur in der Photographie sichtbar)
ein v-artiges Zeichen, das unterhalb der Buchstaben das I des I1I.™°
mit dem zweiten 1 zu verbinden scheint, schwach sichtbar.
d) Am C des Card.^' ein nur in der Photographie sichtbarer vom
C zum a laufendei Sfcrich mit Schlußverdickung am a, der den" unteren
Teil des C als größeres 0 erscheinen läßt.
e) Soviel ich nachträglich sagen kann, nur in der Photographie
sichtbar ein o-artiges Oval im oberen Teil des p von pred.^ und Teile
eines schräg nach unten führenden Strichs im p und i desselben
Worts.
f) Neben dem unteren Teil des s in successive und dem ganzen
jll mo vorzugsweise verdächtig die deutlich sichtbaren Buchstaben
und Zeichen im und unter dem constituto der letzten Zeile, ganz wie
die Photographie sie aufweist; am deutlichsten ist der das erste o
durchschneidende, nach unten links sich ausbreitende p-artige Buch-
stabe. Minder verständlich, aber deutlich vorhanden sind die von
n nach unten und links nach oben abgehenden Striche, eine Ab-
zweigung nach unten an dem st und Halb verloschenes unter dem u.
g) Ein kommaartiger Strich am zweiten et.
— 319 —
3. Nur im Original sichtbare, fast verloschene Rückstände an
unbeschriebener Stelle.
a) Ganz deutlich wahrnehmbar, wenn man sie erst gefunden,
zwei Buchstaben, die den Raum zwischen Comiss.^ und pred.**^ der
vorletzten Zeile ausfüllen; ich habe immer ce gelesen, Prof. Quidde
hat nur das e erkannt.
b) An das t im et vor successive anschließend, und zwar unter-
halb des wagerechten Striches, drei schräge Striche, die dem ui eines
an dieser Stelle möglichen cui entsprechen. Ich habe sie, nachdem
ich sie am ersten Tage aufgefunden, jederzeit wiedersehen können.
Prof. Quidde hat sie nicht gesehen. Die Photographie läßt sehr
schwach hinter dem t an eben derselben Stelle zwei Striche und eine
schwache Verbindung derselben wahrnehmen. Die Beschaffenheit
der Stelle, wie ich sie sehe, entspricht derjenigen, wie sie bei völliger
Beseitigung der Tinte entsteht, wenn man nichts weiter als die rück-
ständigen Eindrücke der Feder wahrnimmt. Die Beseitigung der
Tinte ist hier noch weiter gegangen als bei dem ce zwischen Coihiss.^
und predto.
Wird bei den Zeichen und Überresten der di-ei besprochenen
Arten eine rationelle Deutung außerhalb der Fälschungshypothese
schwerlich Raum finden, so hat man für die beiden ganz unleser-
lichen Worte in der zweiten Hälfte der letzten Zeile aller-
dings eine Lesart angenommen, die in den Zusammenhang der ge-
fälschten Registrierung paßt, und es ist ja auch nicht zweifelhaft,
daß beim Schreiben oder Umschreiben dieser Worte die Absicht
bestanden hat. Hierhergehöriges zwischen die vorhergehenden und
folgenden Worte zu setzen. Tatsächlich ist aber die Schrift an
dieser Stelle zerstört. Man sieht mehr Löcher als Buchstaben und
die Worte proprio nomine sind reine Kombination. Daß auch hier
ursprünglich anderes gestanden, wird insbesondere durch den Buch-
staben angedeutet, der zurzeit das S™* vor D. N. Pape herstellt.
Mit der Entdeckung dieser Überreste ergibt sich, daß die ver-
dachterregenden Zeichen genau an derselben Stelle beginnen wie
der verdächtige Inhalt. Die Zeichen an dem et und dem s des successive
machen sehr glaublich, daß an dieser Stelle gestanden:
Cui praecepto Galileus acquievit et parere promisit. Weder
diese bestimmten Worte noch die folgenden lassen sich mit Sicherheit
rekonsti'uieren ; auch bleibt möglich, daß für einzelne der verkrüppelt
— 320 —
erscheinenden Buchstaben und der anderweitigen Abweichungen Be-
lege in Schriftstücken der gleichen Hand aufgewiesen werden; andere
könnten durch Zufall entstanden sein. Aber für die Gesamtheit der
hier zusammengestellten Einzelheiten wird man weder eine Analogie
finden, noch eine zufällige Entstehungsweise annehmen können; die
halbverloschenen bestimmt erkennbaren, mit der vorhandenen Schrift
in keiner Weise zusammenhängenden Buchstaben, die Keste zwischen
den abgeschlossenen Worten, die Mehrzahl der oben bezeichneten
Buchstabenformen deuten unwidersprechlich auf die Beseitigung
einer früher an gleicher Stelle vorhanden gewesenen Schrift. Die
Annahme der chemischen Bearbeitung der Schrift und des Papiers
erklärt ebensowohl die Erscheinungsweise dieser Rückstände, wie
das Vorhandensein reinlich geschriebener Worte, an denen nichts
Fremdes haftet und das Fehlen anderweitiger Spuren der Manipu-
lation namentlich im Zustande des Papiers.
Daß so zahlreiche Indizien auf dem beschi'änkten Raum der
drei Zeilen sich finden, gegen deren Inhalt die stärksten Verdachts-
gründe vorhanden waren, als man von all diesen äußeren Zeichen
noch nichts wahrgenommen hatte — beseitigt den letzten Zweifel
an der Tatsache der Fälschung.
Diejenigen, die wie Berti^ annehmen, es ist geschehen, was
das Protokoll behauptet, lassen unter anderm unerklärt und be-
trachten vielmehr als unerheblich, ja selbstverständlich, daß hier
etwas geschieht, wozu gar keine Veranlassung war, und was dem
Verfahren gegen die Schrift des Copernicus offenbar widerspricht,
kurz, daß vom allgemeinen Beschluß zu Galileis Nachteil abgewichen
wird. Daß man 1632 ein solches Geschehen als Abweichung betrachtet,
geht aus der Forderung, den Befehl bei Erlangung der Zensur vor-
zuzeigen, unwidersprechlich hervor. Für die Abweichung war Ver-
anlassung — si recusaverit parere, sonst nicht. Wer, wie Reusch^
annimmt: es ist nicht geschehen — sagt nur: die Richter benutzten
völlig leichtfertig ein wertloses, seinem Inhalte nach unglaubhaftes
Dokument, das — wie auch zustandegekommen — ihren oder anderer
Leute ZwTcken entsprach.
^ Dom. Berti, II processo originale di Galileo Galilei, Roma 1876,
p. CVIIsq.
- Hist. Zeitschr. 34 (1875), p. 121 ff., bes. p. 133 ff.
— 321 —
B. Ergebnisse meiner Untersuchungen über moderne Fälschungen,
speziell des examen de inten tione im Vatikanmanuskript des
Galilei sehen Prozesses.
Ich habe 1877 in meiner Schrift: „Ist Galilei gefoltert worden?"
die Behauptung verteidigt, daß ein Beweis gegen die Folterung den
Akten, insbesondere dem Verhör de intentione vom 21. Juni 1633
nicht entnommen werden könne, weil man bezweifeln dürfe, daß das
Protokoll über dieses Verhör, so wie es uns vorliegt, ursprünglicher
und unverfälschter Bestandteil der Akten ist. Ausgangspunkt dieses
Zweifels war der nicht wegzu diskutierende Widerspruch des Schluß-
satzes, demgemäß der Richter sich auf Androhung der Tortur be-
schränkt hätte, mit dem Wortlaut der Sentenz; der letztere war authen-
tisch, die Differenz forderte genaueste Prüfung, ob das Gleiche für
das Verhör als verbürgt zu betrachten sei.^ Es sind anscheinend gering-
fügige Formalitäten, die ich damals als bedenkenerregend hervor-
gehoben habe; ich muß heute sagen: was mich leitete, war weniger
ein vollständiges Wissen über das, was im Gebrauch der Inquisition
vorkommt, als ein bestimmtes Gefühl, daß die Ausdrücke, wie sie
in dem Protokoll sich voranden, diesem Gebrauch rationellerweise
nicht entsprechen könnten; ich witterte Unordnung, weil Marinis
Angaben (Ist Galilei gefoltert worden? 86—88) geradezu dazu zwangen,
an Unordnung zu denken.
Unter den drei Punkten, auf die ich hingewiesen habe, erschien
mii- als weitaus der wichtigste die Anfangswendung: Galileus de
Galüeis Florentinus, de quo alias. Man kann die Sache wenden,
wie man wiU, alias bedeutet: an anderer Stelle; und hier fand sich
die Verweisung auf die andere Stelle mitten in einem Aktenheft
(oder wenn man will, am Schlüsse desselben), das ausschließlich
Galileis Prozeß umfaßt, in jeder Linie auf ihn Bezug nimmt, ja
Seite an Seite neben dem päpstlichen ,,Dela'et" vom 16. Juni, das
mit den Worten Galilei de Galileis de quo supra^ beginnt; ich war
der Meinung, daß man eine Bezugnahme auf räumlich so naheliegende
Dokumente nicht durch die Worte de quo alias ausdrücken würde,
daß vielmehr dieses alias auf eine andere Umgebung hindeute, in
1 Vergl. Ist G. gefoltert worden ? 103 u. f.
- „N. N., de quo supra" heißt es in den Eingangsformehi sämtlicher
Formulare des examina de intentione, die Wolynski zusammenstellt.
Wohlwill, GaUlei. II. 21
— 322 —
der sich das Protokoll vom 21. Juni 1633 ursprünglich befunden habe
und für die in Walirheit das Hauptaktenheft des Galileischen Pro-
zesses ein alias gewesen wäre. Ich konnte mich darauf berufen, daß
bei den Verhören im Hauptprozeß, die durch Zwischenräume von
18 und 10 Tagen getrennt sind, der Angeklagte nach der ersten Ver-
nehmung stets als supradictus Galileus oder Galileus, de quo supra
eingeführt wird; wenn nun gleichermaßen fünf Wochen nach der
letzten Vernehmung das päpstliche Dekret vom 16. Juni wiederum
mit den Eingangsworten Galileus, de quo supra reproduziert wird —
war es dann glaublich, daß das Protokoll über das Verhör vom 22.,
das als Ausführung eben dieses Dekrets vom 16. betrachtet werden
will und auf dasselbe sich ausdrücklich bezieht, in völlig neuer Wen-
dung begomien hätte: „Galilei, von dem an anderer Stelle" (die
Rede ist), wenn es von vornherein ebenda gelegen hätte, wo es heute
liegt?
Bewiesen war damit freilich das „anderswoher" nicht, auch dann
nicht, wenn ich imstande gewesen wäre, aus einer großen Zahl von
Prozessen den regelmäßigen Gebrauch des „de quo supra" in ähn-
lichem Zusammenhange nachzuweisen; ein einziges wohlverbürgtes
de quo alias in einer Anwendung, die der Stellung des Verhörs vom
22. Juni unzweideutig entspricht, während doch ein anderer Ort
der Aufbewahrung nicht in Frage kommen kann, würde meine Argu-
mentation über den Haufen werfen. Bis jetzt hat niemand einen
solchen Gegenbeweis geliefert. Wolynski^ hat uns versichert, che
apesso nei processi del S. Officio abbiamo letto questa espressione;
daß das Wort alias vorkoiiunt, hat niemand bezweifelt, aber Wolynski
hat von den Fällen, die ihm zu Gebote stehen, keinen einzigen namhaft
gemacht, so darf man zweifeln, ob sie beweisen, worauf es ankommt.
Für meine Annahme spricht überdies, daß Galüei in den Eingangs-
worten des Verhörs von neuem als Florentinus eingeführt wird; der
gleiche Zusatz findet sich ordnungsgemäß neben den übrigen Per-
sonalien im ersten Verhör, aber, ^ie gleichfalls begreiflich, in keinem
der folgenden und in keiner der zahlreichen anderweitigen Regi-
strierungen des Aktenhefts; er ist verständlich im Eingang eines
Protokolls, das außerhalb dieses Aktenheftes, vielleicht unter ähn-
^ Arturo Wolynski, Nuovi Documenti inediti del processo di Galileo
Galilei, Firenze 1878, S. 96.
— 323 _
liehen Verhören anderer Inquisitoren bewahrt wird. Ich habe ferner
darauf aufmerksam gemacht, daß in der Schhißwendung des Pro-
tokolls der Gebrauch der Worte in executionem decreti ohne weitere
Bezeichnung dieses Dekrets, ohne Datum und ohne Nennung der
Kongregation, die es erlassen, ungewöhnlich sei; ich kenne sehr zahl-
reiche Anwendungen derselben Formel, keine, bei der in solcher
Weise von „dem Dekret" geredet wird. Meine Gegner haben keine
Schwierigkeit darin gesehen, mich au